Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber
Das Schweizer Fernsehen räumte am Donnerstag nach 20 Uhr auf seiner Webseite ein: «Als vor einer Woche Hunderte Menschen bei einem Bootsunglück vor der Küste Griechenlands ums Leben kamen, fiel die Berichterstattung aus der Sicht vieler zurückhaltender aus als über das Schicksal des im Nordatlantik verschollenen U-Boots Titan.» Das habe «in den Social Media und in der SRF-Community» für Kritik gesorgt. Aus diesem Grund habe SRF darüber online einen «Hintergrundartikel» publiziert.
Dieser informiert die Öffentlichkeit jedoch nicht darüber, weshalb die SRF-Nachrichtensendungen dem U-Boot so enorm viel mehr Platz einräumten als dem Migrantenboot, bei dessen Kentern vor der Küste Griechenlands etwa 600 Menschen den Tod fanden. Vielmehr beliessen es die SRF-Verantwortlichen bei einem Interview mit einem Professor für Medienpsychologie.
Das U-Boot errege beim Publikum mehr Aufmerksamkeit, meint Daniel Süss von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Doch:
«Grundsätzlich müssen sich die Medien schon fragen, wo die Aufmerksamkeit mit ihrer Berichterstattung hingelenkt wird. Die Gefahr besteht, dass man die Relationen der Ereignisse aus den Augen verliert. Da sehe ich schon eine Gefahr, dass so den Menschen vermittelt wird, dass es sich dabei um ein besonders wichtiges Ereignis handelt.»
Um in Zukunft das Publikum auch für das Thema der Fluchtbewegungen zu interessieren, empfiehlt Professor Süss den Medien,
«nicht nur auf die Ereignisse zu fokussieren, sondern Zusammenhänge aufzuzeigen – beispielsweise die Schlepper-Kriminalität oder mögliche Lösungsvorschläge in den Herkunftsstaaten».
Auch die NZZ stellte am Freitag fest: «Mehr als 600 Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer – 5 Männer verschwinden im Atlantik. Die eine Meldung erhält bedeutend mehr Aufmerksamkeit.» Die verschollene «Titan» sei eben eine Abenteuergeschichte, die unabhängig von Moral und Politik interessiere, versucht NZZ-News-Redaktorin Corina Gall zu erklären. Dagegen seien 600 tote Flüchtlinge «eine abstrakte Zahl, zu abstrakt für unsere Empathie».
Dass sich das Publikum für Abenteuergeschichten stärker interessiere, habe sich auch 2018 gezeigt, als in Thailand 13 Knaben während 17 Tagen in einer Höhle eingeschlossen waren.
Das Interesse werde von den Medien allerdings auch geschürt, räumt die NZZ ein: «Die Leser klicken auf die Texte, weil sie die prominent platzierte Meldung für wichtig halten. Die Klickzahlen schiessen in die Höhe, und die Medienhäuser wiederum sehen sich in ihrer Priorisierung bestätigt. Man pusht sich gegenseitig hoch.»
Von Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen könnte man allerdings erwarten, dass es die Informationen nicht in erster Linie nach Abenteuern, Prominenz oder aufregenden Bildern auswählt.
Die publizistischer Leitlinien
Unter «Auswahlkriterien und Prioritäten» heisst es in den publizistischen Leitlinien des Schweizer Radio und Fernsehens: «Die Relevanz ist das vorrangige Kriterium […] Die Kriterien Wichtigkeit und Publikumsinteresse sind wegleitend.»
Weil «allgemeingültige präzise Definitionen der journalistischen Relevanz fehlen», zählen die Leitlinien an erster und zweiter Stelle folgende «Orientierungspunkte» auf:
- Aktualität und Newsgehalt;
- Politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung.
Und weiter wird wiederholt: «Für aktuelle Informationsangebote sind der Newsgehalt sowie die politische, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftlche Bedeutung vorrangig […] In den Informationssendungen soll eine klare Hierarchie der Wichtigkeiten erkennbar sein.»
Zu vielen Geschehnissen wie demjenigen über das U-Boot steht in den Leitlinien unter dem Titel «Themen-Hypes»:
«Wenn andere Medien ein Thema über das sachgerechte Mass hinaus anheizen, ist es Aufgabe der Redaktionen, die Proportionen zu wahren. Viele Medien greifen heute Themen auf, die unverzüglich Aufsehen erregen, auch wenn sie wenig bedeutsam sind. Finden sie Anklang, werden sie, unabhängig von jeder inhaltlichen Rechtfertigung, als Hype inszeniert.
Wir halten uns an Fakten und gesichertes Wissen. Unsere generelle Linie bei Hype-Themen: Wenn die Berichterstattung hochgeht, berichten wir unaufgeregt und verhältnismässig.» (Fette Auszeichnungen im Originaltext)
Soweit die Leitlinien. Die Praxis sieht häufig anders aus. Siehe Beispiele im Infosperber-Dossier «SRF-Tagesschau in der Kritik».
Keine Antwort der SRF-Chefredaktion
Berichte über das vermisste U-Boot und das gekenterte Flüchtlingsboot sind nur das jüngste Beispiel dafür, dass die Praxis nicht den Leitlinien entspricht. Zu den vielen U-Boot-Berichten stellte Infosperber der SRF-Chefredaktion folgende Frage:
«Täglich berichteten Tagesschau und andere SRF-Sendungen über das Titanic-Tauchboot.
Warum wurde dem Tauchboot ungleich mehr Zeit eingeräumt und darüber viel umfassender informiert als über die Umstände des Untergangs des Migrantenschiffs, bei dem am 14. Juni etwa 600 Menschen ums Leben kamen?
Welches waren die Kriterien der Tagesschau?»
Die Chefredaktion liess sich dazu nicht zitieren. Hier die vollständige Antwort der SRF-Medienstelle:
«Das Dilemma der publizistischen Entscheidung zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Ereignissen war den Mitarbeitenden im SRF-Newsroom in den vergangenen Tagen sehr wohl bewusst und hat auch zu intensiven Diskussionen geführt.
Aus diesem Grund hat SRF gestern Donnerstag entschieden, die weltweit ungleiche Gewichtung der beiden Unglücke in einem Hintergrundartikel auf SRF News Online zu thematisieren. Dies, weil eine Debatte um ethisch-moralisch nicht einfach nachvollziehbare publizistische Entscheidungen in textlich geschriebener Form der sensiblen Thematik gerechter wird.
Die Kolleginnen und Kollegen bei der NZZ haben das heute Morgen ähnlich aufbereitet.
In diesem Sinne gibt es – wie so oft im Journalismus und insbesondere im sehr schnelllebigen Tagesnews-Geschäft – selten ein ‹richtig› oder ‹falsch›.»
Über Kriterien für die praktische Anwendung der eigenen publizistischen Leitlinien schweigen sich Chefredaktion und Medienstelle aus. Der erwähnte «Hintergrundartikel» war nicht etwa eine Stellungnahme von SRF, sondern bestand lediglich im erwähnten Interview mit Professor Daniel Süss.
Sowohl Süss wie der ebenfalls angeführte NZZ-Artikel erklärten jedoch in erster Linie, warum das U-Boot beim Publikum auf ein viel grössere Interesse stosse als die 600 Todesopfer vor der griechischen Küste.
SRF beantwortet jedoch die Frage nicht, nach welchen Kriterien die Informationssendungen von SRF ihre Informationen im konkreten Fall priorisierten.
Ausser das Fernsehen SRF wollte mit seiner Antwort mitteilen, dass die Informationssendungen ihre Gewichtung in Wesentlichen nach dem «Publikumsinteresse» ausrichten – also nach der zu erwartenden Einschaltquote.