Die Abschaltung des einzigen Kraftwerks im Gazastreifen wird die humanitäre Krise für die mehr als 2,2 Millionen Menschen, die im Gazastreifen eingeschlossen sind, weiter verschärfen. Amnesty International fordert Israel auf, die Blockade des Gazastreifens aufzuheben, von einer kollektiven Bestrafung der Zivilbevölkerung im Gazastreifen abzusehen und humanitäre Korridore zu schaffen.
Die Abschaltung des Kraftwerks im Gazastreifen führt zu einem Stromausfall mit massiven Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Zeitgleich führt Israel Bombenangriffe durch, bei dem bis jetzt mindestens 1350 Menschen getötet und mehr als 6000 Menschen verletzt wurden.
Die Luftangriffe sind eine Vergeltungsmassnahme für den Angriff am 7. Oktober durch die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen aus dem Gazastreifen. Die Hamas und andere palästinensische Gruppen hatten wahllos Raketen abgefeuert und Kämpfer*innen in den Süden Israels geschickt. Bei diesen Angriffen wurden mehr als 1200 Menschen getötet und mehr als 2700 verletzt. Zahlreiche Geiseln wurden brutal in den Gazastreifen verschleppt, darunter viele Zivilist*innen.
«Die israelischen Behörden müssen unverzüglich die Stromversorgung des Gazastreifens wiederherstellen und die verschärften Beschränkungen aufheben, die aufgrund des Erlasses des israelischen Verteidigungsministers vom 9. Oktober 2023 verhängt wurden. Sie müssen zudem die seit 16 Jahren bestehende Blockade des Gazastreifens aufheben. Die kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens kommt einem Kriegsverbrechen gleich. Als Besatzungsmacht ist Israel nach internationalem Recht eindeutig verpflichtet, die Grundversorgung der Zivilbevölkerung des Gazastreifens zu gewährleisten», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
Der Stromausfall wird die anhaltende humanitäre Katastrophe im Gazastreifen noch verschlimmern. Die Kommunikation und der Zugang zum Internet werden dadurch weiter eingeschränkt. Die Stromausfälle werden schwerwiegende Auswirkungen auf wichtige Dienstleistungen und den Zugang zu sauberem Wasser und haben und zu einer Katastrophe im Gesundheitswesen führen, da die ohnehin schon überlasteten Krankenhäuser des Gazastreifens ohne lebenswichtige medizinische Ausrüstung auskommen müssen − und das zu einer Zeit, in der das medizinische Personal Tausende von Menschen behandeln muss, die bei israelischen Angriffen schwer verwundet wurden. Auch das Leben von Krankenhauspatient*innen, einschliesslich chronisch Kranker und Intensivpatient*innen, sowie von Neugeborenen, die lebenserhaltende Massnahmen benötigen, wird dadurch gefährdet.
Humanitäre Korridore gefordert
Ein israelischer Minister sagte heute, dass die Behörden die Stromversorgung nicht wiederherstellen und keine Wasser- oder Treibstofflieferungen zulassen werden, solange die Hamas ihre Geiseln nicht freilässt. Durch diese Aussagen wird ausdrücklich bestätigt, dass diese Massnahmen ergriffen wurden, um die Zivilbevölkerung in Gaza für die Aktionen der bewaffneten palästinensischen Gruppen zu bestrafen. Amnesty weist erneut darauf hin, dass die palästinensische Zivilbevölkerung nicht für die Verbrechen der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen verantwortlich ist und dass Israel sie nach internationalem Recht nicht für Taten büssen lassen darf, an denen sie nicht beteiligt sind und die sie nicht kontrollieren können.
«Die grausame vorsätzliche Tötung israelischer Zivilist*innen und andere schwerwiegende Menschenrechtsverbrechen durch bewaffnete palästinensische Gruppen entbinden Israel nicht von den Verpflichtungen zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts und zum Schutz der Zivilbevölkerung. Die kollektive Bestrafung von Zivilist*innen in Gaza wird weder den Opfern von Kriegsverbrechen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen Gerechtigkeit bringen noch die Sicherheit von Zivilist*innen in Israel gewährleisten», sagte Agnes Callamard.
Amnesty International ist auch besorgt über die wiederholten Angriffe auf den Grenzübergang Rafah. Amnesty International fordert Israel auf, die Einrichtung humanitärer Korridore für die Lieferung humanitärer Hilfe nach Gaza zu erleichtern und Verletzten und Zivilist*innen, die vor bewaffneten Konflikten fliehen wollen, eine sichere Durchreise zu ermöglichen. Die Menschenrechtsorganisation fordert die internationale Gemeinschaft auf, ein Abkommen über humanitäre Korridore zu erwirken.
Die israelischen Behörden müssen von rechtswidrigen Angriffen absehen, bei denen Zivilpersonen getötet oder verletzt und zivile Häuser und Infrastrukturen zerstört werden. Die israelischen Behörden müssen sich von der Aufstachelung zur Gewalt gegen Palästinenser*innen im besetzten Westjordanland, einschliesslich Ost-Jerusalem, distanzieren und die Sicherheit aller unter ihrer Kontrolle lebenden Zivilist*innen gewährleisten. Die bewaffneten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen müssen alle zivilen Geiseln bedingungslos und unverzüglich freilassen.
Amnesty International untersucht derzeit israelische Luftangriffe im Gazastreifen, darunter den Luftangriff auf ein Wohnhaus im Stadtteil al-Zeitoun, bei dem 15 Mitglieder derselben Familie getötet wurden, darunter sieben Kinder − fünf Geschwister und ihre beiden Cousins − sowie ihre Grosseltern; die Zerstörung des Burj Palestine, eines Hochhauses im Stadtteil al-Rimal in Gaza; und die Bombardierung einer belebten Marktstrasse im Flüchtlingslager Jabalia, bei der mindestens 69 Menschen, darunter mindestens 15 Kinder, getötet wurden.
Amnesty International fordert Israel und die bewaffneten palästinensischen Gruppen auf, im Einklang mit ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht alle möglichen Vorkehrungen zu treffen, um Zivilist*innen zu verschonen.
Diese Ausgabe ist Teil einer Reihe von Artikeln von Amnesty International über die eskalierende Gewalt und die Menschenrechtsverletzungen in Israel, im Gazastreifen und den besetzten palästinensischen Gebieten. Amnesty International hat erste Erkenntnisse über Kriegsverbrechen veröffentlicht, die von der Hamas und bewaffneten palästinensischen Gruppen begangen wurden, darunter Massenhinrichtungen im Schnellverfahren, Geiselnahmen und das wahllose Abfeuern von Raketen. Amnesty International wird diese Untersuchungen fortsetzen, um das gesamte Spektrum der nach internationalem Recht begangenen Verbrechen zu ermitteln.
Zu den Hintergründen
Seit 2007 hat Israel eine Luft-, Land- und Seeblockade über den Gazastreifen verhängt und damit die gesamte Bevölkerung kollektiv bestraft. Die aktuellen Kämpfe sind die sechste grössere Militäroperation Israels und der im Gazastreifen ansässigen bewaffneten Gruppen seither.
Am 9. Oktober kündigte der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant − als Teil des israelischen Vergeltungsangriffs nach dem Angriff der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen − eine «vollständige Belagerung des Gazastreifens» an. «Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser, kein Gas – alles ist geschlossen», sagte er.
Amnesty International ist eine unparteiische Menschenrechtsorganisation und setzt sich dafür ein, dass alle an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechtsnormen einhalten. Dementsprechend wird Amnesty International in zukünftigen Briefings die militärischen Aktionen Israels im Gazastreifen untersuchen. Diese Untersuchungen sollen feststellen, ob Israel die Regeln des humanitären Völkerrechts einhält, indem es unter anderem die notwendigen Vorkehrungen trifft, um den Schaden für die Zivilbevölkerung und zivile Objekte so gering wie möglich zu halten, und von ungesetzlichen Angriffen und kollektiven Bestrafungen der Zivilbevölkerung absieht, wie es das Völkerrecht verlangt. Amnesty International wird auch weiterhin die Aktivitäten der Hamas und der bewaffneten palästinensischen Gruppen beobachten.