Ein durchgesickerter Entwurf des ersten schriftlichen saudi-arabischen Strafgesetzbuches entspricht in keiner Weise den universellen Menschenrechtsstandards. Es entlarvt die Scheinheiligkeit der Versprechungen von Kronprinz Mohammed bin Salman, seine Regierung als fortschrittlich und integrativ darzustellen. Amnesty International kommt zum Schluss, dass das geplante Strafgesetzbuch gegen internationales Recht verstösst.
Der Amnesty-Bericht mit dem Titel «Manifesto for Repression» analysiert den durchgesickerten Entwurf des Strafgesetzbuches. Er zeigt auf, wie darin bestehende repressive Praktiken in schriftliches Recht festgeschrieben werden. Der 116-seitigen Entwurf, der erstmals im Juli 2022 im Internet auftauchte, wurde unter Ausschluss der Zivilgesellschaft erarbeitet. Bisher wurde das durchgesickerte Dokument nicht offiziell von den saudischen Behörden veröffentlicht, aber eine Reihe von saudischen Rechtsexpert*innen haben dessen Echtheit bestätigt.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, sagt: «Mit einem ersten schriftlichen Strafgesetzbuch hätten die saudischen Behörden die einmalige Chance gehabt, der Welt zu zeigen, dass ihre Reformversprechen mehr als Worthülsen sind. Unsere Analyse des durchgesickerten Gesetzesentwurfs zeigt jedoch, dass es sich im Wesentlichen um ein Instrument zur Unterdrückung handelt, das Menschenrechtsverletzungen fortschreibt und die massive Einschränkung von Freiheiten festigt. Die saudischen Behörden müssen sich dringend mit unabhängigen Expert*innen aus der Zivilgesellschaft beraten und den Entwurf des Strafgesetzbuches ändern, um sicherzustellen, dass er mit internationalen Menschenrechtsstandards übereinstimmt.»
Der Gesetzesentwurf kriminalisiert das Recht auf Meinungs-, Gedanken- und Religionsfreiheit und versäumt es, das Recht auf friedliche Versammlung zu schützen. Er kriminalisiert «uneheliche» einvernehmliche sexuelle Beziehungen, Homosexualität und Abtreibung. Der Entwurf kodifiziert auch die Todesstrafe als eine der Hauptstrafen und erlaubt weiterhin körperliche Strafen wie Auspeitschungen.
Amnesty International hat sich schriftlich an den saudischen Ministerrat und die saudische Menschenrechtskommission gewandt und diverse Fragen zum Entwurf des Strafgesetzbuchs gestellt. Am 4. Februar antwortete die saudische Menschenrechtskommission, indem sie die Echtheit des Entwurfs bestritt und erklärte, dass der Entwurf eines Strafgesetzbuchs derzeit einer legislativen Überprüfung unterzogen werde. Amnesty International fordert die saudischen Behörden auf, die neueste Version des Entwurfs zu veröffentlichen, damit die unabhängige Zivilgesellschaft dazu Stellung nehmen kann.
Neben dem Bericht startet Amnesty International heute auch eine weltweite Kampagne. Sie fordert die saudische Regierung auf, sofort alle Personen freizulassen, die zu Unrecht inhaftiert sind, weil sie friedlich ihre Meinung geäussert haben.
«Die Kampagne von Amnesty International zielt darauf ab, internationalen Druck für Menschenrechtsreformen aufzubauen, indem sie die düstere Wahrheit hinter den Versuchen Saudi-Arabiens, die schrecklichen Menschenrechtslage des Landes mit viel Glitzer und Glamour zu überdecken, entlarvt. Zudem werden wir Druck auf Handelspartner*innen wie die Schweiz ausüben, damit sie nicht nur auf gute wirtschaftliche Beziehungen setzen, sondern die Menschenrechte wieder in den Vordergrund rücken und auf echten Reformen beharren», sagte Natalie Wenger, Länderverantwortliche für Saudi-Arabien.
«Die Schweizer Politik sollte in den Beziehungen mit Saudi-Arabien darauf drängen, dass alle Personen freigelassen werden, die zu Unrecht inhaftiert sind, weil sie friedlich ihre Meinung geäussert haben. Auch sollte die Schweiz die saudischen Behörden auffordern, internationale Menschenrechtsnormen und -standards uneingeschränkt zu respektieren und einzuhalten. Das betrifft insbesondere die Anwendung der Todesstrafe, das harte Vorgehen gegen die Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Die Schweiz sollte die saudischen Behörden nachdrücklich auffordern, den Entwurf des Strafgesetzbuchs zu ändern, um dieses in vollen Einklang mit Völkerrecht und internationalen Menschenrechtsstandards zu bringen.»
Freie Meinungsäusserung wird praktisch unmöglich
Der Amnesty-Bericht stützt sich auf jahrzehntelangen Menschenrechtsdokumentationen über das harte Vorgehen der saudischen Behörden gegen das Recht auf freie Meinungsäusserung und die Versammlungsfreiheit, die Anwendung von Folter und anderen Misshandlungen und die Todesstrafe. Zudem wurden Interviews mit Expert*innen geführt, die mit der saudischen Gesetzeslandschaft vertraut sind.
Da es in Saudi-Arabien kein Strafgesetzbuch gibt, stützen sich die Richter derzeit auf die Auslegung des islamischen Rechts (Scharia) und die Rechtsprechung im Land, um Straftaten zu bestimmen und Strafen zu verhängen. Amnesty International stellt fest, dass der Entwurf des Strafgesetzbuchs nur Ermessensdelikte (ta’zir-Verbrechen) abdeckt, für die in der Scharia keine Strafen vorgesehen sind. Es werden darin keine Verbrechen kodifiziert, die nach der Scharia mit festen Strafen belegt sind (so genannte hadd- oder qisas-Verbrechen). Diese Praxis lässt den Richtern einen grossen Ermessensspielraum bei der Beurteilung von Fällen. Die vage Definition von Verbrechen und Strafen im neuen Entwurf verstösst gegen internationale Menschenrechtsnormen. Es besteht die Gefahr, dass die individuellen Freiheiten weiter verletzt werden und die Unterdrückung der Zivilgesellschaft durch das neue Strafgesetzbuch noch weiter ausgebaut wird.
In den letzten zehn Jahren haben die saudischen Behörden das Recht auf freie Meinungsäusserung stark eingeschränkt und zahlreiche Andersdenkende – von Menschenrechtsverteidiger-*innen über Journalist*innen bis hin zu Geistlichen und Frauenrechtsaktivist*innen – inhaftiert, ins Exil verbannt oder nur unter Auflagen wie Reiseverboten freigelassen. Der Entwurf des Strafgesetzbuchs stellt zudem Verleumdung, Beleidigung und Infragestellung der Justiz mit vagen Begriffen unter Strafe.
Die Behörden haben Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung und zur Bekämpfung der Cyberkriminalität eingesetzt, um kritische Äusserungen und unabhängiges Denken zum Schweigen zu bringen. So haben die saudischen Behörden die 29-jährige Fitnesstrainerin Manahel al-Otaibi im November 2023 gewaltsam verschwinden lassen. Sie hat mehr als ein Jahr hinter Gittern verbracht, weil sie sich in einem Tweet für die Rechte der Frauen eingesetzt hat. Salma al-Shehab, Doktorandin und Mutter von zwei Kindern, verbüsst ebenfalls eine 27-jährige Haftstrafe, weil sie sich in den sozialen Medien für die Rechte der Frauen eingesetzt hat.
Kein Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt
Der Entwurf des Strafgesetzbuchs stellt «uneheliche» einvernehmliche sexuelle Beziehungen, einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen zwei Männern, «unanständiges Verhalten» und die «Nachahmung eines anderen Geschlechts durch Kleidung und/oder Aufmachung» unter Strafe. Solche Bestimmungen würden die Verfolgung und Belästigung von LGBTI*-Personen ermöglichen. Amnesty International hat in der Vergangenheit zwar Fälle dokumentiert, in denen Einzelpersonen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen verurteilt wurden, doch lagen diese Verfolgungen und Verurteilungen im Ermessen des Richters und sind in den bestehenden saudischen Rechtsvorschriften nicht als Straftaten kodifiziert. Die im Entwurf des Strafgesetzbuchs vorgesehenen Strafen für diese Handlungen sind härter als die derzeit von Richtern verhängten Strafen.
Seit Jahren werden Frauen und Mädchen in Saudi-Arabien gesetzlich und in der Praxis stark diskriminiert. Die nationalen Rechtsvorschriften zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt sind unzureichend. Erschreckenderweise sieht der Gesetzesentwurf keine strafrechtliche Verfolgung von Personen vor, die Handlungen im Namen der «Ehre» begehen, wozu auch Körperverletzung oder Mord gehören können. Diese neue Bestimmung würde Immunität für «Ehrdelikte» gewähren, was eine Verletzung des Völkerrechts darstellt.
Der Gesetzentwurf enthält auch eine zu weit gefasste und vage Definition von Belästigung und erkennt Vergewaltigung in der Ehe nicht als Verbrechen an.
Kodifizierung der Anwendung der Todesstrafe
Trotz des Versprechens von Kronprinz Mohammed bin Salman, die Todesstrafe auf die schwersten Verbrechen im Sinne der Scharia zu beschränken, kam es unter seiner Herrschaft in den letzten Jahren zu einem erschreckenden Anstieg der Hinrichtungen.
Der Entwurf des saudi-arabischen Strafgesetzbuchs sieht die Todesstrafe als Hauptstrafe für ein ganzes Spektrum von Verbrechen vor, das von Mord über Vergewaltigung bis hin zu gewaltlosen Delikten wie Apostasie, also die Ablehnung des Islam, und Blasphemie reicht. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass Kinder für bestimmte Straftaten hingerichtet werden können, und setzt das Alter der Strafmündigkeit auf schockierend niedrige sieben Jahre fest. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes, dem Saudi-Arabien beigetreten ist, empfiehlt, dass das Mindestalter für die Strafmündigkeit nicht unter 12 Jahren liegen sollte.
Der Gesetzesentwurf lässt auch weiterhin regressive Körperstrafen für Verbrechen wie Ehebruch und Diebstahl zu, die bis hin zur Auspeitschung und Amputation der Hände reichen können. Körperliche Bestrafungen sind eine Form der Folter und nach internationalem Recht verboten.
«Es ist von entscheidender Bedeutung, dass der Uno-Menschenrechtsrat einen Mechanismus zur Überwachung der Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien einrichtet, damit die saudischen Behörden die schreckliche Realität ihrer Unterdrückung nicht weiter vertuschen können, indem sie der Welt mit ihrer teuren PR-Maschine ein Bild des Fortschritts und des Glamours vorgaukeln», sagte Agnès Callamard.