Angesichts des seit über einem Jahr dauernden Krieges in der Ukraine und den gegen Russland gerichteten westlichen Sanktionen richtet sich die Aufmerksamkeit der internationalen Medien und Experten fast ausschließlich auf die russische Seite. Die realen Zustände in der Ukraine hingegen werden vom westlichen Medien-Mainstream bislang eher selten oder kaum ausführlich thematisiert. Dabei ist die Entwicklung in diesem Krisenland unlängst besorgniserregend, vor allem was die Bevölkerung und die Wirtschaft angeht. Denn diese Bereiche sind unlängst in einem Niedergang begriffen.
von Alex Männer
Grundsätzlich ist zu betonen, dass dieser Niedergang nicht erst mit dem russischen Einmarsch 2022 eingesetzt hat, sondern bereits viel früher. Schon mit der Auflösung der Sowjetunion wurden in den frühen 1990er Jahren die ersten alarmierenden negativen Erscheinungen deutlich – vor allem in der Wirtschaft und bei der Demografie –, die sich im Laufe der Jahre zum Leidwesen der Ukrainer zunehmend verschärften. 2014 hat sich die zu dem Zeitpunkt schon seit Jahren bestehende negative Entwicklung in beiden Bereichen allerdings um ein Vielfaches verstärkt, nachdem die nach einem blutigen Umsturz in Kiew im Zuge des sogenannten „Euromaidan“ an die Macht gekommene neue ukrainische Führung beschlossen hatte, „den Weg nach Europa zu gehen“, komme was wolle. Dabei ging es primär um die Annäherung zur Europäischen Union und der Nordatlantischen Militärallianz, mit der Perspektive auf einen Beitritt in diese beiden Blöcke.
Bei ihrem unerbittlichen Kurs Richtung EU- und NATO-Mitgliedschaft nahm die ukrainische Regierung offen keine Rücksicht auf die Interessen ihrer Bevölkerung, was im Zuge der postmaidanen Entwicklung praktisch sofort zu blutigen Spannungen geführt hat. Denn schon nach wenigen Monaten ist man in einen blutigen Bürgerkrieg im Donbass hineingeschlittert, der laut UN-Angaben mindestens 13.000 Todesopfer forderte. Zudem war die ukrainische Volkswirtschaft nach dem „Euromaidan“ um die Hälfte eingebrochen und hat sich verschuldet. Sie wird seitdem unter anderem durch die Schuldenpolitik der US-dominierten IWF und Weltbank kontrolliert und balanciert seit Jahren am Rande eines Bankrotts.
Ihren vorerst traurigsten Höhepunkt erreichte die ukrainische „Westintegration“ mit der militärischen Auseinandersetzung mit Russland, in dessen Folge die Ukraine Schätzungen zufolge bereits mehr als 200.000 Soldaten und mehr als 25 Prozent ihres Territoriums verloren hat. Mehr als 13 Millionen Ukrainer sollen bis heute ihr Land verlassen haben – etwa fünf Millionen Richtung Russland und acht Millionen in Richtung der EU.
Demografischer Wandel
Was die ukrainischen Flüchtlinge angeht, ist wohl anzunehmen, dass sehr viele von ihnen womöglich gar nicht zurückkehren und stattdessen lieber in Deutschland, Frankreich oder den anderen EU-Ländern Fuß fassen. Dass Millionen ukrainische Bürger nämlich lieber im Ausland leben wollen, als in ihr Heimatland zurückzukehren, ist kein Geheimnis. Denn spätestens seit dem „Euromaidan“ ist das wahre Ziel der sogenannten „Europäischen Integration“ für einen Großteil der ukrainischen Bevölkerung, irgendwie in die EU zu gelangen und dort zu bleiben.
In Bezug auf die Demografie sind der Flüchtlingsstrom ins Ausland sowie die Kriegsverluste allerdings nur ein Teil einer bereits seit langer Zeit bestehenden und äußerst negativen demografischen Entwicklung der Ukraine, wegen der das Land unlängst vor dem Abgrund steht.
Dies war jedoch nicht immer so gewesen. Zum Beispiel hatte die ukrainische Bevölkerung in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ein beispielloses Wachstum durchlebt und mit 52 Millionen Einwohnern 1993 – also gut ein Jahr nach dem Zerfall der UdSSR – ihre Höchstzahl erreicht hatte, bevor im Zuge der Unabhängigkeit der Ukraine praktisch ein rapider Rückgang einsetzte. Laut der bisher letzten ukrainischen Volkszählung, die 2020 elektronisch durchgeführt wurde, gab es in der ehemaligen Sowjetrepublik vor drei Jahren lediglich 37 Millionen Einwohner – das ist ein Minus von fast 30 Prozent. Inzwischen soll die Ukraine nach Schätzungen sogar weniger als 35 Millionen Einwohner zählen. Zumindest ist das aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate, der niedrigen Geburtenrate, der Emigration und der ukrainischen Kriegsverluste eine relativ optimistische Schätzung. Nimmt man nun aber noch die Flüchtlingszahlen, dann hat sich die in der Ukraine befindliche Bevölkerung im Vergleich zum Niveau der späten Sowjetunion faktisch halbiert.
Eine kommende Katastrophe zeigt sich zudem vor allem in der Altersstruktur der Bevölkerung, wo der Anteil der jüngeren Altersgruppen in der Vergangenheit beständig abgenommen hat und bei den 20- bis 25-Jährigen sowie den 25- bis 30-Jährigen mittlerweile erschreckend deutlich unter dem Niveau der anderen Altersgruppen liegt. Der Anteil der erstgenannten Altersgruppe etwa fiel seit 2021 sogar um mehr als die Hälfte, was vermutlich primär auf die Verluste im Krieg und die Flüchtlinge zurückzuführen ist.
Laut Angaben des Statistikportals Population Pyramide macht der männliche Anteil der 20- bis 30-jährigen Ukrainer 3,2 Prozent der Bevölkerung aus, der weibliche Anteil 2,6 Prozent. Das sind insgesamt gerade einmal 5,8 Prozent und damit zu wenig, um einen positiven demografischen Wandel herbeizuführen.
Wirtschaftlicher Niedergang
Abgesehen davon, dass dieser Aspekt die demografische Entwicklung vermutlich noch weiter verschlimmern wird, hat er auch aus ökonomischer Sicht schwerwiegende Folgen für die Ukraine. Denn ein Rückgang innerhalb der jüngeren Altersgruppen hat zuallererst eine direkte Auswirkung auf die Zahl der Erwerbsfähigen respektive Erwerbstätigen und damit auf die Volkswirtschaft in einem Land.
In der Tat ist von dieser desaströsen Entwicklung unmittelbar auch die ukrainische Wirtschaft betroffen, die schon vor dem Einmarsch Russlands zu den schwächsten Volkswirtschaften in Europa zählte und in der mittlerweile ebenfalls katastrophale Zustände herrschen. Aufgrund der Kampfhandlungen ist die Wirtschaftsleistung um mindestens ein Drittel zusammengebrochen, so dass der ukrainische Bruttoinlandsprodukt 2022 umgerechnet etwa bei 150 Milliarden US-Dollar lag und in diesem Jahr nach Schätzungen noch niedriger ausfallen soll.
Hinzu kommen die vielen Milliarden-Kredite aus dem Ausland, die zurückgezahlt werden müssen, da die bereits erwähnten Weltbank und IWF sowie die anderen ausländischen Gläubiger nicht gewillt sind, der massiv verschuldeten Ukraine ihre Schulden zu erlassen. So ist zum Beispiel ihre Auslandsverschuldung laut ukrainischen Medienangaben 2022 auf einen Rekordwert von umgerechnet etwa 132 Milliarden Dollar angewachsen, wobei die gesamte Staatsverschuldung in diesem Zeitraum von rund 50 Prozent der Wirtschaftsleistung im Vorkriegsjahr 2021 auf heute fast 80 Prozent anstieg. Dem ukrainischen Finanzministerium zufolge sind seit Februar des vergangenen Jahres fast 13 Milliarden Dollar aus dem Ausland für die Haushaltsfinanzierung aufgewendet worden.
Für 2023 prognostizieren Experten, dass die Gesamtverschuldung der Ukraine am Jahresende die Marke von 150 Milliarden Dollar erreichen könnte, weil immer neue Kredite im Rahmen der sogenannten westlichen „Unterstützung“ – in erster Linie in den USA und den EU-Ländern – aufgenommen werden. Damit wäre auch die psychologische Marke von 100 Prozent der Verschuldung im Verhältnis zum BIP des Landes erreicht, was im Grunde bedeutet, dass der Umfang der Schulden dem Gesamtvolumen aller in der Ukraine produzierten Waren und Dienstleistungen entsprechen würde.
Diesbezüglich hat der ungarische Premierminister Viktor Orban die Ukraine sogar als „ein im wirtschaftlichen Sinne nicht existierendes Land“ bezeichnet, weil fast ihr gesamter Haushalt auf geliehenen Mitteln oder internationaler Finanzhilfe basiert. Und damit hat er Recht, weil die Budgetausgaben in der heutigen Situation ausschließlich mit Hilfe von Milliarden-Krediten aus der EU oder den USA getätigt werden können.
Es bleibt zu konstatieren, dass der Ukraine nicht nur die Wirtschaft fehlt, sondern wegen des Fluchtstroms aus dem Land und des demografischen Wandels Millionen von Arbeitskräften sowie Millionen von einfachen Bürgern, die bereit wären, in den Wiederaufbau und damit in die Zukunft des Landes zu investieren.