Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber
Grosse Medien haben vorschnell die Darstellung des israelischen Militärs übernommen, ohne diese überprüfen zu können. Nach der militärischen Besetzung des Spitals titelten die Tamedia-Zeitungen «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung» und «Basler Zeitung» am 16. November mit grossen Buchstaben: «Israelische Soldaten stürmen die Herzkammer der Hamas – Israels Armee hat die Klinik in Gaza-Stadt erobert».
Erst im Verlauf des Artikels buchstabierten die Zeitungen auf «vermutlich» zurück. Israels Truppen seien bereit, «in die mutmassliche Herzkammer ihrer Macht vorzurücken, also in jenes Kommandozentrum, das in Bunkern und Tunneln unter dem Spital vermutet wird.» Noch befänden sich ungefähr 2000 Zivilisten, darunter etwa 660 Patienten im Spitalkomplex.
Bereits am 11. November hatte die «Frankfurter Rundschau» gemeldet:
«Kein Wasser, kaum Strom und Essen aus Konservendosen, das längst nicht für alle reicht: Als ‹katastrophal› beschreibt der Direktor des Al-Shifa-Krankenhauses die Lage in der grössten Klinik des Gazastreifens. Nachdem bei Luftangriffen ein Generator beschädigt wurde, fiel der Strom aus, behandelt wurde dann teils bei Kerzenlicht. Mehrere Beatmungsgeräte konnten nicht mehr am Laufen gehalten werden, erzählt der leitende Arzt.»
In den Social Media hatte ein norwegischer Arzt, der seit vielen Jahren in Gaza arbeitet, Israel aufgefordert, die Bomben zu stoppen: «Wenn die Hamas eine Kommandozentrale im Innern des Spitals hätte, müsste ich es wissen.»
Recht auf grösstmöglichen Schutz
Die fundamentalistische Terrororganisation Hamas foutiert sich komplett um das humanitäre Völkerrecht. Das haben der Terroranschlag in Israel und das Halten von Geiseln erneut in krasser Weise gezeigt. Israel hat das Recht, die Führung der Hamas und ihre fast nur männlichen Kämpfer auszuschalten.
Doch «Auge um Auge, Zahn um Zahn» ist nicht erlaubt. Israel muss das humanitäre Völkerrecht respektieren. Freilich ist dies in einem dicht besiedelten Gebiet, in dem die Hamas zivile Einrichtungen als Schutzschild benutzt, eine äusserst schwierige Aufgabe. Trotzdem haben insbesondere die 1,5 Millionen Frauen und Minderjährigen – 70 Prozent der Bevölkerung – ein Recht auf grösstmöglichen Schutz.
Israel ist verpflichtet, so vorsichtig wie möglich vorzugehen. Das grösste Spital im Gazastreifen anzugreifen und zum Schliessen zu zwingen, hat das 1. Protokoll zum humanitären Völkerrecht ohne Zweifel mit Füssen getreten. Nach Angaben der WHO sind 26 von 36 Spitälern im Gazastreifen wegen Schäden durch die Kampfhandlungen oder wegen Treibstoffmangels geschlossen.
Humanitäres Völkerrecht: Es braucht einen «unmittelbaren militärischen Vorteil»
Die israelische Armee griff den grössten Spitalkomplex Al-Shifa im Gazastreifen mit rund 600 Betten und einer Intensivstation militärisch an und drang am 15. November ins Spital ein. Strom und Versorgung waren längst unterbrochen. Begründung der Armee: Im oder unter dem Spital befände sich eine Kommandozentrale der Hamas und im Spital würden Geiseln versteckt. Diese Behauptungen machten einige Medien zu ihrer eigenen und betonten, dass ein zum Militärstützpunkt missbrauchtes Spital völkerrechtlich angegriffen werden darf.
Es geht um das Genfer Völkerrechts-Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler Konflikte, das auch Israel unterzeichnet hat. In Artikel 18 heisst es: «Zivilspitäler, die zur Pflege von Verwundeten, Kranken, Schwachen und Wöchnerinnen eingerichtet sind, dürfen unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen bilden.» Gemäss Artikel 19 darf «der Schutz nur aufhören, wenn sie [die Zivilspitäler] ausserhalb ihrer humanitären Aufgaben zur Begehung von Handlungen verwendet werden, die den Feind schädigen». Allerdings verbietet Artikel 51 des ersten Zusatzprotokolls von 1977 das Beschädigen ziviler Objekte [wie Spitäler], wenn die Angriffe «in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen».
Generell sind «Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder gegen Zivilpersonen als Repressalie verboten».
Um einen Angriff auf den Al-Shifa-Spitalkomplex zu rechtfertigen, hätte Israel handfeste Beweise haben müssen, dass es aus dem Spitalgelände mit Raketen angegriffen wird, dort Geiseln festgehalten werden und die Hamas auf dem Spitalgelände eine Kommandozentrale eingerichtet hat. Selbst eine Kommandozentrale zehn Meter im Untergrund hätte keine Bombardierung des Spitals erlaubt, weil die Zentrale damit nicht hätte zerstört werden können.
«Anders als erwartet»
«Anders als erwartet», räumte die israelische Armee nach der Besetzung des Spitals ein, habe sie «keine Hinweise gefunden, dass sich Geiseln im Spital befanden». Nach dem Terroranschlag hatte das «Jewish News Syndicate» berichtet, zwei entführte Thailänder seien ins Spital gefahren worden. Offensichtlich waren sie nicht mehr dort.
Unter dem Spital fand die Armee einen der unzähligen Tunnels, welche die Hamas durch halb Gaza zog. Er wurde wahrscheinlich benutzt, um verletzte Terroristen im Spital zu versorgen. Eine Kommandozentrale oder Reste davon fand die Armee offensichtlich nicht. Sie zeigte den Medien lediglich einen leeren Tunnel und eine Reihe Gewehre ohne Angabe des genauen Fundorts. Man kann davon ausgehen, dass die Armee handfeste Beweise für eine Kommandozentrale medienwirksam verbreitet hätte.
Noch fünf Tage nach der Eroberung des Spitalgeländes meldete die NZZ vorsichtig: «Videoaufnahmen weisen auf ein Tunnelsystem der Hamas unter dem grössten Spital im Palästinensergebiet hin. Die Armee habe Aufnahmen veröffentlicht, die eine Wendeltreppe zeigt, die mehrere Meter in die Tiefe führt und in einem langen Gang mit Betonwänden ende. Israel-Korrespondentin Andrea Spalinger am 20. November: «Laut der israelischen Armee befindet sich unter dem Shifa-Spital ein Hauptquartier der Hamas.» Sie hätte auch etwas skeptischer im Konjunktiv schreiben können: «Die israelische Armee sagt, unter dem Spital befinde sich ein Hauptquartier».*
Anstatt von Israels Militär handfeste Beweisen für eine Kommandozentrale zu verlangen, titelte die «NZZ» am 21. November «Viele Indizien sprechen für eine militärische Nutzung». Der Untertitel allerdings buchstabierte zurück: «Ob sich unter dem Shifa-Spital tatsächlich ein Hamas-Hauptquartier befindet, bleibt unklar.»
Die Tamedia-Zeitungen schrieben nicht mehr von der «Herzkammer der Hamas», sondern nur noch von einem «Versteck». Am 24. November war der grosse Titel ein Zitat: «Liebe Welt, ist das Beweis genug?» Die zitierte Frage stammte offensichtlich vom israelischen Militärsprecher, denn der Untertitel lautete: «Hamas-Versteck unter Gaza-Spital: Israel ist nach eigenen Angaben fündig geworden. Unter dem Al-Shifa-Spital befinden sich Militäranlagen und Wohnräume für Terroristen.»
Einen Tag später, 25. November, informierte die «NZZ» – allerdings versteckt unter dem Titel «Hamas lässt israelische Geiseln frei:
«Die Armee hatte die Besetzung des Spitals damit begründet, dass sich darunter eine wichtige Hamas-Kommandozentrale befinde. Zwar fand sie einen Tunnel mit einem Schutzraum. Einen Beweis für die Existenz der Kommandozentrale erbrachte sie bis zuletzt aber nicht. Vor ihrem Abzug aus dem Spital sprengten die Soldaten den Tunnel.»
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*Hier stand zuerst «Wohlgemerkt: ‹Befindet» sich, nicht «befinde› sich.