Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Kruzifix-Beschluss die Verfassungswidrigkeit von Kreuzen in öffentlichen Räumen des Staates festgestellt hat, gehört es weiter vielerorts zum Inventar.
Von Helmut Ortner
Ralf Feldmann ist das, was man einen umtriebigen Menschen nennt. Er hat Jura, Geschichte und Politikwissenschaft studiert, danach promoviert. Ab 1976 arbeitete er als Richter in Bochum, zunächst am Land-, später am Amtsgericht. Ein engagierter Jurist, der nicht nur Urteile sprach, sondern sich auch um den Zustand der Justiz sorgt, beispielsweise um die Frage, welchen Wert Verfassungsgerichtsurteile haben, wenn sie selbst von der Justiz ignoriert werden. Er schrieb dazu zahlreiche Aufsätze, verfasste Petitionen und machte Eingaben. kurzum: Er galt im nordrhein-westfälischen Justiz-Kosmos irgendwann als innerbetrieblicher Querkopf.
Mittlerweile ist er (Jahrgang 1949) im Ruhestand – oder richtiger: im Unruhe-Stand. Als streitbarer Richter i.R. veröffentlicht er weiterhin Aufsätze und hält Vorträge, etwa über die Notwendigkeit eines weltanschaulich neutralen Staats und seiner ebensolchen Justiz. Im Oktober 2023 war er als Referent bei einer Zoom-Video-Konferenz des „AK Säkulare Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten“ in Düsseldorf dabei. Sein Thema: die ‚Causa Heusch‘. Dabei ging (und geht es noch immer) in einer Art Daueraufführung um eine Justizposse in Nordrhein-Westfalen – und doch um einen exemplarischen verfassungsrechtlichen Sündenfall.[1]
Der Präsident des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts Andreas Heusch ließ im Jahre 2010 am Tag der Deutschen Einheit im Haupttreppenhaus des Gebäudes ein Kreuz anbringen, gewissermaßen als persönliche Antwort des gläubigen Katholiken auf den Kruzifixbeschluss[2] des Bundesverfassungsgerichts von 1995 zur Verfassungswidrigkeit von Kreuzen in öffentlichen Räumen des Staates.
In seinem Beschluss sah das höchste deutsche Gericht in einem Kreuz in einer staatlichen Pflichtschule einen Verstoß gegen ein institutionelles Staatsprinzip: die Pflicht des Staates zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen, weil es seit der Weimarer Reichsverfassung – durch das Grundgesetz bestätigt – keine Staatskirche mehr gibt.
Die Neutralitätspflicht des Staates als „Heimstatt aller Staatsbürger” folge zudem auch aus der am Gleichheitssatz orientierten Auslegung des Grundrechts auf Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit des Artikels 4 I GG. Danach sei es dem Einzelnen überlassen zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkenne und verehre und welche er ablehne. Das gebe ihm zwar kein negatives Recht, im gesellschaftlichen Bereich mit seinen unterschiedlichen Weltanschauungen von religiösen Äußerungen anderer verschont zu bleiben, wohl aber „in einer vom Staat geschaffenen Lage, in der der einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluss eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen er sich manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist“.
Und: der Artikel 4 GG gebe keinen Anspruch auf Glaubensunterstützung durch den Staat, sondern zwinge den Staat zur Neutralität gegenüber den verschiedenen Religionen und Bekenntnissen. Der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, könne die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selbst in Glaubensfragen Neutralität bewahre, sich am Gleichheitssatz orientiere und jede Identifikation mit Religionen und Weltanschauungen vermeide.[2] Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof sieht das in seiner Entscheidung zu Söders Kreuzerlass nun genauso: Die Anordnung, im Eingangsbereich aller Landesbehörden gut sichtbar ein Kreuz aufzuhängen, verstoße gegen das „objektiv-rechtliche Neutralitätsgebot des Staates.“ Wer das tut, bricht die Verfassung.
Kampf ums Kreuz
Was nun? Hätten nicht schon längst landesweit die Kreuze in Gerichten, Rathäusern und Behörden abgehängt werden müssen? Widerstand formierte sich damals gegen das Bundesverfassungsgericht, angefacht und unterstützt von Kirchen und Politik. Vor allem Katholiken waren erzürnt. Nicht nur im konservativ-katholischen Bayern artikulierte und formierte sich öffentlicher Protest. Viele sahen in dem Beschluss schon Vorboten für einen Untergang des christlichen Abendlandes. Justizminister weigerten sich landesweit gegen Kreuze initiativ zu werden, griffen aber – außer in Bayern – auch nicht ein, wenn in Gerichten aus eigener Initiative Kreuze abgehängt werden. Der Kampf um das Kreuz wurde von Land zu Land, von Stadt zu Stadt mit unterschiedlichem Elan ausgetragen, mitunter einigte man sich im stillen Einvernehmen, deutlicher: auf eine stillschweigende Missachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung. Freilich, es gab auch geradezu feindselige Auseinandersetzungen. Als 2016 der Präsident des Amtsgerichts Saarbrücken etwa die dort noch vorhandenen Kreuze durch Landeswappen ersetzen ließ, dachte die damalige Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer nach einem Gespräch mit dem Bischof von Trier öffentlich über ein Kreuzaufhängungsgesetz nach, ohne dies weiter zu verfolgen. Immerhin konnte sie damit kurzeitig ihre konservative Wählerschaft besänftigen.
Auch in Nordrhein-Westfalen, besonders in Gebieten mit überwiegend katholischer Bevölkerungsmehrheit, wie im Sauerland und Münsterland, in Paderborn und am Niederrhein blieben Kreuze an den Wänden in Amts- und Landgerichten hängen. Darin hat sich bis heute wenig geändert. Auch 28 Jahre nach dem Kruzifix-Beschluss sind Gerichtssäle im Land noch immer mit Kreuzen bestückt. Die höchstrichterliche Vorgabe, weltanschauliche Neutralität in Gerichten zu sichern, wird konsequent und andauernd ignoriert. Landesgesetze zur weltanschaulichen Neutralität in Gerichten verbieten inzwischen zwar das Kopftuch, aber Kreuze dürfen bleiben. Nordrhein-Westfalen ist kein Einzelfall. Der gleichheitswidrige Zwang, unter dem Kreuz das Kopftuch abnehmen zu müssen, wird von München bis Hannover stereotyp mit Herabstufung des Kreuzes auf ein kulturelles Symbol begründet, während allein das Kopftuch aktives religiöses Bekenntnis mit erheblicher Außenwirkung sei. Das Bundesverfassungsgericht sieht das anders.
Zurück nach Düsseldorf, zur ‚Causa Heusch‘ und zur rheinischen Kreuzgeschichte. Dort sprach sich Anfang 2010 der Landgerichtspräsident dagegen aus, seine neuen Gerichtsgebäude wieder mit den traditionellen Kreuzen auszustatten, anfangs mit voller Unterstützung der Oberlandesgerichtspräsidentin. Widerspruch kam umgehend von Kirchenvertretern, auch mit dem düsteren Totschlag-Argument, zuletzt hätten im Land Nazis die Kreuze entfernt. Der klerikale Protest führte zu Gesprächen an einem Runden Tisch, die mit einem rheinischen Kompromiss endeten: Die Kreuze blieben abgehängt, das große aus dem Schwurgerichts-Saal wurde öffentlichkeitsfern im Amtsgericht untergebracht. Für den Präsidenten des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts Andreas Heusch war das freilich kein Kompromiss, sondern die Kapitulation vor einem religionsfeindlichen Zeitgeist. Im Haupttreppenhaus seines ‚Amts-Habitats‘ ließ er daraufhin ein Kreuz anbringen, was nicht nur eine Missachtung höchstrichterlicher Rechtsprechung war, sondern auch eine trotzige Antwort des frommen Hausherrn auf die gesamte Kreuzkontroverse. Das Kreuz hängt bis heute.
Richter Feldmanns Sicht
Und das mochte Richter Feldmann nicht hinnehmen.
Mit der Kreuzerhöhung nimmt der Präsident des Verwaltungsgerichts das ihm anvertraute Gericht für ein extralegales und extrakonstitutionelles Glaubensbekenntnis in Anspruch. Das ist zugleich politische Meinungsäußerung eines hohen Amtsträgers: vordergründig im Streit um religiöse Symbole in öffentlichen Räumen des Staates, vor allem aber auch eine grundsätzliche Meinungsäußerung zu den weltanschaulichen Grundlagen politischen und gerichtlichen Handelns – und zwar mit Mitteln, die ihm von Amts wegen zur Verfügung stehen. Als religiöses oder auch ‚nur‘ kulturelles Symbol wirbt das Kreuz allgemeinpolitisch für die mit ihm verbundenen christlichen Ideologien und Richtigkeitsvorstellungen zur Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Deshalb versammeln sich christliche Parteien in ihren eigenen Räumen unter dem Kreuz. Wenn ihre Anhänger dagegen in öffentlichen Räumen des Staates Kreuze aufhängen, verletzen sie nicht nur die staatliche Pflicht zu weltanschaulicher Neutralität, sondern auch das Gebot der politischen Neutralität im Amt.
Niemand, sagt der ehemalige Richter, käme ernsthaft auf die Idee, das Logo oder Symbol einer politischen Partei als Sinnstifter in Räumen des Staates zur Schau zu stellen. Das Kreuz aber sei verfassungsrechtlich kein privilegiertes Symbol.
Die Demonstration von Glaubensdominanz der Staatsakteure gegen Nichtgläubige mit staatlichen Mitteln verletze Glaubensfreiheit und Gleichheitssatz. Es gehe aber auch um politische Ideologiedominanz und die Verletzung „der Chancengleichheit von Menschen anderer Weltanschauung im demokratischen Willensbildungsprozess“. Das Kreuz als religiöses oder auch nur kulturelles Symbol werbe mit Blick auf Staat und Gesellschaft für die mit ihm verbundenen christlichen Parteien und Denkweisen, die allerdings nicht immer grundgesetzkonform seien, moniert Richter Feldmann.
Tatsache ist: die Missachtung des Grundgesetzes und des Verfassungsgerichts wurde bislang nicht allein seitens der Landesregierung – egal welcher Couleur – parteiübergreifend akzeptiert. Ob unter Peer Steinbrück, Jürgen, Rüttgers, Hannelore Kraft, Armin Laschet oder dem jetzigen Ministerpräsidenten Henrik Wüst – keine Ermahnung aus dem Justizministerium, keine Wortmeldung aus den Parteien. Die politische Klasse gab und gibt sich irritierend unbeteiligt. Und aus der Justiz? Gab es Proteste, klare Forderungen? Wie stand und steht es um die Verteidigung ihrer eigenen verfassungsrechtlichen Verantwortung? Gewissermaßen um die Selbstverteidigung ihrer demokratischen Rolle?
„Wenn Politik und Justiz nicht bereit sind, das zu akzeptieren, was das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsrecht erkennt, dann befinden wir in einer demokratiegefährdenden Schieflage.“
Um es klar zu sagen: Das verhaltene Reagieren – oder ist es treffender, hier von Nicht-Reagieren zu sprechen? – grenzt an demokratieverachtende Gleichgültigkeit. In jedem Fall ist es eine Ignoranz, an der der Rechtsstaat Schaden nimmt. Ralf Feldmann, der den Justiz-Kosmos und dessen klerikale Verknüpfungen aus jahrzehntelanger Praxis bestens kennt, stellt ernüchtert fest:
Schon zehn Jahre lang kann sich der Düsseldorfer Verfassungsbruch nahezu unangefochten behaupten. Unter dem Justizpersonal stieß die Kreuzaktion damals auf ein kontroverses Echo. Verwaltungsgerichte arbeiten ‚nahe am Grundgesetz‘. Verfassungs- und Gesetzesbindung der Justiz gehören zu seinen Kernelementen. Jeder Richter und jede Richterin hat eine individuelle, dem Amt geschuldete Grundverantwortung dafür, dass sie eingehalten werden. Es stimmt sehr nachdenklich, dass offenbar niemand einzeln oder zusammen mit anderen diese Verantwortung entschieden und nachhaltig wahrgenommen hat, als der Gerichtspräsident in öffentlicher Inszenierung die Verfassung brach. Wären der Kruzifixbeschluss und die Besinnung auf die eigene verfassungsrechtliche Grundverantwortung für Verfassung und Recht nicht Anlass genug gewesen, die Arbeit in einem Gericht, das religiöses Bekenntnis zur Schau stellt, schlicht zu verweigern? Oder ein kreuzfreies Gericht einzuklagen, gestützt auf einen verfassungsrechtlich begründeten Anspruch, sein Amt in einem verfassungsgemäß ausgestatteten Gericht auszuüben?
Und weiter:
Hätten nicht zumindest die örtlichen und überörtlichen Richter- und Personalräte darauf dringen müssen, die Aktion rückgängig zu machen, die für verfassungstreue, insbesondere nichtgläubige Beschäftigte eine Zumutung war? Warum haben sie gegen die autoritäre Aktion des Präsidenten kein Mitbestimmungsrecht bei der verfassungskonformen Gestaltung des Arbeitsplatzes Gericht reklamiert oder bis zur höchsten Ebene zumindest auf der einfachen Beteiligung daran bestanden? Das Personalvertretungsgesetz und das Richtergesetz ermöglichen das. Allerdings hatte sich bereits 2007 der vom Deutschen Richterbund dominierte Hauptrichterrat der ordentlichen Justiz in Nordrhein-Westfalen – dort kommen Kreuze in Gerichtssälen noch häufiger vor – geweigert, darüber mit der christdemokratischen Justizministerin, seiner früheren Vorsitzenden, auch nur in eine Erörterung einzutreten, weil die Sache lediglich ein bürgerrechtliches Anliegen sei.
Richter Feldmann fragt:
Wie kommt es, eigentlich dass Teile der Politik über Parteigrenzen hinweg – aber auch Akteure der Justiz – die Letztentscheidungs-Kompetenz des Verfassungsgerichts nicht anerkennen und sich damit über das fundamentale Prinzip der Gewaltenteilung hinwegsetzen? Und warum fiel und fällt es den Angehörigen der juristischen Berufe und ihren Organisationen so schwer, für weltanschauliche Neutralität im Erscheinungsbild der Gerichte und damit für unsere Verfassung aktiv einzutreten?
Den entscheidenden Grund dafür, dass sich Kreuze im Gericht gegen die Verfassung behaupten, sieht Ralf Feldmann darin, dass die Menschen, die im Gericht ihr Recht suchen oder dort arbeiten, fast immer andere Sorgen haben, als sich über ein religiöses Symbol zu beschweren, vor allem, weil sie es sich nicht mit jemandem verderben wollen, der für sie wichtig ist: die Rechtsuchenden mit dem Richter, das Justizpersonal mit dem Präsidenten oder – je nach Ambition – mit dem Ministerium. „Justizintern spiegelt sich darin das Grundübel wider, dass die Unabhängigkeit der Justiz in ihrer Binnenstruktur vom Ministerium über die Gerichtsleitungen durch hierarchische Lenkungs-, Weisungs- und Eingriffsmöglichkeiten begrenzt ist. Wenn ein Präsident, der über dienstliche Beurteilungen erheblichen Einfluss auf berufliche Karrieren justizinterner Kritiker nehmen kann, sich auch noch über die Ansätze binnendemokratischer Mitbestimmung autoritär hinwegsetzt, bleibt selbst sein Verfassungsbruch intern folgenlos”, so Feldmanns.
Ein betrübliches Fazit. Wenn Politik und Justiz nicht bereit sind, das zu akzeptieren, was das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsrecht erkennt, dann befinden wir in einer demokratiegefährdenden Schieflage. Polen oder Ungarn haben diesen Weg in den letzten Jahren beschritten. Keine guten Vorbilder für unser Land. Ein Gedanke, der nicht nur den ehemaligen Richter Ralf Feldmann aus Bochum umtreibt.
Nachtrag
Kein Kreuz im Klassenzimmer. Wie aber verhält es sich mit Lehrerinnen, die ein Kopftuch als Glaubenssymbol tragen? In Berlin ist das möglich. Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, begrüßt, dass nunmehr Lehrerinnen in Berlin mit Kopftuch unterrichten dürfen. Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts, dass erst wenn der Schulfrieden gestört ist, sprich der Konflikt an der Schule eskaliert, ein Kopftuchverbot verhängt werden kann, ist nicht die vermeintlich salomonische Lösung: Sie ist gut gemeint, aber weder praktikabel noch vereinbar mit dem erzieherischen Auftrag des weltanschaulich neutralen Staates.
„Es sollte klar sein, dass Schulen und Gerichtssäle keine Orte der Religionsausübung sind. Personen, die sich nicht einmal für die Dauer ihrer Dienststunden von ihrer Religion oder Weltanschauung distanzieren können, beweisen damit, dass sie nicht die notwendigen Voraussetzungen mitbringen, gar Gerichtsurteile zu fällen“, heißt dazu in einer Erklärung der Giordano Bruno Stiftung. Fazit: Ob Kopftuch oder Kreuz – staatliche Schulen und Bildungseinrichtungen sollten für religiöse Symbole aller Art Sperrzonen sein.
Hinweis
Der Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Helmut Ortner:
Das Klerikale Kartell – Warum die Trennung von Staat und Kirche überfällig ist
Nomen Verlag Frankfurt. 272 Seiten, 24 Euro
Das Buch erscheint Ende Februar.