Die Solidaritätsprämie ist eine österreichische Arbeitszeitreduktionsmaßnahme. Anhand einer Fallstudie in einem Industrieunternehmen wird deren Auswirkung auf den privaten Bereich – die Haus- und Sorgearbeit, die primär von Frauen geleistet wird – untersucht. Dabei stellt sich die Frage, ob Sorge- und Hausarbeit tatsächlich fairer zwischen den Geschlechtern verteilt wird und Frauen somit ihre Erwerbsarbeitszeit steigern können, wenn Männer ihre Erwerbsarbeitszeit reduzieren. Die Fallstudie zeigt, dass die Erwerbsarbeitszeiten der Frauen zwar steigen, der direkte Einfluss auf Sorge- und Hausarbeit jedoch bloß gering ist. Um strukturellen Ungleichverteilungen entgegenzuwirken, braucht es deswegen ergänzend umfangreiche Gleichstellungspolitik.
von Sidonie Ulreich
Haus- und Sorgearbeit als Hindernis für Erwerbsarbeit
Zwei Drittel der österreichischen Sorge- und Hausarbeit wird von Frauen verrichtet, ein Drittel von Männern. Bei Erwerbsarbeit ist es genau umgekehrt: 61 Prozent der bezahlten Arbeit wird von Männern ausgeübt und 39 Prozent von Frauen. Österreich hat Europas dritthöchste Teilzeitrate, die meisten der Teilzeitarbeitenden sind verheiratete Frauen. Haus- und Sorgeverpflichtungen bestimmen, ob Frauen auf den Arbeitsmarkt gelangen und/oder dort bleiben können. Geringere Erwerbsarbeitszeit führt wiederum zu ökonomischen Abhängigkeiten und geht mit einem geringeren Einkommen einher. Frauen haben dadurch einen höheren Pension-Gap und sind einer höheren Armutsgefährdung ausgesetzt. Um dem entgegenzuwirken und bezahlte und unbezahlte Arbeit umzuverteilen, wird nicht selten die Maßnahme Arbeitszeitverkürzung vorgeschlagen. Studien haben bereits ergeben, dass Arbeitszeitreduktion viele positive Effekte auf körperliche und mentale Gesundheit, Erholung, Familienzeit, Work-Life-Balance und Produktivitätsraten aufweist. Es war jedoch bis dato unklar, welche Einflüsse diese auf die tatsächliche Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen den Geschlechtern und somit auf geschlechtliche Ungleichheiten hat. Deshalb wurden im Zuge einer Fallstudie in einem großen österreichischen Industrieunternehmen mit Mitarbeitenden mögliche Auswirkungen von Arbeitsreduktionsmaßnahmen untersucht.
Die Solidaritätsprämie in der Industrie AG
Die im Jahr 2000 eingeführte Solidaritätsprämie ist ein Mix aus einer Arbeitszeitreduktionsmaßnahme und einer aktiven Arbeitsmarktpolitik. Die Teilnahme eines Betriebs ermöglicht es den Mitarbeitenden (Solidaritätsarbeitskräfte), ihre Normalarbeitszeit zu reduzieren. Die Stunden, die dadurch frei werden, werden mit einer vormals arbeitslosen Person oder einem überbetrieblichen Lehrling (Ersatzarbeitskräfte) besetzt. Die Solidaritätsprämie wird über zwei Jahre vom AMS gefördert (drei Jahre, wenn die Ersatzarbeitskraft älter als 45 Jahre ist, langzeitarbeitslos ist oder eine Behinderung hat). Es entstehen keine finanziellen Nachteile, denn die Solidaritätsarbeitskraft erhält 50 Prozent der Einkommenseinbuße und der Betrieb erhält die anfallenden Sozialversicherungskosten. Folgende Grafik erläutert die Solidaritätsprämie: Vier Arbeitnehmende reduzieren ihre Wochenstunden von 40 auf 32, erhalten jedoch einen Lohn für 36 Stunden und eine neue Stelle von 32 Stunden wird frei.
2005 hat die Industrie AG (der Name des untersuchten Unternehmens wurde anonymisiert) begonnen, die Solidaritätsprämie zu implementieren, um ihre Schichtmodelle von 38,5 auf 34,4 Wochenstunden umzustellen. Dadurch konnten 250 vormals arbeitslose Personen eingestellt werden.
Traditionelle Rollenbilder sind schwer aufzubrechen
Vier heterosexuelle Paare mittleren Alters mit Kindern – männliche Solidaritätsarbeitskräfte in der Industrie AG und deren weibliche Partnerinnen – wurden im Zuge der Fallstudie befragt. Folgende Ergebnisse waren dabei feststellbar: Durch die Teilnahme verbringen die Solidaritätsarbeitskräfte mehr Zeit mit ihrer Familie und das Familienklima wird durch ihre Stressreduktion besser. Bei der Aufteilung von Sorge- und Hausarbeit übernehmen Männer Tätigkeiten, die sie schon vor der Teilnahme gemacht haben, häufiger. Sie unterstützen meist ihre Partnerin und verrichten manchmal neue kleine Aufgaben. Die Untersuchung zeigt, dass ihre Tätigkeiten jedoch immer der traditionellen Rollenverteilung entsprechen. Wie beispielsweise: Gartenarbeit, Reparaturarbeiten, Reifenwechsel, Mist hinaustragen, mit den Kindern Zeit draußen verbringen. Eine oft genannte Aufgabenaufteilung sieht so aus: „Das Haus gehört ihr und der Garten mir.“
Die Aufgaben der befragten Frauen umfassen neben körperlichen Tätigkeiten, wie putzen, aufräumen, die Kinder fertig machen für Schule/Kindergarten, auch unsichtbare mentale und emotionale Arbeit – organisieren, planen, einteilen, den Überblick behalten, trösten, die Ansprechperson sein etc. Die Interviewpartnerinnen sind für den gesamten zusammenhängenden Prozess und den Zeitplan jedes einzelnen Familienmitglieds verantwortlich. Während sie alles von ihrer geistigen To-do-Liste („Mental Load“) abhaken, gehen sie zusätzlich einer Erwerbsarbeit nach, somit sind sie einer Doppelbelastung ausgesetzt. Diese ist wiederum nur teilweise sichtbar für ihre Partner, einerseits wegen der nicht zur Gänze sichtbaren Haus- und Sorgearbeit und andererseits, weil der Erwerbsarbeit des Mannes ein höherer Wert zugeschrieben wird, wie unter anderem eine Interviewpartnerin erläutert: „(…) eigentlich alles, was sich um das Kind dreht, macht automatisch die Mama. Obwohl ich nicht viel weniger Arbeitsstunden habe als er. Aber das ist so automatisch, und was eigentlich gar nicht gesehen wird, auf das verlässt man sich dann einfach.“
Die Erwerbsarbeit des Mannes ist zentral
Die Erwerbsarbeit des Mannes steht im Mittelpunkt der Familie, wie unter anderem eine Interviewpartnerin betont: „Es hat sich eigentlich alles nach seiner Schicht gerichtet.“ Die Interviewpartner porträtieren ihre Erwerbsarbeit anders als die ihrer Partnerin, sie verdienen mehr, arbeiten mehr Stunden und alle Partnerinnen waren in Karenz. Das verfestigt das vorherrschende Bild, dass die Erwerbsarbeit des Mannes einen höheren Stellenwert hat als die der Partnerin. Die Erwerbsarbeit der Frau steht in einem direkten, einseitigen Verhältnis zur Erwerbsarbeit des Mannes: Durch seine Teilnahme an der Solidaritätsprämie kann sie ihre Erwerbsarbeitszeit erhöhen. Allerdings ist die Aufstockung stets abhängig von Kinderbetreuungseinrichtungen, dem Alter der Kinder und pflegebedürftigen Angehörigen. Das bestätigt die noch immer gesellschaftlich vorherrschende Rolle des Mannes als Ernährer und der Frau als Zuverdienerin. Bei der unbezahlten Haus- und Sorgearbeit ist es genau umgekehrt, die Frau übernimmt die meiste Arbeit und der Mann hilft mit. Frauen können sich, wenn, dann nur temporär aus der Verantwortung nehmen. Beispielsweise bei besonderen Anlässen wie z. B. dem Muttertag, bei vorher angekündigten Betriebsausflügen, Krankheit.
Individualisierung von Rollenbildern
Aufgrund der vorherrschenden Rollenverteilung wird jegliche Hilfeleistung der interviewten Männer im Haus- und Sorgebereich mit viel Lob und Dank angenommen. Die unbezahlte Arbeit des Mannes wird ausführlich beschrieben und aufgewertet, sodass zuerst scheint, als ob sich die historische Ungleichheit durch die Solidaritätsprämie verändert hätte. Jedoch wird bei genauerem Nachfragen die unsichtbare Arbeit, der Mental Load und die Doppelbelastung der Frau dennoch nicht gesehen. Männer geben zwar zu, dass ihre Partnerinnen die meiste unbezahlte Arbeit leisten, aber damit sind meist nur die sichtbaren Tätigkeiten gemeint. Die Frau erhält kaum Lob oder Dank dafür, dass sie die ganze Familie am Funktionieren hält. Der Mann, der beispielsweise die Wäsche aufhängt, weil die Frau ihn darum bittet, bekommt jedoch Lob und Dank.
Die Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit und geschlechtliche Rollenbilder haben sich im öffentlichen Diskurs verändert. Die Frau als Vollzeithausfrau gilt als überholtes Bild der 60er Jahre. Deshalb argumentieren die untersuchten Paare nicht mehr damit, ihre Rollen zu erfüllen, sondern individuelle Entscheidungen zu treffen: „Die Aufteilung hat sich so ergeben, die Frau kann nun mal schneller und präziser putzen, der Mann ist weniger geduldig bei der Hausaufgabenbetreuung etc.“
Freizeit als entschleiernder Aspekt von Ungleichheiten
Durch die ausführlich beschriebene Aufwertung der geleisteten Haus- und Sorgearbeit des Mannes und die Behauptung, dass die Aufteilung schon so passt, wie sie ist, wird die Ungleichheit auf den ersten Blick nicht sichtbar gemacht. Die alltägliche Routine verschleiert die ungleichen Strukturen und die unbezahlte Haus- und Sorgearbeit wird als Akt der Liebe abgestempelt, so wie ein Interviewpartner veranschaulicht: „(…) [ihre] Hobbys sind eher die Kinder. (lacht) (…), dass das Haus sauber ist, picobello, das ist eher so ihr Ding, dass alles gepflegt ist. Das macht sie einfach gerne.“ Unter dem Schleier der Routine herrscht jedoch Ärger seitens der Frauen. Wenn über die Aufteilung gesprochen wird, wird die Ungleichheit greifbar und Ärger über die Doppelbelastung, die kaum gesehen wird, wird spürbar. Beispielsweise mit Aussagen wie: „(…) dass er auch mal abwaschen könnte (lacht). Vielleicht staubsaugen, weil das wäre ja auch nicht so schwer (lacht).“ Oder: „Es ist wirklich nur ein Wunsch, aber, dass das nicht nur an mir hängen bleibt.“
Die Teilnahme an der Solidaritätsprämie hätte Änderungen im privaten Bereich mit sich bringen können, behaupten die männlichen Solidaritätsarbeitskräfte. Allerdings fehlt der innerliche Antrieb, mehr zu leisten, weil der Großteil der Haus- und Sorgearbeit sowieso von ihren Partnerinnen übernommen wird. Männer erlangen durch die Solidaritätsprämie mehr Freizeit, übernehmen jedoch nicht mehr Care-Tätigkeiten zu Hause. Prinzipiell herrscht ein unterschiedlicher Zugang zu Freizeit bei Männern und Frauen. Männer sprechen klar von ihrer Freizeit und nutzen die neugewonnene Zeit für Hobbys und ihren Ausgleich. Dadurch, dass die Erwerbsarbeit des Mannes zentral ist, besteht das vorherrschende Bild in der Familie, dass ihm die Freizeit zusteht. Frauen hingegen behaupten, fast keine oder gar keine Freizeit zu haben, vor allem wenn die Kinder noch klein sind. Die Ausgestaltung der Freizeit passt sich an, wenn Sorgeverpflichtungen abnehmen, beispielsweise weil die Kinder älter sind und/oder es keine pflegebedürftigen Angehörigen gibt. Somit schafft es die Solidaritätsprämie, durch die neugewonnene Freizeit aufzudecken, worüber sonst wenig gesprochen wird, und kann die ungleiche Aufteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit entschleiern.
Die Solidaritätsprämie braucht Gleichstellungspolitik, um geschlechtergerecht zu wirken
Obwohl der direkte Einfluss der Solidaritätsprämie auf die Aufteilung von (un-)bezahlter Arbeit bei heterosexuellen Paaren mittleren Alters mit Kindern in der Industrie AG nur sehr gering ist, ist sie trotzdem ein wichtiger Bestandteil, um sozioökonomischen Problemstellungen wie Umverteilung von Erwerbsarbeit, Senkung von Arbeitsunfällen und Steigerung von psychischem und physischem Wohlbefinden zu begegnen.
Die Fallstudie hat Einblicke in die privateste Sphäre ermöglicht und zeigt auf, dass individuell nur wenig bei der strukturellen Ungleichverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit getan werden kann. Deswegen braucht es Arbeitszeitreduktionsmaßnahmen und begleitend andere gleichstellungspolitische Maßnahmen wie verpflichtende Vaterkarenz, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, Einkommenstransparenz, ausgebaute Kinderbetreuung, Elementarbildung, ein Steuer- und Sozialversicherungssystem, das die partnerschaftliche Teilung und wirtschaftliche Umverteilung fördert, sowie einen Begriff von Arbeit, der Sorge- und Hausarbeit als gleichwertig mitumfasst, um zu einer gerechteren Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit beizutragen.
Dieser Beitrag basiert auf der von Sidonie Ulreich verfassten Masterarbeit „The ‘Solidaritätsprämie’ – A case study of a working time reduction policy. How the Solidaritätsprämie redistributes paid and unpaid work between women and men“. Die Arbeit entstand im Rahmen des Programms Socio-Ecological Economics and Policy an der Wirtschaftsuniversität Wien und wurde gefördert von der Arbeiterkammer Wien.
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