Selenskyj verlangt trotz Ausbleibens eines militärischen Durchbruchs weiter Unterstützung vom Westen, droht andernfalls mit autoritärer Transformation der Ukraine und mit Unruhen ukrainischer Flüchtlinge.
Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, stellt implizit Unruhen ukrainischer Flüchtlinge in der EU in Aussicht, sollte Brüssel Kiew nicht weiterhin unterstützen. Es sei keine „gute Sache“ für Europa, wenn es „diese Leute in eine Ecke treibe“, warnt Selenskyj in einem am Sonntag veröffentlichten Interview. Hintergrund ist die interne Debatte, wie mit dem Ausbleiben des erhofften militärischen Durchbruchs der ukrainischen Streitkräfte zum Asow’schen Meer umgegangen werden soll. Auch ein von NATO-Generälen durchgesetzter Strategiewechsel hat Kiew keinen Erfolg verschafft. Stattdessen ist die Zahl der ukrainischen Kriegsopfer gewaltig; ukrainische Soldaten, die an der Front kämpfen, rechnen nach einem Bericht der Londoner Times mit dem Tod von 90 Prozent ihrer Mitkämpfer. Jede öffentliche Debatte über einen „Plan B“ wird unterdrückt; interne Diskussionen allerdings dauern an. Kiew geht nun – fürchtend, von den Verbündeten fallengelassen zu werden – zu Drohungen über: Es will Polen und die EU wegen eines Einfuhrverbots für ukrainisches Getreide vor ein Schiedsgericht der WTO stellen; Selenskyj zieht zudem dunkel eine autoritäre Transformation der Ukraine in Betracht.
„90 Prozent werden sterben“
Die ukrainische Offensive kommt mehr als drei Monate nach ihrem Beginn immer noch nicht wie gewünscht voran. Nach stark anschwellender Kritik führender NATO-Generäle an der ukrainischen Militärstrategie, die in zunehmendem Maß auch öffentlich vorgetragen wurde – meist über die US-Leitmedien –, setzten die Vereinigten Staaten und Großbritannien Mitte August einen Strategiewechsel durch; eine zentrale Rolle spielten dabei laut Berichten anhaltender Druck von US-Generalstabschef Mark Milley sowie ein Treffen westlicher und ukrainischer Generäle Mitte August an der polnisch-ukrainischen Grenze, darunter NATO-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli, der britische Generalstabschef Tony Radakin und der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj.[1] Die NATO-Generäle hätten dabei darauf gedrungen, die Kräfte an einer Stelle der Front zu konzentrieren und dort den Durchbruch zu erzwingen zu versuchen, „auch wenn die Ukrainer dabei mehr Soldaten und Ausrüstung verlieren“, hieß es in einem Bericht der New York Times.[2] Längst sind die ukrainischen Verluste gewaltig; erst kürzlich schilderte ein ukrainischer Soldat der Londoner Times von der Front, er gehe davon aus, 90 Prozent seiner Einheit würden getötet werden.[3] Der Durchbruch der ukrainischen Truppen zum Asow’schen Meer, mit dem die westlichen Generäle gerechnet hatten, gilt jetzt als unwahrscheinlich.
Plan B: „ein Tabu“
Die militärisch desolate Lage führt zu ambivalenten Reaktionen. Einerseits verhärten sich die öffentlichen Stellungnahmen. Seit sich klar abzeichne, dass der Durchbruch nicht gelinge, wüssten auch westliche Militärs und Politiker nicht recht weiter, hieß es Anfang September in der New York Times; da man aber keine Schwäche zeigen wolle, gebe es faktisch „ein Tabu“, öffentlich über einen Plan B zu diskutieren. Die offizielle Sprachregelung laute, man werde die Ukraine „so lange wie nötig“ unterstützen.[4] Das heißt freilich nicht, dass intern die Diskussionen ausbleiben. Bereits Mitte Juli wurde berichtet, der ehemalige Selenskyj-Berater Oleksij Arestowitsch habe explizit in Betracht gezogen, den Krieg bald durch territoriale Zugeständnisse an Russland zu beenden und als Gegenleistung Moskaus Einwilligung in eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine einzufordern.[5] Dem Vorschlag schloss sich Mitte August vorsichtig der Stabschef von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, Stian Jenssen, an.[6] Arestowitsch und Jenssen wurden unsanft zurückgepfiffen. Am Wochenende hieß es im Londoner Telegraph: „Der Ukraine läuft die Zeit davon“; „nach 18 Monaten Krieg“ sei „nicht mehr die Frage, ob das westliche Bündnis strauchelt, sondern wann“: „Der Westen muss sich auf eine Demütigung vorbereiten.“[7]
Kiew droht mit Klage
In dieser Situation nehmen die Spannungen zwischen der Ukraine und ihren Unterstützern zu – und Kiew, fürchtend, in der Niederlage fallengelassen zu werden, geht in wachsendem Maß zu Drohungen gegenüber dem Westen über. Bereits kürzlich reagierte Kiew überaus scharf auf die Ankündigung Polens, die Einfuhr ukrainischen Getreides weiterhin nicht genehmigen zu wollen. Im Frühjahr hatten vor allem polnische Bauern protestiert, weil sie mit billigem ukrainischem Getreide nicht konkurrieren konnten und herbe Verluste einfuhren. Nach harten Auseinandersetzungen hatte die EU schließlich ein Einfuhrverbot verhängt und damit Bauern aus Polen, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vor harten Einbußen geschützt. Das Einfuhrverbot läuft am Freitag dieser Woche, am 15. September, aus. Polen fordert von Brüssel, es zu verlängern, und hat angekündigt, es notfalls auf nationaler Ebene fortzuführen, auch wenn die EU-Regularien dies eigentlich gar nicht zulassen. Die Ukraine kündigt jetzt Gegenmaßnahmen an. Bereits im August hatte der stellvertretende Leiter des Kiewer Präsidentenbüros, Igor Schowka, erklärt, die ukrainische Regierung behalte sich rechtliche Schritte vor. Zu Monatsbeginn kündigte der stellvertretende Wirtschaftsminister Taras Katschka an, Kiew werde Polen sowie die EU in der Sache, wenn nötig, vor ein Schiedsgericht der WTO bringen.[8]
Schwenk zum autoritären Staat
In einem Interview, das am Sonntag vom britischen Economist publiziert wurde, hat nun der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nachgelegt. Wenn er die westlichen Verbündeten sagen höre: „Wir werden immer auf eurer Seite sein“, dann sehe er in ihren Augen, dass sie am Erfolg der Ukraine zweifelten, dass sie in Wirklichkeit „nicht mit uns“ seien, erklärte Selenskyj: „Wenn Partner uns nicht helfen, heißt das, dass sie Russland zu gewinnen helfen“; „wenn du nicht auf der Seite der Ukraine bist, bist du auf der Seite Russlands.“[9] Der Sieg werde nicht „morgen oder übermorgen“ erzielt werden können. Dennoch verdiene es die Ukraine, zu gewinnen. Der Westen solle sie dabei unterstützen. Er selbst und auch sein Team müssten „bereit“ für einen langen Krieg sein; dieser werde so lange dauern, „wie Russland auf ukrainischem Territorium bleibt“. Selenskyj warnte dunkel, ein langer Krieg werde „eine komplett militarisierte Wirtschaft“ erfordern; dazu sei „ein neuer Gesellschaftsvertrag“ nötig, eine Perspektive, die er der ukrainischen Bevölkerung darlegen müsse. Er sei „moralisch“ dazu bereit, bekräftigte der ukrainische Präsident, ohne im Einzelnen darzulegen, was dieser mutmaßliche Schwenk hin zu einem autoritären Staatssystem bedeuten werde. Dieser könne nur abgewendet werden, wenn der Westen ihn weiter unterstütze, erklärte Selenskyj.
„Die Medien vor sich her treiben“
Der ukrainische Präsident äußerte weiter, der beste Weg, um Regierungen „zu überzeugen“, die Ukraine weiter zu unterstützen, sei es, „sie über die Medien vor sich her zu treiben“; dies sei in puncto Waffenlieferungen stets gut gelungen.[10] Sollte der Westen allerdings seine Hilfe für die Ukraine reduzieren, werde das nicht nur den Krieg verlängern. Es werde zudem „Risiken für den Westen in seinem eigenen Hinterhof schaffen“, wurde Selenskyj zitiert. Denn schließlich wisse niemand, wie die Millionen ukrainischer Flüchtlinge in den europäischen Ländern reagieren würden, wenn ihr Land im Stich gelassen werde. Bislang hätten sich die ukrainischen Flüchtlinge in der EU überaus „gut benommen“ und seien „sehr dankbar“ gegenüber denjenigen gewesen, die ihnen Zuflucht geboten hätten. Es werde aber keine „gute Sache“ für Europa sein, wenn es „diese Leute in eine Ecke“ treibe. Die kaum verdeckte Drohung, Millionen ukrainischer Flüchtlinge gegen die Regierungen der EU aufzubringen, erfolgt – neben der Ankündigung, die EU vor ein Schiedsgericht der WTO zu bringen – zu einer Zeit, zu der die Ukraine offiziell die Aufnahme in die EU anstrebt und dabei schnelle Fortschritte verlangt.
[1] Dan Sabbagh: ‘That’s our guy’: how UK military chief became key Nato liaison in Ukraine. theguardian.com 26.08.2023.
[2] Eric Schmitt, Julian E. Barnes, Helene Cooper, Thomas Gibbons-Neff: Ukraine’s Forces and Firepower Are Misallocated, U.S. Officials Say. nytimes.com 22.08.2023.
[3] Anthony Loyd: Ukraine counteroffensive: ’I’m ready to die… 90% of the guys here will die too’. thetimes.co.uk 05.09.2023.
[4] Steven Erlanger: As Ukraine’s Fight Grinds On, Talk of Negotiations Becomes Nearly Taboo. nytimes.com 01.09.2023.
[5] Robert Clark: Ukraine and the West are facing a devastating defeat. telegraph.co.uk 18.07.2023.
[6] Steven Erlanger: As Ukraine’s Fight Grinds On, Talk of Negotiations Becomes Nearly Taboo. nytimes.com 01.09.2023.
[7] Richard Kemp: Ukraine’s counter-offensive is stalling. The West must prepare for humiliation. telegraph.co.uk 10.09.2023.
[8] Bartosz Brzeziński: Ukraine threatens legal action against EU if grain curbs drag on. politico.eu 01.09.2023.
[9], [10] Donald Trump will “never” support Putin, says Volodymyr Zelensky. economist.com 10.09.2023.