Das Ausreisebedürfnis der Kubanerinnen und Kubaner speist sich häufig aus wirtschaftlichen Gründen, wurde gesagt. Es geht also um die individuellen Lebensbedingungen. Also werfen wir einen Blick auf die wirtschaftliche Situation in den Metropolen, die ja offenbar per Flucht häufig angesteuert werden, und als Idealbild in den Köpfen festgesetzt hat. Ist bekannt, wie viele junge Leute in Florida arbeitslos sind, wie viele in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind? Wer zahlt das Krankenhaus, wenn man eines solchen mal bedarf? Wie viel fressen allein die Mieten vom Monatslohn auf?
Der Text von Klaus Hecker ist eine Replik zu dem dritten offenen Brief von Frei Betto an Ernesto Che Guevara die aktuelle Situation in Kuba betreffend. Auf Deutsch erschienen bei amerika21.de.
Lieber Frei Betto,
ich kann die Besorgnis, die du in deinem 3. Brief an Che Guevara über die Situation in Kuba zum Ausdruck bringst, sehr gut verstehen.
Ich möchte an dieser Stelle nicht alle Problemstellungen, die Kuba aufgenötigt bekommt, wiederholen. Vielmehr möchte ich gerne mich dazu äußern, was man den jungen Leuten sagen und vermitteln könnte.
Viele verlassen sie ja, wie du darstellst, Kuba nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Du sprichst davon, die ideologische Erziehung zu überdenken, zu erneuern, gegen die individualistische Ideologie, wie sie mit den digitalen Netzen verbreitet wird.
Entgegen bürgerlichem Konsumverhalten möchtest du zurecht die moralischen Werte gestärkt sehen wissen. Das kulminiert in deinem Brief in dem Vorschlag, die revolutionäre Ethik Ches wieder mehr in das Bewusstsein der jungen Leute zu rücken. Dem kann ich nur zustimmen. Allerdings scheint mir in deinen Vorschlägen etwas zu fehlen, was von höchster Bedeutung ist.
Ich stelle mal folgende These auf: Die innere Einstellung ist zweifelsohne von höchster Bedeutung. Aber wir sollten nicht die Dinge nicht nur oder überwiegend darauf reduzieren. Vielmehr geht es auch um Wissen und objektive Erkenntnisse, die wir den jungen Leuten zu vermitteln könnten und sollten, was meiner Meinung nach hilfreich sein könnte.
Das Ausreisebedürfnis speist sich häufig aus wirtschaftlichen Gründen, wurde gesagt. Es geht also um die individuellen Lebensbedingungen. Also werfen wir einen Blick auf die wirtschaftliche Situation in den Metropolen, die ja offenbar per Flucht häufig angesteuert werden, und als Idealbild in den Köpfen festgesetzt hat.
Ist bekannt, wie viele junge Leute in Florida arbeitslos sind, wie viele in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind? Wer zahlt das Krankenhaus, wenn man eines solchen mal bedarf? Wie viel fressen allein die Mieten vom Monatslohn auf?
Wieso gibt es rassistische Auseinandersetzungen zuhauf und nicht die in Kuba so sehr gepflegte Völkerfreundschaft?
Wie werden in den USA Afrikaner betrachtet und behandelt, wie dagegen in Kuba? Was herrscht wohl für ein soziales Klima auch im Innern in einer Nation bis in die privaten Beziehungen vor, die seit dem 2. Weltkrieg 53 Kriege geführt hat? Wie lebt es sich in einem Land, was das Heimatland Kuba mit einem Boykott und allem möglichen anderen Maßnahmen seit Jahrzehnten drangsaliert?
Du schreibst zurecht, wie sich der Einfluss der digitalen Medien auf die jungen Leute in Kuba zu deren Nachteil auswirkt. Du sprichst von Egomanismus. Dem stimme ich zu.
Aber wie sieht es dann wohl in den Metropolen des Kapitalismus, die auch die Metropolen des digitalen Verkehrs sind, aus? Das Egomanentum hoch 20 herrscht dort vor. Und das ist etwas, was die jungen Leute aus und in Kuba so gar nicht kennen.
Amerika, auch die europäischen Länder haben es im negativen Sinne geschafft, eine Gesellschaft herauszubilden, in der der Zusammenhalt untereinander aufgelöst ist und jeder nur noch als vereinzelter Egomane durch das Leben schreitet.
Am Beispiel der Partnersuche: Diese wird in Deutschland beispielsweise zu einem meist erfolglosen Hindernisrennen und ohne digitale Partnerschaftsbörsen geht gar nichts mehr. Diese arbeiten nach der einen Seite nach Geschäftsprinzipien nach der anderen Seite lässt sich jeder der Beteiligten auf bestimmte Funktionen reduzieren. Jeder blättert in einem Katalog und stellt fest, dass es immer noch was Besseres gibt oder geben könnte.
Ich lebe in jedem Jahr drei bis vier Monate in Marokko. Die Menschen sind bitterarm, unglaublich freundlich und hilfsbereit und die Gastfreundschaft steht ganz oben an. Mein Freund Achmed verdient 310 Euro, das ist sehr wenig und liegt 30 Euro über dem Durchschnittslohn. Seinem Bruder und dessen Familie gibt er wie selbstverständlich 100 Euro im Monat ab.
Über unseren früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde bisweilen berichtet, dass sein Bruder komplett verarmt sei und er obdachlos auf der Straße leben würde. Kanzler Schröder dazu befragt, antwortete stets, weiß ich nicht, habe nichts mit ihm zu tun.
Wenn ich den Marokkanern diese Geschichte erzähle, sind die fassungslos, die können es nicht glauben und wenn irgendwann doch, haben sie kein Wort dafür.
In Spanien fragt der Kellner, wenn man in größerer Runde zusammensitzt und bezahlt werden soll, „la cuenta o la cuenta aleman“. „Cuenta aleman“, die deutsche Rechnung, bedeutet, dass jeder für sich alleine zahlt. Das ist in Spanien oder Italien nicht üblich, da zahlt einer, die deutsche Lesart gilt als schäbig.
So genug der Erzählungen. Ich möchte die jungen Leute in Kuba fragen, wollt ihr so leben? Ich weiß von vielen Marokkanern, die nach Deutschland gekommen sind, vielleicht sogar dort geheiratet haben, dass sie wieder nach Marokko zurückgegangen sind. Denen kam das alltägliche Leben, das soziale Leben in Deutschland wie in einer Tiefkühltruhe vor. Das freundliche, konkurrenzlose Gespräch, der Zusammenhalt, die Hilfsbereitschaft vor allem auch die Zeit, die man sich für soziale Kontakte nimmt, ist in Deutschland dahin.
Also, ihr jungen Leute, es ist nicht so, dass der Kapitalismus die Errungenschaften Kubas, nicht zuletzt auch die gerade beschriebenen des sozialen Lebens bewahrt und euch dazu mit einem Auto und einer schönen Wohnung ausgestattet. Die sozialen Errungenschaften gibt es nicht und das Materielle ist fraglich.
Ich weiß nicht, wie es in Kuba um psychiatrische Erkrankungen wie Depressionen und leider auch Suizid steht. Ich weiß aber, wie hoch der Anteil solcher Erkrankungen in Deutschland ist, nämlich sehr hoch.
Und jedes Jahr steigen die Raten. Sind davon nur die blöden Deutschen betroffen oder wäre es vorstellbar, dass auch Kubaner ähnlichen Prozentverhältnissen davon betroffen wären, weil es die Lebensbedingungen sind, die prägen.
Also, ihr jungen Leute, wenn ihr unbedingt die Koffer packen wollt, solltet ihr wenigstens wissen, worauf ihr euch einlasst.
Für nähere Erläuterungen oder Rückfragen jeder Art stehe ich gerne zur Verfügung – auch vor Ort.
Grüße Klaus