Der Aufklärer und freidenkende Atheist Bertrand Russell hat vor fast einhundert Jahren den Text »Warum ich kein Christ bin« geschrieben. Jetzt ist er als Taschenbuch erschienen. Unbedingt lesenswert – meint Helmut Ortner.
Es ist nicht einfach mit Gott und der göttlichen Wahrheit. Der religiöse Glaube ist zwangsläufig an einen Absolutheitsanspruch gebunden, der keine Abweichungen und Kompromisse verträgt, sonst stürzt das ganze Glaubenskonstrukt in sich zusammen – und damit die Hoffnung auf eine Erlösung und ein Leben nach dem Tod. Und so unterlassen es die enthusiastischen Gläubigen konsequent – mitunter radikal und fanatisch! – den Gottesbeweis zu erbringen. In dieser Warteschleife lebt der gläubige Mensch.
Schon als Siebzehnjähriger war ich zu ungeduldig für diese nebelige, himmlische Warteschleife. Den Hort der „Heiligen Kirche“ habe ich – zuvor noch eifriger Ministrant – auf schnellstem Weg verlassen. Zuviel kam da zusammen: die absurde Apfelgeschichte aus dem Paradies, die kruden Erzählungen von Gottes Leihmutter Maria, vom heiligen Geist und einem doppelten Schöpfer, der aus Jesus und seinem Vater bestand; allerlei abstruse Auferstehungs- und Wundergeschichten, dazu die ständige Sünden-Drohung samt (freilich nicht mehr funktionierender) Erzeugung und Nutzbarmachung des schlechten Gewissens.
Zwei schmale Taschenbücher begleiteten mich bei der Flucht aus ”meiner“ Kirche: Joachims Kahls längst vergessenes Bändchen Das Elend des Christentums und vor allem: Bertrand Russells Textsammlung Warum ich kein Christ bin, beide 1968 bei Rowohlt erschienen. Russell, britischer Philosoph, Mathematiker und Pazifist, widerlegt darin geistreich und unterhaltsam religiösen Irrglauben, dazu liefert er Thesen, die mich damals zum Grübeln brachten. Das Buch wurde zu meinem atheistischen Erweckungserlebnis.
Für Russell ist der christliche Gottesidee mit ihren Moralgeboten und Erlösungsversprechen „eine Lehre der Grausamkeit“, verwurzelt in altorientalischer Despotie und eines freien, selbstbestimmten Menschen unwürdig. Am Beispiel der katholischen Sexualmoral zeigt er uns die Fortschrittsfeindlichkeit der katholischen Kirche und ihr Verhindern von Lebensglück. Vollends mit seinem Rationalismus unvereinbar ist die Angst als Fundament der Religion:
„Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Angst ist die Mutter der Grausamkeit, daher nimmt es nicht Wunder, dass Grausamkeit und Religion stets Hand in Hand gegangen sind“.
Russell hat den Text, der ursprünglich 1927 als Vortrag vor der National Secular Society gehalten wurde, erstmals 1957 zusammen mit etlichen anderen seiner religionskritischen Schriften herausgebracht. Seither ist er in immer neuen Auflagen und Ausgaben zu einem Klassiker der modernen Religionskritik avanciert. Nun ist es bei Matthes & Seitz als kleines, schmales Taschenbuch erschienen. Russell beschreibt die Geschichte des Christentums als eine von flächendeckender körperlicher und seelischer Grausamkeit, von gnadenloser Machtpolitik und Unterdrückung. „Es ergibt die seltsame Tatsache, dass die Grausamkeit um so größer und die allgemeine Lage um so schlimmer waren, je stärker die Religion und je fester der dogmatische Glaube war.” Dass es beinahe einhundert Jahre nach Russells Befund kein Ende damit hat, zeigen die jüngsten Aufdeckungen weltweit verübter Missbrauchsverbrechen von Priestern an Schutzbefohlenen. Eine Kontinuität des Grauens: die Kirche ein religiöses Schreckenshaus, in dem grässliche Dinge passiert sind und passieren. Die Russellʼsche Kritik gipfelt im Vorwurf, dass „die christliche Religion in ihrer kirchlich organisierten Form der Hauptfeind des moralischen Fortschritts in der Welt war und bis heute ist“.
Stattdessen setzt Aufklärer Russel seine Hoffnung auf Rationalität und Intelligenz, um angstfrei im Diesseits zu leben. Wer Gott neben sich wünscht, der sollte dazu bereit sein, den eigenen Verstand auszuknipsen. Zum Beispiel die ungelöste Grundfrage, warum es so viel Grausamkeit und Ungerechtigkeit, Barbarei und Elend auf der Welt gibt, wenn doch alles von einem liebenden und allmächtigen Gott geschaffen wurde? Selbst die intensiv Religiösen tun sich hier mit einer plausiblen Antwort schwer. Sie sind gezwungen, sich dümmer zu stellen, als ihr lieber Herrgott sie geschaffen hat.
Russel geht mit einem Analogie-Beispiel hier auf das altbekannte moralische Theologen-Argument ein, es müsse allein schon deswegen einen Gott geben, damit angesichts der evidenten Ungerechtigkeit in dieser Welt wenigstens im Jenseits für ausgleichende Gerechtigkeit gesorgt ist. Russel kontert bildreich mit einem Wahrscheinlichkeits-Argument: Wer würde bei einer Kiste Orangen, deren obere Lage verdorben ist, schon folgern: „Die unteren müssen gut sein, um das Gleichgewicht wiederherzustellen“. Übertragen auf die reale Welt-Lage spräche das also eher gegen die Existenz eines Gottes als dafür. Wissen statt Glauben, das ist Russels Credo. Statt auf metaphysischem Wahrheits-Anspruch setzt er auf rationale Wirklichkeits-Wahrnehmung.
Die Lektüre des schmalen Bändchens ist unbedingt lesenswert. Dazu trägt auch das kluge Vorwort des gerade verstorbenen Martin Walser mit dem Titel Die Theologie des Mangels. Ein Versuch, Bertrand Russell zu ergänzen bei, in dem er sich vor dem Autor verbeugt und ihn dennoch gerne widerspricht. Zwar stimmt er Russell zu, die Angst sei die Basis aller Religion, doch will Walser ebenso auf die Begrenztheit des Russell´schen rationalistischen Denkens über Gott und Religion hinweisen. Denn: Kann man die epochalen Kunst- und Musikwerke gewordenen „Religionsdenkmäler“ der europäischen Kulturgeschichte wirklich ignorieren, die ihre Schönheit doch vielfach religiösem Ursprung verdanken und gerade bis heute dadurch Trost zu spenden vermögen? Die Lektüre liefert vielfältiges Denk- und Reflexionsmaterial für tiefsinnige Kontoversen über Gott, Götter und ihr irdisches Bodenpersonal. Bertrand Russells Bekenntnistext ist ja ein zeitloser, ja aktueller Text. Nach wie vor lehren Religionen das Fürchten, stehen als Quell für Intoleranz, Gewalt und körperlichem und seelische, Missbrauch einem menschenwürdigen Zusammenleben im Wege. Ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft ist stark und mitunter unheilvoll.
Vielleicht würde der Aufklärer und freidenkende Atheist Russell heute statt über die Wahn- und Gewaltgeschichte des Christentums einen Vortragstext mit dem Titel »Warum ich kein Moslem bin«, schreiben. Es wäre ein wichtiger Text zu rechten Zeit.
Bertrand Russell, »Warum ich kein Christ bin«, Matthes & Seitz, 188 Seiten, 12 Euro