Just zum 100. Geburtstag Henry Kissingers veröffentlicht das National Security Archive in Washington schwer belastendes Material.
Für die Onlinezeitung Infosperber
Am 27. Mai 2023 wurde Henry Kissinger hundert Jahre alt. Der als Realpolitiker Gefeierte war ein rücksichtsloser und kaltblütiger Machtpolitiker. Das geht aus einer Auswertung von Originaldokumenten hervor, die das National Security Archive in Washington am 25. Mai veröffentlichte. Infosperber dokumentiert eine Übersetzung. Weitere Links zu Originaldokumenten sind auf der Webseite des Archives. Grosse Medien haben bisher nicht darüber informiert.
Henry A. Kissinger wird 100 Jahre alt. Sein Geburtstag sorgt für eine weltweite Berichterstattung über sein Vermächtnis als führender Staatsmann, Meisterdiplomat und realpolitischer Stratege der Aussenpolitik. «Niemand auf der Welt hat mehr Erfahrung in internationalen Angelegenheiten», schrieb The Economist kürzlich in einer lobenden Würdigung Kissingers.
Während seiner Amtszeit als nationaler Sicherheitsberater und Aussenminister von Januar 1969 bis Januar 1977 erstellte Kissinger eine lange Reihe von Geheimdokumenten, in denen seine politischen Überlegungen, Gespräche und Direktiven zu vielen Initiativen festgehalten sind. Für einige dieser Initiativen wurde er berühmt: die Entspannung mit der UdSSR, die Öffnung gegenüber China und die Pendeldiplomatie im Nahen Osten.
Doch die historischen Aufzeichnungen dokumentieren auch die Schattenseiten von Kissingers umstrittener Amtszeit:
- seine Rolle beim Sturz der Demokratie und dem Aufstieg der Diktatur in Chile,
- seine Verachtung für die Menschenrechte und seine Unterstützung für schmutzige und sogar völkermörderische Kriege im Ausland,
- geheime Bombenangriffe in Südostasien,
- seine Beteiligung an den kriminellen Machenschaften der Nixon-Administration, darunter die geheimen Abhörmassnahmen gegen seine eigenen hochrangigen Mitarbeiter.
Um zu einer ausgewogenen und umfassenderen Bewertung von Kissingers Vermächtnis beizutragen, stellt das National Security Archive hiermit ein kleines Dossier mit freigegebenen Aufzeichnungen zusammen – Memos, Memcons und «Telcons», die Kissinger geschrieben, gesagt und/oder gelesen hat. Sie dokumentieren die streng geheimen Überlegungen, Operationen und Strategien während Kissingers Zeit im Weissen Haus und im Aussenministerium.
Die aufschlussreichen «Telcons» – mehr als 30’000 Seiten täglicher Abschriften von Kissingers Telefongesprächen, von denen er viele heimlich aufzeichnete – wurden von Kissinger als «persönliche Papiere» mitgenommen, als er 1977 aus dem Amt schied. Er verwendete sie selektiv, um seine meistverkauften Memoiren zu schreiben. Das National Security Archive zwang die US-Regierung, diese offiziellen Unterlagen zurückzuerhalten, indem es eine Klage vorbereitete: Sowohl das Aussenministerium als auch die National Archives and Records Administration (NARA) hätten rechtswidrig zugelassen, dass geheime US-Regierungsdokumente ihrer Kontrolle entzogen wurden.
Nachdem die Akten zurückgegeben waren, stellte der leitende Analyst des Archivs, William Burr, einen auf das Öffentlichkeitsgesetz FOIA gestützten Antrag auf ihre Freigabe. Die freigegebenen Dossiers enthielten den Klageentwurf – der nie eingereicht wurde. Kissingers Bemühen, diese höchst informativen und aufschlussreichen historischen Aufzeichnungen zu entfernen, aufzubewahren und zu kontrollieren, werden als ein entscheidender Teil seines offiziellen Vermächtnisses angesehen.
Die veröffentlichten Dokumente enthalten auch Links zu Dutzenden anderer Kissinger-Dokumentensammlungen, die das Archiv unter der Leitung des unerschrockenen William Burr über mehrere Jahrzehnte hinweg identifiziert, verfolgt, erhalten und katalogisiert hat. Diese Sammlungen bilden nun eine zugängliche, umfangreiche Sammlung von Unterlagen über einen der bedeutendsten aussenpolitischen Entscheidungsträger der USA im 20. Jahrhundert. Im Folgenden einige Erkenntnisse:
1. Kissinger, die geheimen Bombenanschläge und Abhörgeräte
Im Herbst 1968 nutzte der damalige Harvard-Professor Henry Kissinger seinen Zugang als Berater des Aussenministeriums, um als geheimer Informant der Nixon-Kampagne zu den Friedensgesprächen der Johnson-Regierung in Vietnam zu dienen. Sollte es Präsident Lyndon B. Johnson gelingen, den Krieg zu beenden, befürchtete Nixon, die Wahl gegen Vizepräsident Hubert Humphrey zu verlieren. Deshalb drängte Nixon insgeheim die südvietnamesische Regierung, die Gespräche abzubrechen, und versprach ihr ein besseres Angebot, sobald er gewählt sei.
Wenige Wochen nach seinem Amtsantritt beschloss der siegreiche Nixon zusammen mit seinem neuen nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger, die heimliche Bombardierung der nordvietnamesischen Nachschubwege in Kambodscha und Laos ins Auge zu fassen, um Ho Chi Minh zu den Bedingungen der USA an den Verhandlungstisch zurückzuholen. Die Bombenangriffe mit den Codenamen «Frühstücksplan» und «Operation Menü» begannen am 17. März 1969 und dauerten über ein Jahr. Tausende Tausende von kambodschanischen Zivilpersonen wurden getötet.
Der Präsident bewilligt den „Breakfast-Plan“ von Kissinger
Am 9. Mai 1969 veröffentlichte die New York Times erstmals einen Artikel über das verdeckte B-52-Bombenprogramm [in Kambodscha und Laos]. Darauf bat Kissinger den FBI-Direktor J. Edgar Hoover, bestimmte Journalisten und US-Beamte, einschliesslich seiner eigenen Mitarbeiter im US-National Security Council NSC abzuhören, um herauszufinden, wer Informationen an die Medien weitergab. Der erste seiner Mitarbeiter, der abgehört wurde, war ein NSC-Mitarbeiter namens Morton Halperin. Er trat zurück und verklagte schliesslich Kissinger, Nixon und das Justizministerium, weil sie sein Büro und seine privaten Telefone illegal abgehört hatten.
Als der Abhörskandal aufflog, gab Kissinger an, dass sich seine Rolle darauf beschränkt habe, dem FBI eine erste Reihe von Namen zu liefern. Im Laufe des Halperin-Prozesses behauptete er dann jedoch, dass nicht er, sondern Hoover diese Personen identifiziert habe. Doch Kissingers Stellvertreter Alexander Haig, der dem FBI über einen Zeitraum von zwei Jahren die Namen der mutmasslichen Informanten übermittelte, erklärte, er habe diese Namen von Kissinger erhalten. Laut Halperins Klage haben sich Hoover und Kissinger am Tag der ersten New York Times-Story viermal an diesem Tag telefonisch beraten. Am gleichen Abend wurde die Abhöranlage auf dem Haustelefon von Halperin installiert.
Hoover sandte Berichte über die Überwachung von Halperin und anderen Zielpersonen direkt an Präsident Nixon. Einer dieser Berichte wurde kürzlich von der Nixon-Bibliothek freigegeben. «Die illegalen und regelwidrigen Abhörmassnahmen der Regierung verletzten nicht nur das Recht auf Privatsphäre, sondern beeinträchtigten auch die politischen Rechte der überwachten Personen und derjenigen, mit denen sie sprachen», so Halperin in einer Erklärung an das Archiv für diesen Beitrag. «Diese Überwachungsaufzeichnungen erinnern uns an die Notwendigkeit ständiger Wachsamkeit und Rechenschaftspflicht.»
2. Kissinger und Chile
Chile ist wohl die Achillesferse von Kissingers Erbe. Die freigegebenen historischen Aufzeichnungen lassen keinen Zweifel daran, dass Kissinger der Hauptverantwortliche für die Bemühungen der USA war, die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende zu destabilisieren. Wie aus CIA-Dokumenten hervorgeht, überwachte Kissinger in den Wochen vor Allendes Amtsantritt verdeckte Operationen unter dem Decknamen FUBELT, um den Militärputsch anzuzetteln, der direkt zur Ermordung des chilenischen Oberbefehlshabers der Armee, General René Schneider, führte.
Nachdem die ersten Putschversuche gescheitert waren, überzeugte Kissinger persönlich Nixon, die Position des Aussenministeriums zu unterstützen: Washington solle keinen Modus Vivendi mit Allende anstreben, sondern eine geheime Intervention genehmigen mit dem Ziel, «Allendes Probleme zu verschärfen, so dass er zumindest scheitert oder […] maximale Bedingungen geschaffen werden, unter denen ein Zusammenbruch oder ein Umsturz möglich wäre». Das geht aus Kissingers Gesprächsleitfäden in den drei Tagen nach Allendes Amtsantritt hervor.
Nur wenige Tage nach dem Sturz Allendes vor fünfzig Jahren am 11. September 1973 teilte Kissinger Nixon mit, die USA «haben die Bedingungen so gut wie möglich hergestellt. In der Eisenhower-Zeit wären wir Helden».
Kissinger gestaltete die US-Politik so, dass Allende daran gehindert wurde, seine gewählte Regierung zu konsolidieren. Nachdem die Streitkräfte von General Augusto Pinochet gewaltsam die Macht übernahmen, so zeigen die Dokumente, gestaltete Kissinger die US-Politik neu, um die Konsolidierung einer brutalen Militärdiktatur zu unterstützen. «Ich denke, wir sollten unsere Politik so verstehen, dass diese Regierung, so unangenehm sie auch sein mag, besser für uns ist als Allende», sagte er zu seinen Stellvertretern, als diese ihm in den Wochen nach dem Putsch über die Menschenrechtsverletzungen berichteten.
Bei einem privaten Treffen mit Pinochet im Juni 1976 in Santiago sagte Kissinger zu dem chilenischen Diktator: «Meine Einschätzung ist, dass Sie ein Opfer aller linken Gruppen in der Welt sind und dass Ihre grösste Sünde darin bestand, dass Sie eine Regierung gestürzt haben, die auf dem Weg zum Kommunismus war.»
«Wir wollen Ihnen helfen und Ihnen keine Steine in den Weg legen», teilte Kissinger dem General mit, wobei er den Rat seines eigenen Botschafters in Chile missachtete, Pinochet eine direkte, harte Botschaft in Sachen Menschenrechte zu übermitteln. Vielmehr sagte Kissinger: «Sie haben dem Westen mit dem Sturz von Allende einen grossen Dienst erwiesen.»
3. Kissinger und die Menschenrechte
Die verächtliche Umarmung des Pinochet-Regimes durch Aussenminister Kissinger und die Missachtung seiner Unterdrückung trugen zu einer breiten öffentlichen und politischen Bewegung bei, welche die Menschenrechte als Priorität in der US-Aussenpolitik institutionalisieren wollte.
Doch als der Kongress Gesetze vorbereite, welche die US-Hilfe für ausländische Regime, welche die Menschenrechte verletzten, einschränken sollten, eskalierte Kissingers Verachtung für die Menschenrechtsfrage. Seine Bereitschaft, massenhaftes Blutvergiessen, Folter und Verschwindenlassen durch verbündete, antikommunistische Militärregime zu billigen, zu unterstützen und zu akzeptieren, spiegelt sich in verschiedenen freigegebenen Dokumenten wider.
4. Kissinger und die Operation Condor
Kissingers Widerstand, die Militärregime der Südhalbkugel zur Einhaltung der Menschenrechte zu drängen, erstreckte sich auch auf deren internationale Mordoperationen, die als Operation Condor bekannt sind. Anfang August 1976 wurde Kissinger von seinem Stellvertreter über die Pläne unterrichtet, im Rahmen von Condor «Terroristen […] in ihren eigenen Ländern und in Europa zu finden und zu töten».
Seine Berater überzeugten ihn, eine Demarche zu genehmigen, die an General Pinochet in Chile, General Videla in Argentinien und Junta-Offiziere in Uruguay gerichtet werden sollte – die drei Condor-Staaten, die am meisten in grenzüberschreitende Mordaktionen verwickelt waren. Doch als die US-Botschafter in Chile und Uruguay Einwände gegen die Übergabe der Demarche erhoben, zog Kissinger sie einfach zurück und ordnete an, dass «in dieser Angelegenheit keine weiteren Massnahmen ergriffen werden».
Fünf Tage später fand der kühnste und berüchtigtste Terroranschlag von Condor in der Innenstadt von Washington D.C. statt, als eine von Pinochets Agenten platzierte Autobombe den ehemaligen chilenischen Botschafter Orlando Letelier und seinen jungen Kollegen Ronni Moffitt tötete.
Zum Original-Bericht des National Security Archive in Washington hier.