Erneut rezensiere ich einen Roman über Altersarmut und Obdachlosigkeit, aber diesmal spielt die Handlung nicht so wie in Homeless in den USA, sondern direkt vor unserer Haustüre mitten in Europa, in der Slowakei. Ein sehr spannendes, grandios miteinander verwobenes Beziehungsgeflecht der Figuren und Handlungen im Setting der Location Krankenhaus mit angeschlossener Poliklinik wird mir hier präsentiert.
Ebenso wie die Klasse der Armen, Besitzlosen und Wohnungslosen in Form der titelgebenden „undankbaren“ Protagonistin wird auch hier als krasser Gegensatz dazu das Milieu der reichen Spender und Politiker analysiert, die sich durch ziellose und unerwünschte Wohltätigkeit ihrer Schuldgefühle entledigen wollen und dafür auch noch unbegrenzte Dankbarkeit von den armen, düpierten, durch Charity Gedemütigten erwarten. Zusätzlich darf auch in diesem Roman der linke Reporter einer Zeitung nicht fehlen, der durch den Umbruch in der Pressebranche selbst fast schon ins Prekariat gerutscht ist, der auf der permanenten Jagd nach einer Story, die er verkaufen kann, über das menschliche Elend berichtet, das im zufällig begegnet und der durch die öffentliche Aufmerksamkeit Einiges bewirkt.
Die Protagonisten sind nicht nur durch den Plot, die zufälligen Treffen im Krankenhaus und die sich daraus ergebende Story, sondern auch durch ihre Vorgeschichten enger miteinander verknüpft, als es ursprünglich den Anschein hat. Die Konzeption dieses Beziehungsnetzes fand ich grandios und innovativ, leider nutzte die Autorin im Finale des Romans diese sorgfältig aufgebaute Konstruktion überhaupt nicht, was meine Begeisterung auf den letzten Metern des Romans doch sehr bremste.
Eine vulnerable, alte, obdachlose Frau, unsere Protagonistin Ludmilla, die zu den Weihnachtsfeiertagen eingeliefert und dann schnell wieder entlassen wird, bleibt im Krankenhaus in der Wärme, lebt in den Fluren der Ambulanz und der angeschlossenen Poliklinik als U-Boot und versucht, nicht aufzufallen, um nicht rausgeschmissen zu werden. Sie ist durch mehrere Schicksalsschläge im Alter in diese Situation gekommen. Nach dem Tod ihres übergriffigen lieblosen Ehemanns, fällt die Wohnung als Erbe an ihren Sohn, der sich entgegen der Abmachung eines lebenslangen Wohnrechts irgendwohin nach Russland absentiert und die Wohnung der Mutter verkauft. Ludmilla hat eine sehr liebevolle Ziehtochter, die sie aufgenommen und für ein Zimmer in einer Pension gesorgt hat, diese wurde jedoch kurz vor Weihnachten durch einen Autounfall getötet. Nachdem das Geld zur Neige ging, steht Ludmilla plötzlich auf der Straße und klappt zusammen. Nun lebt sie in den Warteräumen des Krankenhauses und bisher hat das noch keiner mitbekommen.
Der abgehalfterte, ältere Zeitungsredakteur Miloš, der mit einer Silvester-Kopfverletzung in dasselbe Krankenhaus eingeliefert wurde, checkt, dass er Ludmilla irgendwie sehr oft in den Fluren antrifft und mutmaßt punktgenau ihre Obdachlosigkeit. Er wittert wie ein Raubtier seine große rührselige Story, die ihn beruflich weiterbringen soll. Diese Reportage wird dann tatsächlich gedruckt und erfährt enormes Echo.
In einem weiteren Setting lernen wir die Oberschicht kennen: Den alternden, ehemals sehr erfolgreichen und reichen Politiker Eliáš und seine frustrierte, junge Frau Dorotka, die weder ein Kind noch ein Haustier haben darf. Dorotka ist auch zufällig wegen einer Untersuchung im Krankenhaus. Sie erkennt die alte, obdachlose Frau aus der Zeitung und nimmt Ludmilla als Sozialprojekt mit nach Hause. Aus ihrem Leben im warmen Wartesaal gerissen, in dem sie sich mittlerweile eingerichtet hat, ist Ludmilla überhaupt nicht so dankbar und glücklich, wie sich das dieses Charity-Paar vorgestellt hat. Es entstehen einige peinliche und unfreundliche Momente, als Ludmilla gegen ihren Willen mit Essen vollgestopft und den Freunden im Rahmen eines Dinners wie eine Jahrmarktattraktion vorgeführt wird. Im Gegenteil, sie möchte nur noch weg und kommt in eine Sozialeinrichtung. Nun verzahnen sich die Figuren im Hintergrund in einem Beziehungsnetzwerk, denn Eliáš hat irgendetwas mit dem Tod von Ludmillas Pflegetochter zu tun, eigentlich der Grund, warum sie obdachlos wurde. Nur keiner weiß es bisher.
Im Folgenden entwickeln sich alle Protagonisten. Milos findet die Liebe, Linda, die Chefin von Miloš jagt ihrem Reporter die Story ab, nimmt zudem Ludmilla unter ihre Fittiche, und organisiert der alten Frau eine Unterkunft in einem wunderschönen Hotel. Nur der Kriminalfall von Ludmillas Pflegetochter kommt nicht vom Fleck, denn er wird nur indirekt im Hintergrund thematisiert, aber nie öffentlich aufgedeckt. Das ist schade und nimmt dem Finale das eigentlich auf der Hand liegende, furiose Ende. Auf den letzten Metern hat für mich der Roman einiges an Qualität verspielt, das Ende verpufft einfach so. Ist aber in vielen osteuropäischen Romanen so, dass Korruption und Kriminalität einfach keine öffentlichen Konsequenzen haben. Diese sind wie politische Naturgewalten, die man einfach hinnehmen, akzeptieren und sich damit arrangieren muss. Fiktional könnte hier meiner Meinung nach viel mehr für Gerechtigkeit gesorgt werden.
Fazit: Ein guter, sprachlich auch sehr ansprechender Roman, mit sehr guter Figurenentwicklung und einer großartigen Gesellschaftsanalyse, für den ich gerne eine Leseempfehlung abgebe, wenn auch der Abschluss für mich enttäuschend ist.
Die Undankbare von Jana Juráňová ist im Wieser Verlag als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch über einen Klick auf das Cover im Beitrag oder auf der Verlagsseite.
Rezension von awogfli