Carlos Fino*, interviewt für Pressenza von Vasco Esteves

Carlos Fino wurde in Portugal geboren und arbeitete vier Jahrzehnte lang als Radio- und Fernsehreporter, Kriegskorrespondent, Moderator von Nachrichtendiensten und Medienberater. Er war in Osteuropa, im Nahen Osten und Brasilien. Er lebte in Lissabon, Moskau, Brüssel, Washington und Brasilia. Er war ein preisgekrönter Journalist, schrieb Bücher und hat einen Doktortitel in Kommunikationswissenschaften. Er ist vielleicht der bekannteste portugiesische Reporter der Welt.

Im Jahr 2022 kehrte er nach Portugal zurück, um – wie er selbst sagt – „nicht mehr im Rampenlicht der internationalen Politik und des Journalismus zu stehen und mit meiner Frau ein ruhigeres Leben zu führen“, also zu versuchen, den „goldenen Mittelweg“ auf die gute alte Art und Weise auszuleben.

Doch kaum war er 2022 in Portugal angekommen, brach der Krieg in der Ukraine aus, dessen Verlauf ihn zutiefst erschütterte. Er zögerte noch, sich einzumischen, aber jetzt hat er beschlossen, eine Ausnahme zu machen und dieses exklusive Interview für PRESSENZA zu geben, über seine Erfahrungen in Osteuropa und die möglichen geopolitischen Schlussfolgerungen, die er daraus ziehen kann.

In diesem ersten Teil des Interviews geht es um die Erfahrungen von Carlos Fino in Moskau, während des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der Zerschlagung Jugoslawiens.
Im zweiten Teil, der in einigen Tagen veröffentlicht wird, wird er über den aktuellen Krieg in der Ukraine, über Osteuropa im Allgemeinen sowie über die fortschreitende De-globalisierung und die sich abzeichnende neue Weltordnung sprechen.

Moskau

Pressenza: Verfolgt von der PIDE/DGS (Geheimpolizei des Salazar-Caetano-Regimes), mussten Sie, Carlos Fino, 1971 aus Portugal nach Frankreich fliehen. Zu dieser Zeit waren Sie Studentenführer (1968/1969 als Mitglied des Asta-Vorstands in der Juristischen Fakultät der Universität Lissabon) und sollten auch bald danach der PCP (Portugiesische Kommunistische Partei) beitreten, die damals noch im Untergrund agierte. Sie waren auch Mitglied der MDP/CDE (Portugiesische Demokratische Bewegung – Demokratische Wahlkommission), die an den „kontrollierten Wahlen“ von 1969 trotz der vom Regime auferlegten Beschränkungen teilnahm.

Anschließend reisten Sie nach Paris und von dort weiter nach Brüssel, wo Sie den Flüchtlingsstatus der Vereinten Nationen erlangten und zwei Jahre lang als Straßenbahnfahrer arbeiteten. Parallel dazu studierten Sie Jura an der ULB („License en Droit de la Université Libre de Bruxelles“).

1973 gingen Sie über die PCP nach Russland, um dort als Sprecher für Radio Moskau zu arbeiten, das ein auf Portugal ausgerichtetes Programm hatte, welches – ebenso wie das in Rumänien ansässige „Rádio Portugal Livre“ und das in Algier ansässige „Rádio Voz da Liberdade“ – von den Regimegegnern heimlich abgehört wurde.

Nach dem Militärputsch vom 25. April 1974, der das diktatorische Regime von Salazar-Caetano stürzte und den Weg für die Implementierung eines demokratischen Regimes ebnete, kehrten Sie Ende 1974 nach Portugal zurück, wo Sie die laufende Nelkenrevolution verfolgten und ein Jahr lang als Übersetzer für die sowjetische Nachrichtenagentur Novosti arbeiteten, die gerade eine Niederlassung in Lissabon eröffnet hatte.

Ende 1975 kehrten Sie nach Moskau zurück, diesmal als Korrespondent und Reporter für den portugiesischen Rundfunk EN und später für RTP (Rádio Televisão Portuguesa); diesmal blieben Sie bis 1982 in der sowjetischen Hauptstadt, als Sie nach einem erlittenen Angriff der sowjetischen Polizei nach Portugal zurückkehrten.

Zwischen 1982 und 1989 arbeiteten Sie für RTP in Lissabon als Reporter, Moderator und Kommentator, danach gingen Sie als Korrespondent des portugiesischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens nach Moskau, wo Sie bis 1995 blieben. Anschließend wurden Sie nach Brüssel versetzt, und drei Jahre später nach Washington, jeweils als internationaler Korrespondent von RTP.

Im Laufe von mehr als zwei Jahrzehnten (1973-1995) lebten Sie also dreimal in Moskau, insgesamt 12 Jahre lang, und verfolgten als Korrespondent und Reporter alle wichtigen Ereignisse in der Sowjetunion, einschließlich ihres Zusammenbruchs und der Emanzipation der osteuropäischen Staaten hinter dem so genannten „Eisernen Vorhang“… Was bedeutete Moskau damals für Sie, und was bedeutet es heute?

Carlos Fino: Als ich im November 1973 zum ersten Mal nach Moskau reiste, stellte ich mir die sowjetische Hauptstadt, nach dem, was ich in der Propaganda gelesen hatte und in der Unwissenheit meiner grünen Jahre, als eine Art rotes Brasilia vor – also eine entwickelte Stadt, offen für die Zukunft, fortschrittlich, und Sitz einer Macht, die auf der internationalen Bühne offen die Hegemonie der USA herausforderte, deren Rolle damals durch den Vietnamkrieg stark angeschlagen war.

Als ich nach Russland ging, um als Sprecher für Radio Moskau zu arbeiten – eine Radiostation, die ich in Portugal heimlich hörte -, war das für mich der Höhepunkt einer persönlichen Entwicklung, die durch den Kontakt mit der Armut im Alentejo, den Kampf um den 8-Stunden-Tag, den ich als Kind miterlebte und das Mitgefühl für die Gedemütigten und in ihren Rechten Verletzten geprägt war. Dieses Mitgefühl wurde geweckt durch die Soziallehre der katholischen Kirche, insbesondere dem Zweiten Vatikanischen Konzil von 1961, als ich noch 13 Jahre alt war.

Diese katholische Prägung vermischte sich schließlich mit dem kommunistischen Einfluss, als meine Eltern den Alentejo verließen und in die Region Vila Franca [in der Nähe von Lissabon] zogen, um ihren Kindern eine bessere Ausbildung zu ermöglichen, da es im Alentejo zu dieser Zeit keine Universität gab. Die PCP war im Industriegürtel von Lissabon sehr stark und einflussreich, und – auch wenn ich kein Aktivist war – kam ich in jenen Jahren der Partei nahe – sowohl dem Arbeiterflügel als auch den intellektuellen Sektoren – und engagierte mich in der demokratischen Bewegung, sowohl auf legaler als auch auf halblegaler Ebene. Der Eintritt in die juristische Fakultät Ende der 1960er Jahre verstärkte noch diese Verbindung, die in der Militanz im Untergrund gipfelte.

Die Flucht vor der PIDE [Geheimpolizei] und mein Grenzübertritt im Jahr 1971 festigten diese Situation, markierten aber auch eine Grenze: Als ich unter Druck gesetzt wurde, Parteifunktionär zu werden, lehnte ich es ab: Ich stand nicht zur Verfügung, um „die Uniform zu tragen“, wie Pires Jorge formulierte, das Mitglied des Zentralkomitees, das mich anzuwerben versuchte.

Trotzdem willigte ich Ende 1973 ein, nach Moskau zu gehen, weil mir die Stelle als Radiomoderator attraktiv erschien, aber auch, weil das Schuljahr zu Ende ging und ein „Sitzenbleiben“ wahrscheinlich wurde: Es schien mir ein attraktiver Ausweg zu sein, weil er einerseits mir eine berufliche Erfüllung brachte, nach der ich mich bereits sehnte (neben Radio Moskau hörte ich auch immer BBC, die „Emissora Nacional“ und RTP, die Moderatoren fand ich alle zauberhaft), und weil er anderseits mich auch menschlich bereichern könnte. Dies umso mehr, als damals noch nichts auf den 25. April hindeutete: Im Gegenteil, die Opposition gegen das Regime war gründlich vom sogenannten „Marcelistischen Frühling“ enttäuscht und das Regime schien nicht kurz vor seinem Ende zu stehen.

Die Ankunft in der sowjetischen Hauptstadt war eine Enttäuschung: Statt der roten Brasilia, die ich mir vorgestellt hatte, war Moskau immer noch eine sehr schwere, politisch bedrückende, kalte und ungemütliche Stadt, in der allein die Beschaffung der täglichen Dinge Kopfzerbrechen bereitete, mit einem sehr geringen Angebot in verfallenen, leeren, stinkenden Geschäften, in denen man Schlange stehen musste, um das Nötigste zu kaufen, wobei alles oder fast alles auch noch von schlechter Qualität war.

Von da an gab es eine ganze Zeit, in der ich meine eigenen Entscheidungen überdachte, und als einige Monate später der 25. April kam, wollte ich sofort nach Portugal zurückkehren. Schließlich hatte auch ich, wenn auch in geringem Maße, zu diesem Moment der Befreiung beigetragen. Leider war die Partei im Besitz meines Passes und wusste, dass ich den Vertrag erfüllen musste – mindestens ein Jahr -, so dass sie mir das Dokument nicht aushändigte, was mich an der Ausreise hinderte. So konnte ich weder die ersten Tage des 25. April noch den darauffolgenden historischen 1. Mai so erleben, wie ich es mir vorgenommen hatte. Das ist eine bittere Erkenntnis, die ich mit ins Grab nehmen werde, und sie ist auch für immer mit meinen ersten Erfahrungen in Moskau verbunden.

In der Zwischenzeit, zwischen April und November 1974, lernte ich Natacha kennen, meine erste russische Frau, und meine Verbindung zu Moskau verlor zwar den Aspekt der politischen Militanz, gewann dafür an persönlicher und beruflicher Bedeutung.

Das eine Jahr, das ich zwischen November ’74 und November ’75 in Portugal verbrachte, war ein Übergang – politisch hatte ich bereits den Tod in meiner Seele -, und nun wollte ich nach Moskau zurückkehren, nicht wegen der Ideologie, sondern wegen der Liebe und meines Berufs. Ich wollte eine Verschmelzung von Bécauds Versen -„Natalie“ – mit der romantischen Musik und dem Ambiente des Films „Doktor Schiwago“ schaffen.

Diese beiden Aspekte wurden mir zwischen ’74 und ’82 in Moskau bewusst, als ich – auf dem Höhepunkt einer zunehmend kritischen Betrachtung meiner Chroniken – Zielscheibe einer für den Kalten Krieg typischen Polizeibrutalität wurde, einer Episode, die meinen politischen Bruch mit einem bestimmten Russland markierte.

Als ich 1989 zurückkehrte, um den Höhepunkt der Perestroika für den portugiesischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu begleiten, tat ich dies, um die beiden Aspekte, mit denen ich weggegangen war – Beruf und Liebe – zu verstärken, nun aber mit einer demokratischen politischen Vision und nicht mehr mit einer kommunistischen.

All dies hinterließ bei mir widersprüchliche Gefühle in Bezug auf meine Beziehung zu Russland und insbesondere zu Moskau: Enttäuschung, Frustration und Unbehagen auf der einen Seite, aber auch intensive menschliche Beziehungen, persönliches Engagement und eine einzigartige berufliche Chance, eine „Mischung“, die meine gesamte Karriere und sogar mein ganzes Leben prägen sollte.

Heute vermisse ich Russland nicht; Moskau steht auf einem anderen Blatt, aber ich hege auch keine Ressentiments und teile im Allgemeinen die vorherrschende Russophobie nicht.

Aus der Ferne betrachtet ist Moskau (das ich das letzte Mal im Jahr 2000 besuchte, als Putin an die Macht kam), wenn meine Informationen stimmen, heute eine viel ansehnlichere Stadt als in den 70er – und sogar den 90er – Jahren des letzten Jahrhunderts. Und Russland versucht eindeutig, sich vom Trauma des Zusammenbruchs der UdSSR zu erholen. Andererseits glaube ich nicht, dass die europäische Sicherheit durch Konfrontation mit Moskau aufgebaut werden kann, sondern eher durch Verhandlungen, bei denen die Anliegen beider Seiten in diesem und anderen Bereichen berücksichtigt werden und ein für beide Seiten akzeptabler „modus vivendi“ gefunden werden kann.

Wie Sie sagten, waren Sie 1982 in Moskau Ziel eines „für den Kalten Krieg typischen Akts der Polizeibrutalität“. Was genau ist passiert und warum?

Zu der Zeit arbeitete ich schon für RDP – den Nachfolger von „Emissora Nacional“ – und für RTP. Im Jahr 1980 hatte ich bereits über die Olympischen Spiele in Moskau berichtet. Um zu verstehen, was passiert ist, muss man den Kontext berücksichtigen. Als ich 1975, nach der Revolution vom 25. April in Portugal, wieder nach Moskau kam, war die Neugier auf Osteuropa und insbesondere auf die UdSSR groß. Aber es gab auch einen Moment – der bis heute anhält – der Feindseligkeit gegenüber der UdSSR: Die USA hatten die besagten Olympischen Spiele boykottiert, und es gab auch andere Sanktionen gegen die Sowjetunion. Wir waren im Kalten Krieg, und ich befand mich im Spannungsfeld dieser gegensätzlichen Tendenzen (ideologisch, politisch, wirtschaftlich) und musste einen sehr großen Spagat hinlegen, um aus Moskau berichten zu können.

Obwohl ich immer sehr vorsichtig war mit dem, was ich sagte, wurde meine Berichterstattung – entsprechend der Entwicklung in der sowjetischen Gesellschaft selbst – immer kritischer. Infolgedessen begann die kommunistische Presse in Portugal, meine Arbeit offen zu kritisieren. Andererseits übten auch die Sowjets Druck aus: Die Verantwortlichen des sowjetischen Außenministeriums sagten sogar über die in Moskau akkreditierten ausländischen Journalisten, auf amüsanter Weise, dass „diejenigen, die keine Spione sind, bestimmt Journalisten sind“! Ich war kein Spion, aber meine Berichte – viele von ihnen basierten auf Informationen aus der offeneren sowjetischen Presse selbst, wie der Literaturnaia Gazeta – neigten dazu, die Machthaber zu kritisieren.

Dann gab es einen Zwischenfall mit der Polizei vor einem Hotel. Ich stand bereits „unter Beobachtung“, glaube ich. Ich wollte rein, sie ließen mich nicht rein, ich wurde laut und es gab eine Auseinandersetzung mit dem Wachmann vor dem Hotel. Plötzlich kam ein Mann in Zivil aus dem Inneren des Hotels und eine Gruppe verhaftete mich. Ich wurde gewaltsam in ein Auto gezerrt und zum hinteren Teil des Hotels gebracht, wo eine Polizeistation vorhanden war, speziell um das Geschehen im Hotel zu überwachen (es handelte sich um ein internationales Hotel, und die Station war voll mit Überwachungsgeräten ausgestattet), und dort wurde ich brutal angegriffen. Ich sagte ihnen, dass meine Festnahme nicht rechtens sei, dass ich mit meiner Botschaft sprechen wolle, und in diesem Streit traten sie mir hart zwischen die Beine und schlugen mir auf die Leber und die Nieren. Ich musste mich sofort übergeben und fühlte mich zuerst wie betäubt. Erst im Laufe der nächsten 24 Stunden wurden meine Schmerzen immer stärker, bis sie schließlich unerträglich wurden.

Die Botschaft Portugals protestierte, die portugiesischen Zeitungen reagierten ebenfalls, die Zeitung „Expresso“ veröffentlichte einen Leitartikel darüber, kurzum, die Episode führte zu Reibung in den Beziehungen zwischen Portugal und der UdSSR. Durch die portugiesische Diplomatie wurde ich an einen Arzt der britischen Botschaft verwiesen, der mich untersuchte (in der portugiesischen Botschaft gab es keinen Arzt), und über ihn, der einen Arzt in Finnland kannte, wurde ich dann nach Helsinki überwiesen, wo ich etwa zwei Wochen lang im Krankenhaus lag und mit Morphium behandelt wurde!

Ich musste nicht operiert werden, weil mein Körper auf natürliche Weise reagierte, aber es gab Nachwirkungen, die bis heute anhalten. Nach diesem Vorfall rief mich RTP nach Portugal zurück, und ich fuhr nur nach Moskau, um meine Koffer zu packen und abzureisen.

Carlos Fino (rechts) wird im Kreml von Michail Gorbatschow begrüßt, in November 1987. In der Mitte der damalige Präsident der Portugiesischen Republik, Mário Soares (Foto von Wikimedia-Commons, Autor: Luís Vasconcelos)

Zusammenbruch der Sowjetunion

Genau zu dieser Zeit, Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre – ich lebte damals schon in der Bundesrepublik Deutschland – erlebten wir hier in Mitteleuropa eine Phase der massiven Aufrüstung, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, durch die Pershing II (atomare Mittelstreckenraketen), alles angeblich als Gegengewicht zu den russischen SS-20-Raketen, die auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs standen. Wir befanden uns also auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. Ich erinnere mich, dass wir Angst davor hatten, dass ein Atomkrieg ausbrechen könnte – und wir in Deutschland mittendrin im Schlamassel sein würden…

Und eines Tages hatte ich ein privates Gespräch mit einem SPD-Politiker, in dem er mir sagte, dass die Strategie des Westens darin bestand, sich immer mehr aufzurüsten, um die Russen zu zwingen, immer mehr in hochentwickelte Rüstungsgüter zu investieren, mit der Absicht, ihre Wirtschaft zu sprengen und so den Zusammenbruch der Sowjetunion herbeizuführen – was einige Jahre später tatsächlich geschah! Es handelte sich also um eine absichtliche Aufrüstung, um die Sowjetunion unter Druck zu setzen, von der man wusste, dass sie wirtschaftlich nicht in der Lage war, auf demselben Niveau zu reagieren.

Glauben Sie, dass 1991 der Zusammenbruch der Sowjetunion wirklich vom Westen verursacht oder zumindest begünstigt wurde, oder war er eher das Ergebnis der Schwächen der sowjetischen Gesellschaft?

Ich denke, es war damals klar, dass das System nicht tragfähig war. Sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht. Aber das, was Ihr deutscher Gesprächspartner Ihnen anvertraut hat, muss auch dazu beigetragen haben, die Krise zu vertiefen, die bereits in der Sowjetunion selbst herrschte. Die Sowjetunion war in der Tat wie ein Riese, der eine sehr schwere Stange hochhält, aber nicht in der Lage war, das Gewicht zu halten. Sie war ein „hagerer“ Riese, der durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg sehr an Fläche gewonnen hatte, aber das hyperzentralisierte System entsprach nicht den Bedürfnissen der Wirtschaft und der Entwicklung. Die Krise bestand schon seit geraumer Zeit, wurde aber in der Endphase durch die militärische Konfrontation mit dem Westen, zu der bekanntlich auch das sowjetische Abenteuer in Afghanistan gehörte (das Ende der 70er Jahre begann und die gesamten 80er Jahre andauerte und mit dem Abzug der sowjetischen Truppen endete), offensichtlich beschleunigt oder verschärft. Und in diesem allgemeinen Krisenkontext kam es zu Unstimmigkeiten innerhalb der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, als Gorbatschow an die Macht kam und versuchte, einen neuen Weg einzuschlagen, vielleicht einen eher sozialdemokratischen, doch immer noch unter der Kontrolle der KPdSU. Aber Moskau verlor schließlich die Kontrolle über die Situation… und das führte zum Ende der Sowjetunion.

Der Krieg in Afghanistan in den 1980er Jahren wurde von den USA angeheizt, weil sie islamische Gruppen gegen Russland aufstachelten und bewaffneten, darunter auch Osama Bin Ladens spätere Al-Qaida! Es handelte sich also um eine militärische Belagerung der Sowjetunion von der anderen Seite des Globus, die ebenfalls zu einer Schwächung der Sowjetunion beitrug. Welche Rolle spielten in diesem Durcheinander Gorbatschow – der nur kurz an der Macht war – und seine Perestroika, und welche Rolle spielte Jelzin später (als er in den 1990er Jahren die Macht übernahm)? Gorbatschow hat versucht, den Sozialismus und die Sowjetunion zu retten, aber es ist ihm nicht gelungen, und Jelzin hat versucht, Russland auf den richtigen Weg in den Kapitalismus zu bringen, aber auch ihm ist es nicht gelungen, weil er die ungezügelte Privatisierung seines Landes nicht aufhalten konnte… Was haben Sie während Ihrer Zeit dort beobachtet?

Gorbatschow brachte anfangs eine große Hoffnung in Bezug auf Freiheit, auf die Möglichkeit zu atmen und zu sprechen, aber er blieb der kommunistischen Ideologie bis zum Ende treu. Er versuchte ein paar Schritte des Wandels, aber innerhalb dieses ideologischen Kreises. Wie ein hochrangiges Mitglied des KGB damals sagte, machte sich Gorbatschow wie Kolumbus auf die Suche nach Indien und entdeckte schließlich Amerika… Aber erst Jelzin brach wirklich mit dem kommunistischen Regime, und das in einem Umfeld, in dem bereits ein großes Chaos herrschte und mafiöse Gruppen auftauchten. Das Versorgungssystem des Landes brach zusammen, die Preise stiegen, es kam zu Produktknappheit und der Lebensstandard der Bevölkerung sank stark. Jelzin wurde nicht vermisst.

Heute werden beide als Ursache für die nachfolgenden Probleme angesehen und in Russland hat man kein gutes Bild von Gorbatschow, geschweige denn von Jelzin. Dieser ließ die Entstehung von Oligarchen zu, welche große Wirtschaftseinheiten übernahmen, und ermöglichte die Täuschung der Bevölkerung, etwa dass sie, wenn sie Aktien kaufte, davon profitieren würde.

Hier ein Zitat des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Professor der Columbia University, Jeffrey D. Sachs: „1990-1991 war ich Berater von Michail Gorbatschow, und in der Zeit von 1991-1994 von Boris Jelzin und Leonid Kutschma, und habe die letzten Tage der Perestroika und die ersten Tage der russischen und der ukrainischen Unabhängigkeit nach der Auflösung der Sowjetunion begleitet. Ich verfolgte das Geschehen sehr genau. Ich sah, dass die Vereinigten Staaten absolut kein Interesse daran hatten, Russland bei der Stabilisierung seiner Lage zu helfen“. Ist das auch Ihr Eindruck: Der Westen war nicht daran interessiert, Russland dabei zu helfen, sich zu reorganisieren, sondern wollte nur nach dem Motto „the winner takes it all“ so viel wie möglich vom Kuchen abbekommen?

Ich glaube, das ist wahr. Geoffrey Sachs weiß viel mehr darüber als ich, aber das war auch das Gefühl, das ich damals hatte. Und das führte zur großen Enttäuschung der russischen Reformpolitiker: Sie fanden im Westen nicht die Unterstützung, die sie sich erhofft hatten. Das gilt auch für Putin selbst (ab 2000), denn in den 90er Jahren gab es noch eine Annäherung an die NATO durch die Schaffung eines NATO-Russland-Rates, der in Paris tagte, und Russland selbst bat sogar um die Aufnahme in die NATO, was offen abgelehnt wurde. Das Ziel des Westens bestand vielmehr darin, Russland von einer Weltmacht zu einer möglichst schwachen Regionalmacht zu degradieren.

Aus diesem Grund trat Putin im Jahr 2000 auf den Plan. Ich erinnere mich, dass Jelzin den Staffelstab an Putin weitergab, weil er die Lage im Land nicht mehr unter Kontrolle hatte. Putin kam im Januar 2000 an die Macht: Was hat sich seither verändert, und verändert zum Guten oder zum Schlechten?

Was sich änderte, war die Einsicht der russischen Eliten, oder zumindest eines Teils von ihnen (derjenigen, die am engsten mit dem Staat, den Geheimdiensten und den Machtstrukturen verbunden waren), dass die Situation unhaltbar war und dass sie reagieren mussten. Es gibt diese tiefe Enttäuschung über die nicht erfolgte Unterstützung, die sie sich vom Westen erhofft hatten.

Putins Veränderungen führten zu Verbesserungen, so etwas war an einem bestimmten Punkt der Meisterschaft zu erwarten, wie man so schön sagt. Der Rückgang der wirtschaftlichen Macht und des politischen Einflusses, die nicht zu lösenden Widersprüche, waren unhaltbare Zustände. Der Machtantritt Putins, mit dem Ziel die Ordnung wiederherzustellen und die Wirtschaft zu sanieren, wurde daher allgemein von der Bevölkerung begrüßt; anfangs sogar auch im Westen, wo man zu Recht der Meinung war, dass es notwendig sei, die von Jelzin geschaffene Situation wieder in Ordnung zu bringen, dem höchst gefährlichen Chaos in einer Atommachtnation ein Ende zu setzen. Und Jelzin holte auch Putin als sein Nachfolger mit der Bedingung, nicht gegen ihn (Jelzin) und seine Clique zu ermitteln, sie in Ruhe zu lassen. Doch dann gab es auch im Westen eine Wende, als das aufkam, was Analysten eine „unipolare Ära“ nannten, also als die USA begannen, Entscheidungen gegen alle anderen Länder zu treffen nach dem Motto „Ich will, ich kann und ich tue es!“. Ab einem bestimmten Punkt reagierte dann Moskau dagegen.

Zerschlagung Jugoslawiens

Und der Höhepunkt dieser Reaktion war das Umkehren des Flugzeugs von Primakow (russischer Ministerpräsident von 1998-99). Primakow befand sich in einem Flugzeug auf dem Weg in die Vereinigten Staaten, als er die Nachricht erhielt, dass die NATO eine Militäroffensive gegen das ehemalige Jugoslawien starten und Belgrad angreifen wollte; in diesem Moment rief er Al Gore [den damaligen Vizepräsident der USA] an, mit dem er sich treffen wollte, um in letzter Minute zu versuchen, diesen Angriff zu verhindern, aber Al Gore teilte ihm mit, dass er nichts mehr tun könnte, die Würfel seien gefallen. Also befahl Primakow dem Piloten, nach Moskau zurückzukehren, ohne in den USA zu landen. Diese Kehrtwende Primakows markierte buchstäblich einen Wendepunkt in der russischen Außenpolitik nach dem Zusammenbruch der UdSSR. Es war ein Schlüsselmoment, dessen Folgen wir noch heute erleben.

Die NATO bombardierte dann Serbien und forcierte damit die Zerschlagung Jugoslawiens, die in den 90er Jahren bereits voll im Gange war. Sprechen wir über das ehemalige Jugoslawien, ein sehr dramatischer Fall, der sinnbildlich für die Ereignisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 90er Jahren steht. Obwohl Jugoslawien nie ein Teil der Sowjetunion war…

Ja, Jugoslawien war eine Art „Mini-Sowjetunion“, denn in ihr gab es verschiedene nationale Strömungen, die mit ihren Widersprüchen aufeinanderprallten und nur schwer zu bändigen waren. Nur eine hervorragende politische Figur wie Tito konnte sie so lange zusammenhalten. Da die westlichen Länder später begannen, diese Nationalismen, oder interne Regionalismen, zu fördern, zerfiel Jugoslawien schließlich. Der entscheidende Faktor waren jedoch die einseitigen Entscheidungen der USA, keine Rücksicht auf die Interessen Russlands zu nehmen, das seit den Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich eine historische Präsenz auf dem Balkan hatte.

Ich erinnere mich, dass Deutschland – wo ich lebte – damals sehr darauf bedacht war, die Zerschlagung Jugoslawiens zu fördern. Jugoslawien, das bereits ein sehr kleines Land war, wurde in mehrere winzige, autonome Länder aufgeteilt, die zuvor nur Provinzen gewesen waren. War dies eine Form von „teile und herrsche“?

1999 fand der Krieg der NATO gegen Serbien, einem Teil des ehemaligen Jugoslawiens, statt. Es war ein Krieg, der von der NATO außerhalb der Beschlüsse der Vereinten Nationen geführt wurde, mit brutalen Bombardierungen von Belgrad – der Hauptstadt Serbiens – mit dem Hauptziel, die Unabhängigkeit des Kosovo (bis dahin ein integraler Bestandteil Serbiens) zu erzwingen, was der NATO auch tatsächlich gelang… Die USA errichteten daraufhin eine Militärbasis im Kosovo, die heute die größte in Europa ist.

Das ist wahr! Und diese Angriffe waren sogar noch brutaler als die jetzigen Bombardierungen in der Ukraine durch Putin, denn die NATO bombardierte Belgrad fast drei Monate lang, jeden Tag, und zerstörte dabei öffentliche Gebäude, Radio- und Fernsehstudios, Ministerien, Krankenhäuser und sogar die chinesische Botschaft! Die Spezialität der Amerikaner ist übrigens das Bombardieren…

Ironischerweise steht der Separatismus, den der Westen in Jugoslawien förderte, in völligem Gegensatz zu dem Anti-Separatismus, den derselbe Westen und die NATO jetzt im Ukraine-Krieg verteidigen, wo sie unbedingt wollen, dass der Donbass und die Krim in das Herz der Ukraine zurückkehren, obwohl diese Regionen ihre Gründe für eine Abspaltung oder zumindest für eine gewisse Autonomie innerhalb der Ukraine haben. Dies sind zwei verschiedenen Maße für eine ähnliche Situation.

War der brutale Angriff der NATO auf Serbien nicht das erste Zeichen dafür, dass der Westen bereit war, alles zu tun, sogar militärisch zu intervenieren, um sich einen guten Teil des „Kuchens“ zu sichern, der ihm in Südosteuropa „angeboten“ wurde?

Dies war besonders schockierend für Moskau, das historisch gesehen eine spezielle Beziehung zu Serbien unterhält. Es gab immer eine russische Präsenz auf dem Balkan. Und die Tatsache, dass dieser Krieg gegen Serbien auch gegen die Interessen Russlands und ohne Rücksprache mit Moskau geführt wurde, war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Von da an verlor Jelzin seine letzten Illusionen über den Westen. Zu Beginn des Übergangs, Anfang der 90er Jahre, in der Zeit von russischen Außenministern wie Kosyrew und Schewardnadse (letzterer war Außenminister der Sowjetunion und später Präsident der Republik Georgien), gab es sogar einen ähnlichen Slogan wie den von Mário Soares in Portugal nach dem 25. April mit seinem „Europa mit uns!„: in Russland lautete der Slogan „Der Westen hilft uns!„. Später wurde ihnen aber klar, dass es so etwas wie eine Hilfe oder gar einen Dialog nicht gab, weil die USA einfach gaben und nahmen, was ihnen gefiel oder passte.

Von da an öffnet sich die Büchse der Pandora, es kam zur Konfrontation: Wenn – so argumentiert der Kreml – die USA und der Westen ein Land wie Jugoslawien auflösen und ein Land wie Kosovo schaffen können, warum kann Moskau dann nicht auch die Unabhängigkeit Abchasiens oder Ossetiens von Georgien unterstützen? Von da an verfolgt Russland eine Politik der Konfrontation mit der westlichen Politik und spielt auf demselben Spielfeld.

Der Krieg der NATO gegen Serbien im Jahr 1999 hat gezeigt, dass es die NATO war, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion militärische Feindseligkeiten in Osteuropa gegen Russland eingeleitet hat, und nicht Putin 23 Jahre später mit dem Einmarsch in der Ukraine, wie im Westen oft behauptet wird. Dies zeigt auch, dass die NATO einen expansiven und aggressiven und nicht nur einen defensiven Charakter gegenüber Osteuropa hat. Sind Sie mit dieser Aussage einverstanden?

Ich weiß nicht, ob ich diesem Adjektiv zustimme, ob die NATO von Anfang an einen wesentlich aggressiven Charakter hatte, aber es ist eine Tatsache, dass sie den Krieg gegen Serbien vom Zaun gebrochen hat. Es war dieser Moment – der unipolare Moment in der internationalen Politik, der auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgte -, diese US-amerikanische Option des „Ich will, ich kann und ich befehle es“ und des „Wir entscheiden, ohne auf andere zu hören“, die letztendlich dazu beigetragen hat, dass Russland seine Haltung gegenüber dem Westen geändert hat!

Hier geht es zum zweiten und letzten Teil dieses Interviews: Der Krieg in der Ukraine und eine neue Weltordnung

Übersetzt aus dem Portugiesischen von Vasco Esteves und lektoriert von Evelyn Rottengatter vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam. Wir suchen Freiwillige! 


* Carlos Fino:

1948: Geboren in Lissabon, lebt und wächst aber in Alto-Alentejo (Portugal) auf.
1967: Studiert Jura in Lissabon, ist Studentenführer und Mitglied der Kommunistischen Partei im Untergrund und wird als solcher von der PIDE, der politischen Polizei des Faschismus, verfolgt.
1971: Überquert illegal die Grenzen bis Paris und von dort nach Brüssel, wo er bei den Vereinten Nationen den Flüchtlingsstatus erhält.
1973: Übersiedlung in die Sowjetunion, wo er als Sprecher von Radio Moskau für Portugal und die portugiesischsprachigen Länder in Afrika arbeitet.
1974: Ende des Jahres, nach der Nelkenrevolution, kehrt er nach Portugal zurück und arbeitet mit mehreren Zeitungen und der ehemaligen „Emissora Nacional“ (EN) zusammen.
1975: Ende des Jahres kehrt er nach Moskau zurück, diesmal jedoch als internationaler Korrespondent für EN und später für „Rádio Televisão Portuguesa“ (RTP).
1982-1989: Arbeitet für RTP in Lissabon als Reporter, Moderator und Kommentator.
1989-1995: Zurück in Moskau, berichtet als Journalist über den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Demokratisierung Osteuropas: in Russland, Rumänien, Bulgarien, Tschechoslowakei, DDR, Polen und Ungarn, sowie über die Konflikte in Abchasien, Georgien, Berg-Karabach, Moldawien, Tschetschenien und Afghanistan.
1995- 1998: RTP-Korrespondent in Brüssel.
1998-2000: RTP-Korrespondent in Washington.
2000-2004: Berichterstattung über verschiedene Kriege und Konflikte: Albanien, Palästina, Afghanistan, und auch über den Einmarsch der amerikanischen Truppen in den Irak im Jahr 2003, wo er als erster internationaler Reporter Live-Bilder vom Beginn der amerikanischen Bombardierung Bagdads sendete.
2003: Veröffentlichung des Buches „A Guerra em Directo“, herausgegeben von Verbo.
2004-2012: Diplomatische Tätigkeit als Pressereferent der portugiesischen Botschaft in Brasilien während der ersten beiden Amtszeiten von Präsident Lula da Silva.
2013: Er zieht sich aus dem beruflichen Leben zurück und bleibt in Brasilien.
2019: Promotion in „Kommunikationswissenschaften“ an der „Universität do Minho“ in Braga mit einer Arbeit, die später als Grundlage für sein neues Buch „Portugal-Brasilien: Wurzeln der Entfremdung“ diente, das 2021 veröffentlicht wird.
2022: Er kehrt nach Portugal und in „sein“ Alto Alentejo zurück.

Im Laufe seiner Karriere als Journalist hat Carlos Fino zahlreiche nationale und internationale Preise und Auszeichnungen erhalten. Auf Facebook hat er rund 37.000 Follower, Tendenz steigend.