Pascal Derungs für die Online-Zeitung INFOsperber
Die US-Regierung plant, bis Mitte der 2030er Jahre alle der über 400 landgestützten Interkontinentalraketen des Typs «Minuteman» durch neue «Sentinel»-Raketen zu ersetzen. Das Programm ist Teil einer 1,5 Billionen Dollar schweren Anstrengung zur Modernisierung des US-Atomwaffenarsenals und seiner Kommando- und Kontrollinfrastruktur. Diese Raketen stehen in unterirdischen Silos, die in drei grossen Feldern gruppiert sind und sich im US-Kernland auf die Bundesstaaten North Dakota, Montana, Wyoming, Colorado und Nebraska verteilen. Bei einem nuklearen Grossangriff auf alle diese Standorte würden sehr viel mehr Menschen sterben oder verstrahlt werden als bislang angenommen. Das zeigt eine neue Studie, die in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift «Scientific American» publiziert wurde.
300 Millionen Menschen in Nordamerika sind gefährdet
Der Wissenschaftler Sébastien Philippe von der Princeton University modellierte die Auswirkungen nuklearer Explosionen. Er untersuchte das radiologische Risiko eines nuklearen Präventivangriffs auf die Raketensilos. Nach seinen Modellen würde ein konzertierter nuklearer Angriff auf die bestehenden US-Silofelder alles Leben in den umliegenden Regionen vernichten und fruchtbares Ackerland für Jahre verseuchen. Allein die akute, unmittelbare Strahlenbelastung würde in den USA mehrere Millionen Todesopfer fordern, heisst es im «Scientific American».
Nach vier Tagen Exposition, so hat der Wissenschaftler berechnet, würde die durchschnittliche Strahlendosis im weiten Umfeld der Silos ein Vielfaches von über 8 Gy erreichen, was als absolut tödlich gilt. Die meisten Einwohner von Montana, North Dakota, South Dakota, Nebraska und Minnesota würden durchschnittliche Dosen von mehr als 1 Gy erhalten, was zu vielen Todesfällen durch akutes Strahlensyndrom führen würde, insbesondere bei Kindern. Auch Iowa und Kansas wären mit hohen radioaktiven Niederschlägen konfrontiert.
Gemäss der neuen Studie wäre – je nach den Windverhältnissen – die gesamte Bevölkerung der angrenzenden US-Bundesstaaten und der bevölkerungsreichsten Gebiete Kanadas sowie der nördlichen Bundesstaaten Mexikos dem Risiko eines tödlichen Fallouts ausgesetzt – insgesamt mehr als 300 Millionen Menschen. Sie könnten im Freien Ganzkörper-Strahlendosen abbekommen, die erfahrungsgemäss zum sicheren Tod führen.
Die Raketenfelder sollen feindliche Angriffskapazität binden
Der ursprüngliche Zweck des landgestützten Raketensystems bestand darin, einen feindlichen Atomangriff durch die Androhung sofortiger und verheerender Vergeltung abzuschrecken. Doch Mitte der 1970er Jahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass fix installierte Raketensilos ein leichtes Angriffsziel abgeben. Als neue, besser geschützte luft- und seegestützte Atomwaffenarsenale dazukamen, wurde die «Notwendigkeit» landgestützter Raketen neu gedeutet. Seither sollen sie einen Angreifer nicht mehr primär abschrecken, sondern – dank ihrer grossen Zahl – seine Ressourcen binden und erschöpfen. Der Gegner soll sich gezwungen sehen, den grössten Teil seiner Schlagkraft auf diesen Silofeldern zu opfern – daher rührt der Begriff Opferzonen.
Diese Doktrin geht zurück auf das Jahr 1978, als General Lew Allen Jr., der damalige Stabschef der Luftwaffe, vorschlug, dass die Silos «einen grossen Schwamm» von Zielen in den USA bieten sollten, um ankommende sowjetische Atomwaffen zu «absorbieren». Die präventive Zerstörung der Raketenfelder – so die These – würde einen so massiven Angriff erfordern, dass die Gegner ihn nicht bewältigen oder auch nur in Erwägung ziehen könnten. Ohne die landgestützten Raketen, so das Argument, hätte ein Gegner weitaus mehr Ressourcen zur Verfügung, um andere militärische und infrastrukturelle Ziele oder sogar Städte der USA anzugreifen.
Landgestützte Raketen bergen das grösste Risiko
Selbst wenn ein Gegner rational genug wäre, um keinen gross angelegten Angriff zu starten, würden die landgestützten Raketen das Risiko eines versehentlichen Atomkriegs erheblich erhöhen, hält «Scientific American» fest. Um auszuschliessen, dass feindliche Waffen die Raketen in ihren Silos zerstören, halte die Luftwaffe die Flotte in höchster Alarmbereitschaft und sei auf Befehl des Präsidenten innerhalb von Minuten startbereit, sobald irgendwo auf der Welt feindliche Raketenstarts entdeckt würden. «Launch on Warning» nennt sich diese Doktrin. Es bedeutet, dass der Finger am Abzug von Nuklearwaffen nirgends so nervös ist wie bei den Siloraketen. Weil sie fix installiert sind, können sie schnell angegriffen werden. Die Reaktionszeit für ihren Abschuss ist deshalb viel kürzer als bei beweglichen Atomwaffen von Flugzeugen oder U-Booten, die nicht so leicht angreifbar sind. Dieses erhöhte Gefahrenpotenzial der langestützten Atomraketen sei nicht nur theoretisch, denn Fehlalarme über feindliche Angriffe habe es während des Kalten Krieges mehrere gegeben, erinnert die Zeitschrift «Scientific American».
Auch Unfälle mit Atomwaffen sind ein erhebliches Risiko
Selbst wenn es nicht zu einem Atomkrieg käme, würden die Menschen in den Gemeinden in der Nähe der Raketenfelder auch nach deren Modernisierung weiterhin ernsthaften Risiken ausgesetzt, schreibt «Scientific American». Eines davon sei die unbeabsichtigte Freisetzung von radioaktivem Material wie Plutonium in den Sprengköpfen durch einen mechanischen Schlag, einen Brand oder eine Explosion. Eine zweite sei die versehentliche Detonation eines Sprengkopfes, die zu einer nuklearen Explosion führen würde. Die Geschichte des US-Atomraketenprogramms liefere mehrere Beispiele für Silos oder Raketen, die Feuer fingen und von Raketen, die in ihren Abschussrohren explodierten, erinnert «Scientific American». Unfälle mit Atomwaffen würden längst nicht immer öffentlich diskutiert.