Wie ein Lauffeuer ging es in den vergangenen Wochen durch den europäischen Blätterwald: das Raunen von einem möglichen baldigen Angriff Russlands auf die Nato, innerhalb von „sechs bis zehn“, „fünf bis acht“, „drei bis fünf“ oder „zwei bis drei“ Jahren, laut Bild-Zeitung vielleicht auch „schon 2024“.

von Jan Menning

Vom deutschen Verteidigungsminister Pistorius über seinen polnischen Amtskollegen Kosiniak-Kamysz, die estnische Premierministerin Kallas und den schwedischen Minister für Zivilverteidigung Bohlin bis hin zum Generalinspekteur der Bundeswehr Breuer, dem Leiter der Münchener Sicherheitskonferenz Heusgen und dem NATO-Generalsekretär Stoltenberg schlugen hochrangige Amtsträger Alarm. Sie forderten eine umgehende gesamtgesellschaftliche Mobilisierung, um nicht nur die Rüstungsproduktion auszuweiten und die Wehretats zu erhöhen, sondern vor allem das Gefahrenbewusstsein und damit die Opferbereitschaft der Bevölkerung zu schärfen und eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ins Gespräch zu bringen. Der Politologe Herfried Münkler und der Ex-Außenminister Joschka Fischer preschten bereits mit der Forderung nach einer europäischen Atombombe vor.

Die unheilvollen Prognosen gehen auf den „Policy Brief“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) vom vergangenen November zurück. Unter dem Titel „Den nächsten Krieg verhindern – Deutschland und die NATO stehen im Wettlauf mit der Zeit“ erklärten die Autoren vom Zentrum für Sicherheit und Verteidigung, „dass Russland sechs bis zehn Jahre brauchen wird, um seine Armee so weit wiederaufzubauen, dass es einen Angriff auf die NATO wagen könnte. Die Uhr beginnt zu laufen, sobald die intensiven Kampfhandlungen in der Ukraine zum Erliegen kommen.“ Das Dokument legt also nahe, den Krieg in der Ukraine möglichst zu verlängern, um beim anschließenden Wettrüsten einen Vorsprung zu gewinnen. Bezeichnenderweise wird das Kriegsrisiko bei besonders intensivem Rüstungsaufwand als „sehr niedrig“ eingestuft, bei einem Verzicht auf Aufrüstung dagegen als „sehr hoch“. Eine „sicherheitspolitische Dekade“ soll ausgerufen, die Produktion von Panzern und Raketen durch unverzügliche Maximierung des Bestellvolumens angekurbelt und die Bevölkerung durch „Wettbewerbe, Weiterbildungen, Trainingscamps und viele andere interaktive Formate“ einbezogen werden. Die Überzeugungskraft des Dokuments war offenbar so hoch, dass Pistorius fast zeitgleich mit seiner Veröffentlichung verkündete, Deutschland müsse so schnell wie möglich „kriegstüchtig“ werden, und die Forderungen der DGAP fast Wort für Wort wiederholte.

Ein Gespenst geht um in Europa: die Kriegstüchtigkeit

Karikatur von Jan Menning.

Im Dezember zog das britische Royal United Services Institute (RUSI) mit einem Bericht nach, der zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam, aber eine andere Begründung anführte. Friedensverhandlungen erteilt er mit der Begründung eine Absage, sie würden „falsche Signale“ senden. Europa müsse die Verteidigungsfähigkeit stärken, weil sich die USA auf ihren Konflikt mit China konzentrieren würden, wenn Trump Präsident wird. Die Ukraine wäre ohnehin nur durch Einstellung der Waffenlieferungen zu Friedensgesprächen zu bewegen, hätte dann aber eine sehr schlechte Verhandlungsposition. Stattdessen empfiehlt das Dokument, die Reihen geschlossen zu halten und sich auf die Jahre 2026 bis 2028 vorzubereiten, weil dann China möglicherweise Taiwan angreifen und einen Krieg mit den USA auslösen werde, den wiederum Russland als Chance betrachten werde, einen Krieg mit der Nato zu gewinnen. Die Rede ist hier also von einem dritten Weltkrieg mit Beteiligung aller großen Atommächte. Am Ende stehen die bekannten Empfehlungen: Verstärkte Munitionsproduktion, Aufrüstung der Luftstreitkräfte, Erhöhung des Abschreckungsaufwands.

Auf diese Endzeitszenarien soll die europäische Bevölkerung nun vorbereitet werden. Bislang traut sich die Bundesregierung aber nicht, ihre Bürger mit den sozialen Folgen dieser Planungen zu konfrontieren. Das groß angekündigte „Sondervermögen Bundeswehr“ ist lediglich ein intransparenter Schleichweg zur Umgehung der Schuldenbremse, um ohne einschneidende Veränderungen im Haushalt die Militärausgaben zu erhöhen. Der Bundesrechnungshof hat bereits darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz zwar die Einrichtung von Sondervermögen vorsieht, aber ausdrücklich nicht zur Erfüllung staatlicher Kernaufgaben wie der Landesverteidigung. Die Bundesregierung erreicht damit die von der NATO vorgegebenen und vom Bundeskanzler lautstark zugesagten Verteidigungsausgaben von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) – aber nur während der aktuellen Legislaturperiode. Rein rechnerisch ergibt sich, dass die kommende Bundesregierung den Verteidigungshaushalt danach von 2026 auf 2027 um fast 40 Milliarden Euro erhöhen müsste:

Ein Gespenst geht um in Europa: die Kriegstüchtigkeit

Quelle: Nato, IWF, Bundeshaushalt, Berechnungen des ifo-Instituts.

Diese Erhöhung des einen Haushaltspostens würde naturgemäß mit starken Kürzungen in anderen Bereichen (zum Beispiel Soziales, Gesundheit, Bildung oder Verkehr) oder erheblichen Steuererhöhungen einhergehen. Nachdem die Ampel-Regierung mit der Energiepreisbremse bereits die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland abgefedert hat, um die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu riskieren, überlässt sie nun auch die Durchsetzung der weitaus größeren sozialen Einschnitte, die mit der geplanten Aufrüstung verbunden sind, ihren Nachfolgern. Die gesellschaftlichen Erschütterungen und Verteilungskämpfe, die uns dann bevorstehen, lassen sich derzeit nur erahnen.

Die blinde Technokratiegläubigkeit, mit der unsere politische Elite ihren Militärexperten in ein innen- und außenpolitisches Albtraumszenario folgt, ist beängstigend. Soziale Einsparungen zugunsten des Militärs verschlimmern weiter das Gefälle zwischen Arm und Reich und stärken extremistische Kräfte. Das Bildungs- und Gesundheitssystem ist ohnehin angeschlagen und kann keine Kürzungen mehr verkraften. Die Infrastruktur leidet schon jetzt unter einem jahrelangen Investitionsstau. Dass Aufrüstung den Krieg unwahrscheinlicher macht, widerspricht den Ergebnissen jahrzehntelanger Friedens- und Konfliktforschung. Die Logik dahinter ähnelt der Argumentation „Panzer retten Leben“, mit der letztes Jahr die Lieferung von schwerem Kriegsgerät in die Ukraine begründet wurde. Vergessen sind dagegen die damaligen Äußerungen, jeder Konflikt ende einmal am Verhandlungstisch und es gehe nur darum, sich dort eine gute Position zu sichern. Vergessen sind auch erfolgreiche Strategien aus dem Kalten Krieg, bei denen Abschreckungsmaßnahmen mit konstruktiver Diplomatie ergänzt wurden. Vergessen scheint vor allem, dass Panik ein schlechter Ratgeber ist und Erfolg nur haben kann, wer realistische Ziele definiert und verfolgt.

Der Weg in die Katastrophe ist also vorgezeichnet. Ob wir ihn tatsächlich beschreiten oder nicht, hängt nicht zuletzt von der Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit ab, die diese Pläne als das erkennt, was sie sind: ein Masterplan für die Kriegswirtschaft.


Jan Menning: Übersetzer, Osteuropa-Experte und Historiker