Eine neue Flugschrift von Freerk Huisken nimmt die aktuelle deutsche Nationalmoral und ihre Grundlage ins Visier: eine Friedensordnung, die jederzeit mit dem Übergang zum Krieg kalkuliert.
Dem „Frieden“ kommt in der Propaganda für den Krieg gegen Russland dabei eine prominente Bedeutung zu. Er ist deshalb in aller Munde. Grund genug für den Autor Freerk Huisken, in seiner neuen „Flugschrift“ dem „Frieden“ Kapitel für Kapitel auf den Grund zu gehen, und zwar Schritt für Schritt: In der Propaganda für den Krieg; in der staatsbürgerlichen Vorstellungswelt; in der Zeitenwende-Friedensbewegung; in den diversen Friedensappellen; und in der Realität des seit 1945 herrschenden, regelbasierten Weltfriedens. Der Titel der Flugschrift: „FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass“ ist somit Programm und liefert entlang der vorgestellten Kapitel-Schritte eine messerscharfe Kritik des „Friedens“ als Rede wie als Idee und als Realität des heutigen Weltzustands.
Das allerdings gleich vorweg: Der begrenzte Rahmen einer Rezension kann nur versuchen, ein paar grosse Linien in einer inhaltlich so dichten Schrift wie der vorliegenden nachzuzeichnen. Den am Thema Interessierten sei deshalb diese Schrift zur eingehenden Lektüre empfohlen.
Friedensmoral und Volksverdummung – das Gute und das Böse
Ihren Ausgang nimmt die vorgelegte Kritik beim gegenwärtigen Geisteszustand der Nation: „Dass eine offensive Kriegsanteilnahme grosser Teile der Deutschen mit darin eingeschlossener antirussischer Parteilichkeit sich quasi über Nacht entwickelt hat, dass die Bürger überdies in geradezu unheimlicher Weise auf deren Ausschliesslichkeit beharren und andere Auffassungen nicht etwa mit dem Verweis auf »unseren« Wert der Meinungsfreiheit als zwar ziemlich abartige, aber gerade noch geduldete Meinung zulassen, sondern sie sofort als ungehörige, deshalb unzulässige, weil das Volk der Ukrainer verratende Einstellung angreifen, das scheint auf den ersten Blick für sich recht unerklärlich zu sein.“ (S. 23) Ist es aber nicht, denn die staatliche und massenmediale Propaganda für den Krieg gegen Russland, inszeniert von den westlichen politischen Entscheidungsträgern über Krieg und Frieden, hat in den 18 Monaten ihrer Rund-um-die-Uhr-Tätigkeit einen durchschlagenden Erfolg erzielt.
Das Geheimnis dieses Erfolgs, so die Kritik, ist zum Einen durch die pur moralische Propaganda in Sachen Krieg und Frieden zu erklären: Demnach sind westliches staatliches Gewaltmonopol, dessen Politik und die dazu gehörenden Herren (auch Herrinnen) über Krieg und Frieden die Inkarnation des Guten und des guten Willens: mit nichts anderem beschäftigt, als um den „Frieden“ in der Welt, den „Wir“, die Guten doch alle wollen, zu ringen, den das absolut Böse, heute in Gestalt Putins, einfach nicht will. Warum? Weil es eben das Böse ist, das genügt. Jede weitere Frage nach dem Grund, warum das Böse den Frieden nicht will, hat sich und ist damit erledigt (siehe die Ausführungen zur parteilichen Haltung der Mehrheit der westlichen Bevölkerungen hinsichtlich des Ukrainekriegs gegen das bekanntlich aggressive Böse aus dem Osten, S. 10-22).
Der eine Teil der Verdummung des Volkes ist damit schon mal gelungen, nämlich mit dem Übergang zur Bereitschaft der Mehrheit der Bevölkerung in eins mit den für Krieg und Frieden politisch allein zuständigen Damen und Herren, den gebrochenen oder immerzu gefährdeten Frieden zu „verteidigen“, wieder herzustellen oder zu erkämpfen – selbstredend mit aller Gewalt und mit allen erdenklichen (Vernichtungs-)Mitteln: „Frieden, der mit Gewalt gesichert wird.“ (S. 9-10). Die politische und massenmediale Rechtfertigung des gerechten Krieges und der gerechten Gewalt gegen das moralisch Hässliche, Verabscheuungswürdige, Schuldige und zu Verurteilende ist konstitutiver Teil der Verdummung des Volkes schon in Friedenszeiten, dies eine der Kernaussagen der ersten Kapitel.
Erloschen ist mit der erfolgreichen moralischen Propaganda für den Krieg zum anderen jede rationale, eine objektive Erklärung suchende Frage nach der seltsamen Natur eines Friedens in der Welt, den jeder vernünftige und wohlmeinende Mensch nur wollen kann und der doch stets gefährdet ist. Stillgelegt ist zugleich die Warum-Frage nach den Interessen, die die eigene Staatsgewalt, die heimische Politik und die heimischen politischen Verantwortungs- und Entscheidungsträger über Krieg und Frieden so verfolgen – gerade dann, wenn sie mit aller Kriegsgewalt um den Frieden ringen. Das verdeutlicht die vorliegende Schrift durchgängig am Beispiel des gegenwärtigen Krieges: Wer da ganz unvoreingenommen und naiv nach einem „Warum“ dieses Krieges fragt, ist moralisch so gut wie erledigt (vgl. S. 12f.).
Und ganz prinzipiell gilt auch und gerade für die demokratisch-pluralistisch geführte moralische Kriegs-Propaganda: „Korrekte Antworten auf diese Warum-Fragen sind deshalb nicht zu erwarten. Man kann also festhalten: Die moralische Befassung mit dem Krieg ist identisch mit einer Weigerung, sich irgendeinen freien Gedanken über politische Anliegen von hochgerüsteten Staaten und ihre Gründe dafür zu machen, warum sie sich im Krieg mit wechselseitiger Zerstörung von Menschenmassen, Rüstungspotenzial, Infrastruktur usw. Niederlagen beibringen wollen.“ (S. 12)
Das ist eine für die politisch Entscheidungsbefugten über Krieg und Frieden sehr funktionale Haltung und Gesinnung bei der Mehrheit der Bevölkerung. So können sie die gewaltsame Wiederherstellung des allerdings äusserst „kriegsträchtigen“ Friedens (vgl. dazu das erhellende Hauptkapitel „Friedensordnung“, S. 92-147) mit der Zeitenwende ungestört in Angriff nehmen.
Zu erklären ist also, warum die moralische Propaganda für den (Ukraine-) Krieg auch im demokratisch geführten Gemeinwesen, im abendländischen, im NATO-vereinigten „Wir“ mit pluralistischer Öffentlichkeit so glänzende Erfolge feiern kann – So wie es beispielsweise auch zu Zeiten des Nationalsozialismus geschah, der seinen Krieg ebenfalls nur führen konnte, weil die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Überzeugung war, nur die gerechte Gewalt des gerechten Krieges sichere den „Frieden“ und damit die „Zukunft“ des deutschen Staates gegen die Saat des Bösen im und aus dem Osten. Warum also der Erfolg der gegenwärtigen Kriegspropaganda? Woher die gleichsam unerschütterliche Überzeugung, der Westen, insbesondere das eigene staatliche Gewaltmonopol und seine politisch Verantwortlichen seien grundsätzlich die Inkarnation des Guten und des guten Willens, nur darum bemüht, den „Frieden“ zu sichern?
Dass es so ist, dass ein „kriegsträchtiger“ Frieden tatsächlich eine ständige Bedrohungslage darstellt, die der eigene Staat hervorbringt, nehmen, so die Kritik der Flugschrift, die demokratischen Propagandisten dabei zum Argument, um den staats-idealistischen, den patriotischen Friedens-Idealismus der Bevölkerung zu bedienen: um sich eben diesen Friedens-Idealismus zu Nutze zu machen. Der wird denn auch in seiner moralischen Haltung und Gesinnung nebst seiner Opferbereitschaft ziemlich kriegswillig und kriegsbereit. Der Friedens-Idealismus hat seinen ersten und letzten Grund im Staats-Idealismus oder Patriotismus der Bevölkerung, ist deshalb der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Kritik des Friedens.
Patriotischer Friedens-, Staats- und Politik-Idealismus
Adressat der gegenwärtigen moralischen Propaganda für den (Ukraine-)Krieg ist das demokratische, das staatsbürgerliche Bewusstsein und Selbstbewusstsein der Bevölkerung. Dieses ist Resultat der praktischen und gedanklichen Leistung, seine augenscheinlich alternativlose Unterwerfung unter die politische Gewalt hinzunehmen, anzuerkennen und sich auf diese Weise in den staatlich eingerichteten und somit vorgefundenen Gegebenheiten einzurichten – und zwar als Grundlagen der eigenen Existenz und des (Über-)Lebens. So verwandelt und idealisiert das staatsbürgerliche (Selbst-)Bewusstsein die heimatliche Gewalt, in die es hineingeboren ist und der es fraglos „angehört“, in ein Mittel seines Daseins und Zurechtkommens.
Diesem aus praktischen Realismus geborenen Ideal folgend sind heimatliche politische Gewalt und demokratische Herrschaft um seinetwillen da und gewähren ihm ja auch sein Dasein, seine ihm zugestandene Freiheit. Idealerweise, dem moralischen Sollen und guten Willen nach, sorgt das heimische Gewaltverhältnis für den „Frieden“ als Grundbedingung des Existierens seines Volks. Huisken: „All das hat jenen Bürgern eingeleuchtet, die sich in der Abhängigkeit von staatlich gesetzten Lebensbedingungen nicht nur eingerichtet, sondern diese Abhängigkeit als ihr per Staatsgewalt geschütztes Lebensmittel ganz praktisch angenommen haben… So ist es ihnen längst zur Gewohnheit geworden, in nationaler Politik, die Deutschland voranbringen soll… letztlich und irgendwie immer auch ein Stück Sicherung eigener Lebensbedingungen zu erblicken… In Kriegszeiten wird diesem vaterländischen Denken deutscher Bürger, man sagt auch Nationalismus dazu, etwas mehr, nämlich der Schulterschluss zwischen Volk und Führung abverlangt. Das Vaterland hat ihnen dann als die Verkörperung einer Schutzmacht für alle Werte, die die Nation ausmachen, zu gelten.“ (S. 24f.)
Als diese „Schutzmacht“ des moralisch idealisierten Friedens, des Friedens als einer pur moralisch gewendeten Abstraktion in der Vorstellung des staatsbürgerlich-patriotischen (Selbst-)Bewusstseins, rufen die gegenwärtigen Friedensbewegten, die Reste der ehemaligen stolzen deutschen Friedensbewegung, ihren heimatlichen politischen Produzenten des allgegenwärtigen „kriegsträchtigen“ Friedens an (vgl. S. 33-53) und werden – im Fall des Falles – über diesen „kurzen Weg vom Pazifisten zum Anhänger der deutschen Kriegspolitik“ (S. 54-58). In diesem Geist der Idealisierung äussern sich die Friedensappelle von links, von rechts und aus der “Mitte der Gesellschaft“, wobei die AfD den antiamerikanisch gewendeten Nationalismus deutscher Souveränität hervorhebt (vgl. S. 59-83).
„Kurzum“, so Huisken: „Was auf den ersten Blick als fast unerklärliche Wende im Denken von Deutschen erscheint, ist auf den zweiten so unerklärlich nicht… Angesichts des aktuellen Schulterschlusses zwischen grossen Teilen des Volkes und der politischen Führung kann es auch kaum verwundern, dass deutsche Bürger massenhaft selbst der Scholzschen »Zeitenwende« mit ihrem 100 Mrd.-Etat für zukünftige Aufrüstung folgen.“ (S. 26f.)
Der kriegsträchtige, der wirkliche Frieden
Von der gnadenlosen Realität, der wirklichen, der von der Pax Americana und der NATO seit 1945 weltweit institutionalisierten und durchgesetzten, regelbasierten Weltwirtschafts- und -friedensordnung, die tagtäglich den äusserst kriegsträchtigen Frieden produziert und reproduziert, weshalb der Weltfrieden als trostlos-unbegriffenes Ideal im staatsbürgerlichen (Selbst-)Bewusstsein figuriert und die in seinem Namen vollbrachten Schlächtereien konstruktiv begleitet, handelt der grundlegende Hauptteil dieser ins Schwarze treffenden Flugschrift. (S. 92-147)
Um es abschliessend mit dem Resümee Huiskens zu sagen: „Dass ‚der Westen‘ die freiheitliche Friedensordnung im Ukrainekrieg verteidigt, ist also keine Lüge, sondern kapitalistische Wahrheit. Die Lüge liegt allein in der moralischen Schönfärbung dieser Friedensordnung zu einem Hort der schönsten Werte. Es geht dem Westen in diesem Krieg um die Wiederherstellung von ‚zivilen Beziehungen‘ im kapitalistischen Verkehr zwischen Staaten, für den die USA ein Russland mit eigenen imperialistischen Ansprüchen auch dann nicht dulden wollen, wenn die vergleichsweise begrenzt sind.
Die als ‚zivil‘ gefeierte Friedensordnung, auf die es dem Westen ankommt, existiert, wie in den letzten Jahrzehnten nur allzu deutlich geworden ist, als Konkurrenz von Staatsgewalten auf dem Weltmarkt, mit Interessen, die gegensätzlicher kaum sein können. Dabei geht es jeder dieser Gewalten gegen die Konkurrenten um dasselbe: Sie wollen fremden Reichtum für sich erwirtschaften, der die ökonomische Grundlage für die Sicherung und den Ausbau der eigenen Staatsmacht, besonders auch seiner Machtmittel darstellt. Von vorneherein ist diese Ordnung kriegs-trächtig…“. (S. 146)
Freerk Huisken, FRIEDEN. Eine Kritik. Aus aktuellem Anlass. Flugschrift. VSA, Hamburg 2023. 154 Seiten. ISBN 978-3-96488-193-9.