Wenn sich kleine Kinder am Tisch stoßen und ihr Arm wehtut, dann kann es leicht sein, dass sie auf den Tisch böse sind und gegen das Tischbein treten. Auch uns Erwachsenen ist dieses aus unserer magischen Entwicklungsphase stammende Verhalten keineswegs fremd, etwa, wenn wir genervt ein Instrument anschreien, das nicht so reagiert, wie wir wollen.

Aber gut, damit können wir umgehen und über uns selbst lachen, wenn wir wieder bei uns sind. Warum aber, frage ich mich, ärgern wir uns, wenn wir mit geschlossenen Augen überall anecken?

Wenn der Abendkrimi ausfällt

Die einfachste Reaktion wäre doch, die Augen zu öffnen, nicht wahr? Tun wir aber nicht. Was so einfach klingt, erweist sich in der Praxis als ausgesprochen kompliziert. Aber von Anfang an: Es gibt Tage, die fühlen sich an wie Spießrutenlaufen. Es beginnt mit dem Wecker, der einen aus den schönsten Träumen reißt, die Zahnpastatube ist leer, man hat vergessen, Kaffeebohnen einzukaufen und der Morgenkaffee entfällt, tagsüber muss man neben seinem Lieblingsfeind in Meeting sitzen, und der Feierabendkrimi wird wegen einer Sondersendung verschoben. Schließlich fällt man genervt ins Bett, und dann ist es ziemlich egal, wer da neben einem liegt – jetzt nur noch vergessen.

Zurück zur Metapher: Selbst wenn wir einen Raum gut kennen, werden wir mit geschlossenen Augen leicht anrempeln. Dafür können die Gegenstände nichts, sondern allein unser Zustand. Ganz ähnlich ist es mit den Träumen, der Zahnpastatube, den Kaffeebohnen, dem Meeting und der Sondersendung. Sie sind einfach da und wir reiben uns an ihnen, weil wir blind durch den Alltag stolpern, blind gegenüber unseren eigenen Fehlern, unserem eigenen Fehlverhalten und blind gegenüber der Möglichkeit, dass alles ganz anders sein könnte, wenn wir nur wollten, wenn wir nur die inneren Augen öffnen würden. Dann könnten wir zum Beispiel zwanzig Sekunden unserem Traum nachsinnen und dankbar sein für dieses schöne Erlebnis; wir könnten grundsätzlich zwei Zahnpastatuben kaufen, statt einer und eine neue, wenn die erste leer ist und so unseren Alltag optimieren; wir könnten blitzlichtartig verstehen, dass wir gar keinen Morgenkaffee brauchen, um auf Touren zu kommen, und uns blitzschnell von einer Abhängigkeit befreien. Wir könnten uns fragen, warum dieser unangenehme Kollege bei anderen durchaus beliebt ist; könnte unsere Abneigung ihm gegenüber etwas mit uns zu tun haben? Und zu guter Letzt könnten wir uns abends entspannt aufs Kissen legen und endlich mit dem Buch beginnen, das wir schon immer lesen wollten, aber nie dazu gekommen sind.

Wenn die Lachblasen blubbern

Wir können aber auch so weitermachen wie bisher und uns weiterhin wundern, wieso manche Menschen in dieser schrecklichen Welt so guter Dinge sind. Und wenn wir eines nicht allzu fernen Tages im Burn-out landen, dann wissen wir, wer schuld ist: die Kollegen, die Politiker, die Chefs, die rücksichtlosen Mitmenschen, die nervigen Kunden, die habgierigen Bosse oder einfach der Nachbar, der viel zu oft grillt, obwohl wir Veganer sind.

Wir können uns aber auch nach inneren Augenöffnern umtun. Die werden allenthalben angeboten, sei es von den Kirchen, von Wochenendseminaren, Philosophiekursen, Yogaschulen, buddhistischen Mediationsübungen oder einfach mal von einem Freund, den wir bitten, uns die Meinung zu geigen. Nur helfen alle diese Methoden nichts, solange wir es für uns undenkbar ist, dass wir selbst die Wurzel unseres Ärgers sind, unsere vorgefassten Meinungen und Vorurteile, unsere Vorlieben und Abneigungen, unsere Überzeugungen und Glaubenssätze und all die nie hinterfragten Wahrheiten. Mit einem Wort: Solange wir uns ausschließlich mit uns selbst identifizieren, keine Distanz zu uns aufbauen, nicht auf den Feldherrnhügel klettern können, von dem aus wir einen Überblick erhalten über die Scharmützel und Schlachten unseres Lebens.

Die inneren Augen zu öffnen, wäre die erste Methode, um mit möglichst wenig Rempelei durchs Leben zu kommen. Schon bei den ersten, erstaunlich einfachen Schritten mit offenen Augen könnten kleine Humor- und Lachblasen in uns hochblubbern. Wir könnten über so manche Absurdität des Alltags schmunzeln, uns selbst eingeschlossen, aber auch über andere, die sich mit geschlossenen Augen unnötig wehtun. Erinnern sie sich noch an die lustigen Szenen beim Blinde-Kuh-Spiel in der Kindheit und Jugend, wenn die „Blinde Kuh“ ins Leere griff oder gegen den Türrahmen prallte?

Der Welt ohne Scheuklappen begegnen

Die Meisterübung aber ist das, was im Schweizerdeutsch „gwundrig sein“ genannt wird. Das ist zugegeben nicht einfach, dafür aber zauberhaft, denn es lässt einen Wunder erkennen, wo vorher gar nichts war oder sogar Ärger. Im Zustand des Gwundrig-seins nehmen wir keine feste Haltung gegenüber den Dingen, Menschen und Situationen ein, denen wir begegnen, sondern sind bereit und offen für ein Erleben der Wirklichkeit ohne Scheuklappen. Dann können wir die kunstvollen Suchbewegungen einer Wespe bestaunen, die im Flug Duftspuren ertastet und ihren Wirbeln folgt; dann bewundern wir unsere Körperintelligenz, die eine Wunde schließt und gegen Keime abdichtet; dann entdecken wir das trotzige, verletzte Mädchen in der Kollegin und werden bereit zum Mitgefühl. Normalerweise verhalten wir uns wie ein Gastgeber, der an der Tür die Gästeliste seiner Party abhakt und keine Zeit für Umarmungen hat.

Wir können aber auch gar keine Gästeliste führen und die Welt in unser Inneres einladen. Wir können dann darauf warten, wer kommt und uns über die Gäste freuen und mit ihnen Gespräche führen, an die wir nie gedacht haben. Im Zustand des Gwundrig-seins sind wir offen für Wunder, die sich dann tatsächlich ereignen. Dann ecken wir nicht nur außen nicht an, sondern auch nicht in uns selbst.