Vom 12. bis zum 23. Juni wird über dem Himmel Deutschlands ein gigantisches Manöver von NATO-Luftstreitkräften stattfinden, bei dem bis zu 10.000 Soldaten aus 25 Nationen mit 250 Flugzeugen gemeinsame Luftoperationen trainieren sollen. Friedensorganisationen warnen jedoch, dass eine weitere Militarisierung in Europa angesichts der heutigen Krisensituation auf dem Kontinent hochgefährlich sei.
Von Alexander Männer
Am kommenden Montag, den 12. Juni, beginnt über Deutschland die NATO-Teilübung „Air Defender 2023“, die Medien zufolge im Rahmen des Großmanövers „Defender Europe 2023“ als die größte Verlegeübung von Luftstreitkräften seit Bestehen der Nordatlantischen Militärallianz geplant ist. Dabei sollen bis zu 10.000 Soldaten aus 25 Nationen mit 250 Flugzeugen zehn Tage lang gemeinsame Luftoperationen trainieren.
Die als multinationale und mehrphasige konzipierte Manöverserie „Defender Europe“ findet inzwischen das vierte Jahr in Folge statt und soll auch weiterhin jährlich durchgeführt werden, um das neue Level der Militarisierung Europas aufrechtzuerhalten und auszubauen. Dass Deutschland jedoch das diesjährige Luftwaffen-Manöver leitet, ist ein Novum. Denn eigentlich bestand die bisherige Hauptaufgabe der Bundesrepublik bisher immer nur darin, seine Häfen, Flughäfen und Truppenübungsplätze bereitzustellen und aufgrund seiner geostrategischen Lage im Herzen Europas als logistische Drehscheibe zu fungieren.
Laut der Übungslage von „Air Defender 23“, das einem Artikel-5-Beistandsszenario nachempfunden wurde, übernimmt Deutschland die Rolle eines Verteidigungsknotenpunkts innerhalb Europas. Im Verlauf wollen die teilnehmenden Nationen die gemeinsame Reaktion ihrer Luftstreitkräfte bei einer Krisensituation üben, ihre Kooperation optimieren und ausweiten und gleichzeitig Stärke im Bündnis zu zeigen.
Unbestritten ist, dass es definitiv auch darum geht, Russland seine Kampfbereitschaft zu demonstrieren. Wie von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) jedoch hervorgehoben wird, soll im Rahmen von Air Defender 23 im Grunde „für einen Krieg der NATO mit Russland in Europa“ trainiert werden. Dazu heißt es: „Auch wenn Russland in den offiziellen Dokumenten zu Air Defender 2023 nicht genannt wird und das Manöver laut der Bundesregierung auf einem ‚rein generischen Szenario‘ basiert, machten der deutsche Luftwaffeninspekteur Ingo Gerhartz und der Chef der US Air National Guard Michael A. Loh bereits an anderen Stellen deutlich, gegen wen sich das Manöver richtet. Schon 2021 legte Loh seine Motivation für die Teilnahme dar: ‚Ich möchte, dass [meine Leute] anfangen, mehr über unsere drohenden Gefahren – China und Russland – nachzudenken und versuchen, sie auf diese Standards zu bringen.'“
IMI zufolge wurde Russland von der NATO zudem nicht über Air Defender in Kenntnis gesetzt, obwohl es zwischen ihnen eigentlich gängige Praxis ist, sich bei Großmanövern im Vorfeld offiziell darüber zu informieren, dass es sich lediglich um eine Übung handelt. Dementsprechend seien dieses Mal auch nicht – wie sonst üblich – Einladungen an Militärbeobachter aus Russland ausgesprochen worden. „Diese Praxis diente der gegenseitigen Versicherung, dass die Militärübungen zwar dem gegenseitigen Muskelspiel und der Abschreckung, nicht aber der Vorbereitung eines Angriffs dienten. In der aktuellen Phase der militärischen Konfrontation in der Ukraine auf diese Kommunikationsformen zu verzichten, ist hochgradig gefährlich“, warnt die Organisation.
Die NATO selbst macht übrigens keinen Hehl daraus, gegen wen Air Defender beziehungsweise Defender Europe gerichtet sind. In der Allianz vergleicht man diese Manöverserie nämlich gern mit dem „Reforger“-Manöver, das in Europa von 1969 bis 1993 regelmäßig durchgeführt wurde und die Fähigkeit der NATO zur schnellen Truppenverlegung über den Atlantik bei einem möglichen Kriegsfall mit dem Ostblock demonstrieren sollte. Beim Reforger-88 etwa war in der BRD ein Kontingent von 125.000 Soldaten aufmarschiert.
Generell ist zu betonen, dass die Truppen selbst bei einem Transport-Manöver nicht einfach nur ziellos hin und her verlegt werden, sondern beispielsweise zur Schaffung von größeren Verbänden in einem oder mehreren strategischen Gebieten konzentriert werden können. Insofern geht es für die NATO inzwischen um die Verstärkung ihrer Ostflanke, wobei wie gesagt Russland als potenzieller Gegner angesehen wird.
So fanden diverse Teilübungen im Rahmen von Defender Europe 2020 nahe der russischen Enklave Kaliningrad statt, die für Moskau eine strategische Bedeutung hat und von der NATO offensichtlich als eine große Herausforderung angesehen wird. Das Übungsszenario damals soll gelautet haben, dass die NATO-Truppen ein Gebiet von einem „Aggressor-Land“ einnehmen und solange halten sollten, bis weitere Truppen der Allianz nachgerückt seien.
Im Unterschied dazu lag der Schwerpunkt bei dem Großmanöver im darauffolgenden Jahr, das inmitten der Corona-Pandemie stattfand, nicht auf Russlands nordwestlicher, sondern auf dessen südwestlicher Flanke – in Südosteuropa und am Schwarzen Meer. Dies ist der Grund, weshalb der Beteiligung der Ukraine und Georgien damals eine ganz besondere Bedeutung zukam.
Um nochmal zu der diesjährigen Großübung der NATO zu kommen: Dass die Nordatlantikallianz mehr als 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges wieder regelmäßig Großmanöver im Geiste der Konfrontation der späten 1980er Jahre veranstaltet, ist grundsätzlich zu kritisieren. Dass das Bündnis aber die größte Verlegeübung in seiner Geschichte ausgerechnet in einer sehr brisantesten sicherheitspolitischen Situation in Europa veranstaltet, ist im Hinblick auf die globale Sicherheit fahrlässig und höchst gefährlich.
Diesbezüglich warnt die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK):
„Im Jahr 1983 führte das NATO-Manöver ‚Able Archer‘ fast zu einem Atomkrieg – in der aktuellen Zeit ist die Gefahr eines direkten Krieges zwischen Russland und der NATO wieder enorm groß: Ein Missverständnis oder ein falscher Knopfdruck kann zur totalen Eskalation führen.“