Amnesty International fordert dringend ein entschlossenes Vorgehen der internationalen Gemeinschaft, um die erschreckende Zunahme von Exekutionen im Iran zu stoppen. Mindestens 853 Menschen wurden 2023 hingerichtet, mehr als die Hälfte wegen Drogendelikten. Hinzu kommt eine neue Welle von Todesurteilen gegen Demonstrierende und Dissident*innen.
Der Bericht «Don’t Let Them Kill Us: Iran’s Relentless Execution Crisis since 2022 Uprising» zeigt, dass die iranischen Behörden nach den Massenprotesten der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit» von September bis Dezember 2022 verstärkt die Todesstrafe einsetzen, um Angst zu verbreiten, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre Macht zu festigen. In Folge der Antidrogenpolitik der Regierung wurden massenhaft Menschen aus verarmten und marginalisierten Bevölkerungsgruppen hingerichtet.
Die Zahl der Hinrichtungen 2023 ist die höchste seit 2015 und um 48 Prozent höher als 2022. Ein Ende der Tötungsserie ist nicht in Sicht: Bis zum 20. März 2024 wurden bereits mindestens 95 Hinrichtungen dokumentiert. Amnesty International geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl sogar noch höher ist.
«Die Todesstrafe ist unter allen Umständen abzulehnen, aber ihre massenhafte Anwendung bei Drogendelikten nach grob unfairen Verfahren vor Revolutionsgerichten ist ein besonders eklatanter Machtmissbrauch. Die tödliche Antidrogenpolitik der Islamischen Republik trägt zu einem Kreislauf aus Armut und systemischer Ungerechtigkeit bei und führt zu einer weiteren Verfestigung der Diskriminierung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen, insbesondere der unterdrückten belutschischen Minderheit», sagt Diana Eltahawy, stellvertretende Direktorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.
Im letzten Jahr kam es zudem zu einer Welle von Hinrichtungen von Demonstrierenden, Nutzer*innen Sozialer Medien und anderer tatsächlicher oder vermeintlicher Dissident*innen. Obwohl die Handlungen der Demonstrant*innen durch internationale Menschenrechtsnormen geschützt sind, kam es zu Anklagen wie «Beleidigung des Propheten» und «Apostasie» sowie vagen Anklagen wie «Feindschaft zu Gott» (moharebeh) und/oder «Verdorbenheit auf Erden» (ifsad fil arz).
Die Revolutionsgerichte waren für 520 (61 Prozent) der 2023 vollstreckten Todesurteile verantwortlich. Diese Gerichte sind für ein breites Spektrum von Straftaten zuständig, auch für Drogendelikte, die von den Behörden als Verbrechen gegen die «nationale Sicherheit» betrachtet werden. Den Gerichten fehlt es an Unabhängigkeit, sie stehen unter dem Einfluss von Sicherheits- und Geheimdiensten, und sie verwenden routinemässig durch Folter erzwungene «Geständnisse» in grob unfairen Schnellverfahren, um Schuldsprüche zu fällen.
«Ohne eine entschlossene globale Reaktion werden sich die iranischen Behörden ermutigt fühlen, in den kommenden Jahren weitere Tausende von Menschen ungestraft hinzurichten», sagt Diana Eltahawy. «Die internationale Gemeinschaft muss die iranischen Behörden zu einem sofortigen Moratorium für alle Hinrichtungen drängen. Der Uno-Menschenrechtsrat muss diese Woche die Mandate der Untersuchungsmission und des Sonderberichterstatters für den Iran verlängern und so sicherstellen, dass ein internationaler, unabhängiger Ermittlungs- und Rechenschaftsmechanismus vorhanden bleibt, um Beweise für Verbrechen nach internationalem Recht zu sammeln und zu analysieren.»
Starker Anstieg an Hinrichtungen wegen Drogendelikten
Der sprunghafte Anstieg der Hinrichtungen im Jahr 2023 ist vor allem auf eine verstärkte Anwendung der Todesstrafe zur Bekämpfung des Drogenhandels zurückzuführen. Im Jahr 2023 wurden 481 Menschen wegen Drogendelikten hingerichtet, was 56 Prozent der Gesamtzahl der Hinrichtungen ausmacht. Dies bedeutet einen Anstieg um 89 Prozent gegenüber 2022, als 255 Menschen wegen Drogendelikten hingerichtet wurden, und einen Anstieg um 264 Prozent gegenüber 2021, als 132 Menschen wegen Drogendelikten exekutiert wurden.
Auf die belutschische Minderheit im Iran entfielen im Jahr 2023 insgesamt 29 Prozent (138) der Hinrichtungen im Zusammenhang mit Drogendelikten, obwohl sie nur etwa 5 Prozent der iranischen Bevölkerung ausmacht. Dies zeigt die diskriminierende Wirkung der Antidrogenpolitik auf die am stärksten marginalisierten und verarmten Bevölkerungsgruppen.
Hinrichtungen wegen Drogendelikten erfolgten häufig im Geheimen, ohne dass die Familien und Rechtsvertretungen der betroffenen Personen benachrichtigt wurden.
Ohne sofortige Massnahmen der internationalen Gemeinschaft werden die Hinrichtungen im wegen Drogendelikten weiter zunehmen. Die Justiz, die Legislative und die Exekutive im Iran sind daran, ein neues Antidrogengesetz zu verabschieden, das im Falle seiner Umsetzung die Bandbreite der Drogendelikte, die die Todesstrafe nach sich ziehen, erweitern würde.
Hinrichtungen von Personen, die als Kinder verhaftet wurden
Im Laufe des Jahres 2023 setzten die iranischen Behörden die Todesstrafe verstärkt als Waffe zur Unterdrückung abweichender Meinungen ein. Im Jahr 2023 richteten die Behörden sechs Männer im Zusammenhang mit dem Aufstand von 2022 und einen Mann im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten vom November 2019 hin. Mindestens sieben weitere Personen wurden im Zusammenhang mit dem Aufstand von 2022 und den Protesten vom November 2019 zum Tode verurteilt und sind in unmittelbarer Gefahr, hingerichtet zu werden.
Der Anstieg der Hinrichtungen hat dazu geführt, dass Gefangene in der Todeszelle in den Hungerstreik getreten sind und öffentlich um Interventionen gebeten haben, um ihre Hinrichtungen zu stoppen. Im Mai 2023 schmuggelten die Demonstranten Majid Kazemi, Saleh Mirhashemi und Saeed Yaghoubi einige Tage vor ihrer Hinrichtung nach grob unfairen Verfahren einen Zettel aus dem Gefängnis, auf dem sie um Hilfe baten: «Bitte lassen Sie nicht zu, dass sie uns töten.»
Im vergangenen Jahr kam es darüber hinaus zu einer traurigen Eskalation, was die Todesurteile gegen jugendliche Straftäter*innen angeht: Ein 17-Jähriger und vier weitere junger Menschen, die für Verbrechen zum Tode verurteilt worden waren, die sie im Alter von unter 18 Jahren begangen hatten, wurden hingerichtet.
In den letzten Monaten haben die Behörden eine neue Richtlinie der Obersten Justizautorität irreführend als einen Schritt hin zu einer «weiteren Verringerung» der Todesurteile gegen jugendliche Straftäter*innen propagiert. Die Analyse von Amnesty International zeigt, dass seit langem bestehende Mängel im Jugendstrafrecht durch die Richtlinie nicht behoben werden und Gerichte auch weiterhin die Möglichkeit haben, jugendliche Straftäter*innen nach zweifelhaften «Reifeprüfungen» zum Tode zu verurteilen. Amnesty International hat die iranischen Behörden wiederholt aufgefordert, Paragraf 91 des islamischen Strafgesetzbuches zu ändern, um die Todesstrafe für Verbrechen, die von Minderjährigen begangen wurden, unter allen Umständen abzuschaffen.
Zu den Hintergründen
Die iranischen Behörden weigern sich, öffentliche Statistiken zu Todesurteilen und Hinrichtungen vorzulegen. Bei der Erfassung der Anzahl im Jahr 2023 vollstreckter Hinrichtungen hat Amnesty International eng mit der Menschenrechtsorganisation Abdorrahman Boroumand Centre zusammengearbeitet und dabei auf offene Quellen zurückgegriffen. Dazu gehören Berichte von staatlichen und unabhängigen Medien sowie von Menschenrechtsorganisationen. Ausserdem hat Amnesty International die Hinrichtungsprotokolle der Organisationen Iran Human Rights und Kurdistan Human Rights Network eingesehen.
Die Todesstrafe ist die grausamste, unmenschlichste und erniedrigendste aller Strafen. Amnesty International lehnt die Todesstrafe grundsätzlich und ohne Ausnahme ab, ungeachtet der Art und Umstände des Verbrechens, der Schuld oder Unschuld oder anderer Eigenschaften der Person oder der Hinrichtungsmethode.