Luz Jahnen hat eine Studie zum Thema Rache als ein Element der Grundfesten unserer westlichen Kultur und über Versöhnung als eine Form, diese Rache zu überwinden, durchgeführt. Diese Analyse und seine Erfahrungen hat er in einem Workshop zusammengefasst, den er nun in verschiedenen Ländern organisiert.
Kannst du uns erzählen worum es in deiner Studie geht?
Diese Studie versucht, wie der Titel “Rache, Gewalt und Versöhnung„ schon sagt, die Themen Rache, Gewalt und Versöhnung von einem bestimmten Gesichtspunkt aus zu vertiefen.
Dabei stehen zwei Dinge im Mittelpunkt. Auf der einen Seite geht es darum, wie Rache in unserem Bewusstseinsapparat funktioniert. Denn wir wissen ja, dass Gewalt sehr mechanisch wirkt… Es geht also darum zu schauen, wie dieser Mechanismus in unserem Bewusstsein funktioniert.
Der andere Gesichtspunkt untersucht, wie es um das Thema Rache und Gewalt in unserer westlichen Kultur steht. Ich weiß nicht, ob du mich das noch fragen willst, aber eine Frage, die ich gerne vorziehen möchte, wäre, warum ich eigentlich diese beiden Gesichtspunkte gewählt habe?
Das ergab sich durch ein Gespräch, für das ich sehr dankbar bin, das Silo, Mario Rodriguez Cobos mit ein paar Freunden 2008 in Italien hatte. Diese Freunde führten bereits eine geraume Zeit eine Studie zur Überwindung von Gewalt und Rache in unserer Gesellschaft durch.
Nach einem Jahr der Recherchen zum Thema wollten sie Silo ihre Ergebnisse vorstellen. Mir ist dabei aufgefallen, dass er sich zwar die Resultate dieser Arbeit angehört hat. Dabei ging es um Beispiele aus Südafrika und Israel und auch aus Europa, in denen Menschen, die einen starken Groll hegten oder von starker Gewalt betroffen waren, den Weg der Versöhnung gewählt hatten. Aber als meine Freunde Silo dann baten, ihnen mit seiner Weisheit und seinen Erkenntnissen zur Seite zu stehen, um eine Antwort auf die Frage zu finden: – „Wie funktioniert Versöhnung in uns?“ – hat Silo meiner Meinung nach sehr überraschend geantwortet. Er sagte, es wäre gut, eine Lösung für dieses Thema zu finden, denn die Welt würde laut danach schreien, dieses Thema endlich, nach so viel Geschichte der Gewalt, zu lösen.
Aber er sagte damals, wenn man es lösen möchte, sei das in Ordnung… aber es gäbe einen Schritt davor, man müsse zurückgehen. Wenn man das Thema lösen möchte, muss man erst einmal verstehen, wie es funktioniert, wie Gewalt funktioniert, wie Rache funktioniert… Dies wiederholte er mehrmals, er wiederholte es und beharrte darauf. So wie ich das verstanden habe, hat er bei dieser Gelegenheit, bei dieser Konferenz – es war eher ein Gespräch mit dreißig, vierzig Leuten – die da vor Ort waren – davon gibt es auch eine Videoaufzeichnung auf YouTube– es lohnt sich das Video anzuschauen, also für mich hat er da Andeutungen gemacht, es sei interessant, dieses Thema einmal zu studieren.
Du weißt ja wir sind Leute, die bereits viele Jahre gegen Gewalt kämpfen, wir halten seit vielen Jahren die Fahne der aktiven Gewaltfreiheit hoch. Aber das hat mich damals sehr berührt, aus einem Eigeninteresse heraus und für unsere Aktivitäten, zu verstehen, wie Gewalt in uns funktioniert und es erschien mir mehr als verständlich, dass wir die Wurzel dieses Problems suchen müssen, wenn wir es überwinden wollen.
Wie ich schon kurz erklärt habe, besteht die Wurzel der Rache einfach formuliert, darin, dass wir als Individuen aber auch als Spezies, als menschliches Geschlecht in unserem Bewusstseinsapparat über einen sehr alten Verteidigungsmechanismus, einen Mechanismus zum Überleben verfügen, um uns gegen große Gefahren zu verteidigen, die Folgen davon zeigen sich in dem was wir Rache nennen… Ich werde angegriffen und ich versuche das Gleichgewicht wieder herzustellen, das von diesem Angriff verursachte Ungleichgewicht wieder auszugleichen, und das nennt man Rache und das, so habe ich bei meinen Studien herausgefunden, gibt es seit der Prähistorie und es findet sich im Nebel unseres Menschengeschlechts bis zum heutigen Tag.
Einen weiteren sehr interessanten Wink hat uns Negro, Silo bei diesem Gespräch in Grotte noch gegeben, als er sagte: „wenn ihr das studieren wollt, dann konzentriert euch auf eure Kultur, auf die westliche Kultur…“ und dann redete er noch davon, dass da etwas in der Zeit des Hammurabi entstanden ist. In meinen Studien erkannte ich einen, in unserem Bewusstsein verwurzelten Mechanismus, ich weiß nicht bis zu welcher Ebene der reicht (das könnten bestimmte Wissenschaftler uns sagen), vielleicht sogar bis auf eine genetische Ebene, keine Ahnung, ein Mechanismus der Verteidigung, den wir als Menschen verinnerlicht haben.
Das Problem begann in der Zeit von Hammurabi, als eine Art erster moderner Staat aufgebaut wurde, dabei handelte sich um ein sehr großes Gebiet, mit einer Verfassung, viele Völker, Sprachen, Religionen, die zusammenlebten, und Wissenschaft und Technologie aufblühen ließen. Damals war das sehr fortschrittlich, aber für dieses Zusammenleben wurde ein Gesetz verschriftlicht, was die antiken, einfachen, individuellen oder stammesspezifischen Formen der Rache ersetzte und diese gesetzlich festlegte.
Was wurde gesetzlich festgelegt? Ein System der Rache, natürlich etwas moderater. Du schneidest mir ein Ohr ab, dann schneiden wir dir auch ein Ohr ab, es gibt einen Ausgleich. Vielleicht konnte man das damals als einen Fortschritt betrachten, aber an der Wurzel, im Fundament unserer Kultur, in der Form wie wir uns bis heute strukturieren, als Gesellschaft, als Nation, dieses Zusammenleben als Bürger, die schon sehr an Gesetze gewöhnt sind, da können wir sehen, wie das angefangen hat zum System zu werden, zu einer Institution, Rache als Form des Zusammenlebens. Was aus heutiger Sicht bei den Anfängen „unserer Kultur“ fehlt, ist das Interesse an innerem Frieden, an innerer Versöhnung.
Denn, wenn wir uns den historischen Prozess anschauen, dann sehen wir, dass in dem Gebiet um Euphrat und Tigris herum erstmals eine Form des Zusammenlebens stattgefunden hat, die wir als Staat bezeichnen könnten und im historischen Prozess können wir erkennen, dass sich dieses Modell bis heute fortsetzt. Dieses Gebiet ist später auch – nicht zur selben Zeit – aber später der Geburtsort der drei Religionen, die sich heute sogar Weltreligionen nennen, das Judentum, das Christentum und der Islam und ohne jemanden beleidigen zu wollen, aber in vielen Bildern, Allegorien und Glaubensgewissheiten dieser drei Religionen spiegeln sich viele Elemente jener Nomaden wieder, die vor 4000 Jahren oder noch davor zusammenlebten, einschließlich finden wir die Projektion von einem Gott, der schließlich, um es mal ein bisschen brutal zu sagen, Rache übt, Gerechtigkeit walten lässt und richtet.
Die Zeit reicht nicht, um hier ins Detail zu gehen, aber auf jeden Fall kann man in diesen Religionen, die bis heute gegenwärtig und auch an den großen uns bekannten Konflikten beteiligt sind, Elemente einer ziemlich veräußerlichten Moral erkennen.
Welche Erfahrungen hast du mit deinem Workshop in den unterschiedlichen Ländern gemacht?
In diesen Workshops, die mir ermöglicht wurden, weil Freunde aus den unterschiedlichsten Orten mich eingeladen haben und ich dieser Einladung sehr gerne gefolgt bin, weil es mich sehr interessiert und bewegt… es ist sogar wichtig, denn ich glaube viele Leute sind heutzutage auf der Suche nach einer Grundlage gegen diese Welt voller Gewalt.
Wenn du gewaltfrei handeln willst, brauchst du eine Grundlage… denn die Welt ist so schnell, dass sie dich von einem Moment auf den anderen in Konflikte bringt und du deine guten Erfahrungen von gestern vergisst, als du noch geglaubt hast: „Ich bin ein sensibler Mensch und ich möchte nicht gewalttätig sein“ und plötzlich befindest du dich in einer Situation, in der du gewalttätig handelst. Ich glaube in dieser globalen Krise, in der wir leben, müssen wir uns stärken, nicht nur in unseren entschiedenen Handlungen, sondern auch in unserem Verständnis für die Gründe, warum Gewaltfreiheit die Zukunft ist und was Gewalt eigentlich ist… und dafür müssen wir dieses Thema studieren, darüber nachdenken, es vertiefen und das ist mein Ziel bei diesen Treffen.
Wie reagieren die Teilnehmer?
Ich glaube, und das sage ich dir aus meiner Erfahrung heraus, die Leute sind überrascht von der Komplexität der Frage. Es reicht nicht zu sagen: „mich ekelt es vor Gewalt, darum bin ich ein Aktivist der Gewaltfreiheit“, das reicht nicht aus. Zu verstehen, dass es einen historischen Prozess gibt, der die ganze Menschheit in diesem Thema mit einschließt, das scheint mir sehr hilfreich zu sein, um zu verstehen, dass diese Wut, die jeder in gewissen Momenten in sich selbst erkennt, nichts persönliches ist, und man sich nicht damit identifizieren muss, dafür gibt es keinen Grund, denn sie ist ein prähistorischer Reflex. Das Problem ist, wir leben in einer Kultur, die das alles unterstützt… Das ist das große Problem.
Was ist der Ausweg aus dieser Situation?
Ich glaube für alle gewaltfreien Aktivisten auf der Welt ist es sehr wichtig innerlich zu verstehen, wie Gewalt in einem selbst, in uns, in der ganzen Gesellschaft funktioniert.
Das müssen wir studieren, das müssen wir besser verstehen, darauf beharre ich, du hast mich gefragt wie eine Lösung aussehen könnte.
Wenn wir einmal verstanden haben, wie dieses Thema der dauerhaften Rache in unserer Gesellschaft, in den Generationen, im zwischenmenschlichen Bereich, ja sogar in den Familien, Partnerschaften usw. wirkt. Wenn wir einmal verstanden haben, welche große Mechanik das in unserem Bewusstsein ausmacht, wenn wir verstehen, dass dies kein persönliches Problem, nicht mein oder dein Problem ist, sondern eines der Menschheit, dann können wir aufhören, uns damit zu identifizieren.
Anders gesagt, geschichtlich gesehen, wenn man mit Gewalt antwortet, dann versucht man das Gleichgewicht wieder herzustellen, indem man auch angreift, weil der andere uns etwas angetan hat. Der Weg um diese nicht enden wollende Mechanik zu stoppen – denn das weiß heute ja jeder, dass Gewalt noch mehr Gewalt schafft – liegt darin, nicht nur eine Frage zu stellen und eine Antwort zu geben. Man muss verstehen, dass es in dieser Situation zwei Fragen gibt, nicht nur eine. Diese Fragen wären, auf der einen Seite: Wie schaffe ich es, umgeben von persönlicher Gewalt und umgeben von einer Gesellschaft, die mich attackiert, die Dinge mit mir tut, die ich als Gewalt erlebe, wie schaffe ich es in der Gegenwart und vor allem in der Zukunft, dass man mir diese Dinge nicht wieder antut?“
Das ist die Frage der Überwindung der Gewalt, das ist ein ganz großes Thema und eine sehr interessante Diskussion.
Das andere hat mit der Gewalt zu tun, die ich erlebt habe und die mir schon zugefügt wurde. Das muss man sehr klar haben, dass regelt man nicht, indem man den anderen auch attackiert. Denn es existiert in meinem Gedächtnis, es existiert nicht mehr in dir, du hast es an mich weiter gegeben, es ist in mir, in meinem Gedächtnis. Da lebt es weiter und verursacht mir Schmerzen. Also diesen zweiten Teil können wir so formulieren: „Wie kann ich mit dem was mir widerfahren ist umgehen, damit ich wieder inneren Frieden empfinde?“ Da sprechen wir dann von der Suche nach innerer Versöhnung.
Ganz einfach und zusammengefasst gesehen, stellt Versöhnung nicht einen Schritt zwischen mir und dir dar. Einfach ausgedrückt ist der erste Schritt der Versöhnung ein innerer Akt, die Versöhnung mit mir selbst, mit meinen Erinnerungen. Dafür muss ich Dinge überprüfen, aber das lohnt sich. Wenn ich in meinem Gedächtnis Dinge habe, die mir weiter wehtun, dann atme ich durch und versuche nicht zu projizieren… Wenn ich zurückschaue und mir vorstelle demjenigen etwas anzutun, dann ist das keine Lösung. Das ist primitiv, da gibt es keinen Ausweg, man sollte die Erinnerungen wachrufen und diese Momente anschauen. Welche Elemente gab es, die das in mir hervorgerufen haben, welche Elemente gab es vielleicht in dem Anderen?
Okay ich spreche hier von einem Prozess des Verstehens, auch wenn es sicherlich weh tut, diese Erinnerungen wieder hervor zu rufen, das tut ein wenig weh, ich glaube nicht zu sehr, man muss schauen und verstehen… Das trägt dann seinen Teil dazu bei, dass ich schließlich diese Inhalte in mein Gedächtnis integrieren kann und es somit ein ruhigerer Ort wird. Dann ist es nicht mehr eine große Sache aus meiner Kindheit, Jugend oder heutigen Zeit. Es wird auf ein akzeptables und lenkbares Maß reduziert und ich kann meinen Weg mit mehr Energie weiter gehen und ich stecke nicht mehr so sehr in meiner Vergangenheit und in all dem was mir angetan wurde, fest.
Beziehst du dich in deinem Workshop auch auf das, was Silo in Punta de Vacas gesagt hat: „Weder vergessen, noch vergeben… versöhnen“?
Silo hat im Mai 2007 über Versöhnung gesprochen und sehr klar gesagt, „weder vergessen, noch vergeben…„. Ich glaube, ich habe in meiner Antwort zuvor schon erwähnt, die Dinge, die uns weh tun zu vergessen, funktioniert nicht, man muss sie besser im Gedächtnis organisieren, darum muss man sich das nochmal anschauen, darum funktioniert das Vergessen nicht.
Das zum Vergessen. Aber warum nicht vergeben? Vergeben ist kulturell als eine sehr großmütige Tat angesehen, aber eine Art Großmut, bei dem ich mich über den anderen stelle und der andere arme Kerl, dem vergebe ich. Siehst du, wie ich mich über ihn stelle, aber das geht nicht, das ist erniedrigend für den anderen. Der andere muss sich unterordnen und um Vergebung bitten und ich verzeihe ihm vielleicht großmütig… Nein so funktioniert das nicht.
Soweit ein Auszug aus dem Interview mit Luz Jahnen, der maßgeblich einen Tag der Inspiration und Versöhnung im Studien und Reflexionspark Schlamau, in der Nähe von Berlin organisiert.
Tag der persönlichen Inspiration und Versöhnung
Übersetzung aus dem Spanischen von Marita Simon.