Pascal Derungs für die Online-Zeitung INFOsperber
Rund 150’000 Ukrainer sollen im Krieg bislang gefallen oder verwundet worden sein. Das Land habe mittlerweile Mühe, für die Gegenoffensive genügend Soldaten zu rekrutieren. Viele Männer im wehrfähigem Alter würden versuchen, ausser Landes zu fliehen oder Rekrutierungsbeamte zu bestechen, um der Dienstpflicht zu entkommen. Doch der Staat wolle keine Kriegsdienstverweigerer dulden. Auf Social Media-Kanälen würden vermehrt Videos auftauchen, die belegen, wie die ukrainische Militärpolizei Männer auf offener Strasse regelrecht kidnappt, um sie unter Zwang an die Front zu schicken. Das berichtet der Videojournalist Max Blumenthal von «The Grayzone».
Blumenthal interviewte den ukrainischen Journalisten und Pazifisten Ruslan Kostaba. Der Antikriegsdissident war wegen seines jahrelangen Widerstands gegen den Krieg seiner Regierung im Donbas und wegen seiner Aufrufe zum Frieden mit Russland brutal angegriffen und während 524 Tagen in Isolationshaft genommen worden. Aus seinem heutigen US-Exil beobachtet Kostaba die wachsende Antikriegsbewegung in der Ukraine und sagt, was seine Landsleute riskieren, wenn sie versuchen, dem Krieg zu entkommen.
«Einseitige Berichterstattung in grossen Medien»
Ruslan Kostaba zeigt sich als Leiter der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung sehr besorgt, dass westliche Medien kaum über dieses Thema und das verfassungswidrige Vorgehen der ukrainischen Behörden berichteten. Sie würden elementare Regeln des Journalismus missachten, indem sie einseitig nur die offizielle Sicht auf den Konflikt übernähmen. Er setze sich auch für Landsleute ein, die sich aus moralischen, humanistischen oder religiösen Gründen weigern, andere Menschen zu töten.
10’000 Dollar koste es im Schnitt, sich bei korrupten Beamten vom Militärdienst freizukaufen. Das könne sich nicht jeder leisten. Viele hätten versucht, über die Landesgrenzen zu fliehen, und seien dabei in Flüssen ertrunken oder von Minen zerfetzt worden. Mittlerweile würden Zehntausende es vorziehen, ein oder zwei Jahre ins Gefängnis zu gehen, anstatt Kriegsdienst zu leisten. Doch auch von diesen würden manche unter Zwang zum Kämpfen an die Front geschickt. In den westlichen Medien sei darüber so gut wie nichts zu erfahren.
Sekretär der Pazifistischen Bewegung zu Hausarrest verurteilt
Im August 2022 wurde der Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, Jurij Scheljaschenkozu Hausarrest verurteilt. Laut Gerichtsbeschluss soll er «Informationen antiukrainischen Charakters» verbreitet haben. Ausserdem habe er staatliche Organe aufgefordert, das Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren aufzuheben. Damit verletze der 42-Jährige Paragraf 114 des Strafgesetzbuches, der eine Störung der ukrainischen Streitkräfte unter Strafe stellt. Er habe auch die ukrainischen Bitten an europäische Länder nach weiteren Waffen kritisiert, da dies, so seine Meinung, zur Eskalation des Krieges beitrage.
Scheljaschenko hatte sich vergeblich gegen den Vorwurf gewehrt, er handle im Interesse Russlands und verharmlose die russische Aggression. In einem Facebook-Post hatte er die «Luftangriffe von Russlands kriminellem Krieg gegen die Ukraine» verurteilt.
«Die Ukraine als Bauernopfer der Grossmächte»
Kostaba spricht dezidiert von einem Stellvertreterkrieg der NATO. In der Ukraine herrsche Krieg zwischen Russland und der NATO, meint Kostaba, finanziert durch die NATO, aber zulasten der Menschen in der Ukraine. Er fordert deshalb nicht nur Putin auf, die Ukraine zu verlassen, sondern ebenfalls die NATO, auch wenn diese offiziell am Krieg nicht direkt beteiligt ist.
Kostaba wirft der ukrainischen Führung vor, diesen Krieg provoziert und nichts unternommen zu haben, um ihn auf diplomatischem Weg zu vermeiden. Präsident Selensky nennt er einen Diktator, der sich nur dank Repression und Kriegszustand an der Macht halten könne. Doch es komme letztlich gar nicht auf Selensky an. Die massgeblichen Entscheidungen würden in Moskau, Washington, Berlin und Beijing getroffen. Dabei gehe es um politische und ökonomische Interessen, nur dafür würde das Blut so vieler Menschen rücksichtslos vergossen. Die USA und die NATO wollten vor allem Russlands Militärmacht schwächen und dabei Rüstungsgüter liefern und daraus auch noch Profit schlagen. Es sei ihnen egal, dass in der Ukraine keine Meinungsäusserungsfreiheit herrsche, keine Bewegungsfreiheit, keine Gewissensfreiheit oder Religionsfreiheit.
«Pazifisten wollen weder töten noch sterben»
Ihm gehe es einzig um Menschenleben, sagt Kostaba. Er und seine ukrainischen Mitstreiter wollten nicht für fremde Interessen sterben oder töten. Er verweist auch auf die Abertausenden von russischen Pazifisten, die aus ihrer Heimat geflohen seien, um dem sinnlosen Töten zu entgehen. Das menschliche Leben sei das oberste Gut. Es dürfe kein Interesse darüberstehen.
Ruslan Kostaba war 524 Tage im Gefängnis
Kostaba war in seiner Heimat 2015 des Hochverrats angeklagt und 2016 in Untersuchungs- und Isolationshaft genommen worden. Vorgeworfen wurde ihm seine regierungskritische Berichterstattung über den Krieg der Ukraine gegen die Separatisten im Donbas. Er hatte kritisiert, dass die ukrainische Armee im Donbas Ukrainer töte und dies einen Bürgerkrieg genannt. Er hatte dazu aufgerufen, den Militärdienst zu verweigern. Dank Interventionen von Amnesty International und dem Europarat kam er nach 524 Tagen schliesslich frei. Er war der einzige, dem attestiert wurde, aus Gewissensgründen gehandelt zu haben.
Nach seiner Freilassung gründete er in der Ukraine die pazifistische Bewegung. Noch vor dem russischen Angriff rief die Bewegung zur friedlichen Beilegung des Konflikts auf. Am 21. September 2022 rief die Bewegung zur Beendigung des Krieges auf.
Die Geheimdienste – so behauptet er – hätten mithilfe von Neonazigruppen Anschläge auf sein Leben veranlasst. Das sei auf Youtube dokumentiert, weil diese Gruppen ihre Gewalttaten filmten und veröffentlichten, um Angst zu schüren und Pazifisten zum Schweigen zu bringen. Bei einem Angriff mit Säure habe er dreissig Prozent der Sehstärke seines rechten Auges eingebüsst. Seine Frau sei aufgefordert worden, sich scheiden zu lassen und einen anderen Namen anzunehmen. Auch seine Kinder seien in der Schule angefeindet worden. Schliesslich musste die Familie ihre Heimatstadt verlassen und nach Kiew umziehen. Heute lebt Ruslan Kostaba als politischer Flüchtling im Exil in New York.