Man ist in Deutschland zwar dabei, die ökonomischen Grundlagen zu zerstören, doch die Linie ist klar: Endlich einmal wieder Imperialist sein! Ohne Wenn und Aber! Das ist der große Traum.
In Phasen großer Umbrüche liegen Triumphalismus und Kassandrarufe oft nah beieinander. Jetzt, wo so viel von einer Zeitenwende geredet wird, ist es angebracht, noch einmal auf das Jahr 1990 zu schauen.
Unzweifelhaft handelte es sich damals um eine Zeitenwende. Die Sowjetunion brach zusammen, das von ihr dominierte Sicherheitssystem implodierte und viele Staaten erlangten tatsächliche Souveränität.
In Deutschland fiel die Mauer und in ganz Europa herrschte Aufbruchstimmung. Man sah, so glaubten viele, einer demokratischen Zukunft entgegen und war guter Dinge. Der Amerikaner Francis Fukuyama (1) sprach vom Ende der Geschichte. Er dachte dabei in Hegel’schen Kategorien und glaubte, die Demokratie habe sich historisch materialisiert.
Traum und Warnungen
Spätestens als diese These vor allem aus dem US-amerikanischen Raum laut wurde, erklangen die ersten Warnungen, die als Kassandrarufe abgetan wurden, die auf einen Umstand hinwiesen, der sich als gravierend herausstellen sollte: Wenn es keine Konkurrenz der Systeme mehr gebe, wieso sollte der Kapitalismus sich noch das Antlitz einer liberalen Demokratie und vor allem einer sozialen Marktwirtschaft geben?
Bei der Betrachtung des Fortlaufs der Geschichte muss konzediert werden, dass selbst Kassandra noch gemäßigt war. Die Epoche des Wirtschaftsliberalismus (2) wurde genauso eingeläutet wie die militante Expansionsstrategie via Regime Change oder direkter militärischer Intervention. Die Liste dieser Ereignisse ist lang und sie unterliegt, wie sollte es anders sein, der medialen Verdrängung.
Dass das Residuum der mächtigen Sowjetunion nun zu einem sich in der Auflösung befindlichen Russland zusammengeschmolzen war, veranlasste vor allem die imperialen Strategen in den USA dazu, von einer unbedeutenden Regionalmacht zu sprechen. So macht man aus Verlierern revisionistische Mächte, die irgendwann zurückschlagen.
Die unaufhaltsame, systematische NATO-Osterweiterung auf der einen Seite und der Versuch während der Jelzin-Ära (3) Russland zu filetieren wie in der Hedgefond-Philosophie, hat jedoch zu einem mentalen Wandel in Russland geführt.
Kapitalismus pur ist selbst in den konsequentesten Kreisen der Opposition keine Alternative mehr, genauso wenig wie ein Großteil der Bevölkerung bereit wäre, jede Form der militärischen Bedrohung schicksalsergeben hinzunehmen. Das wird in den Fischbratküchen der Vulgärpolitik zwar immer wieder behauptet, mit der Realität hat das jedoch nichts zu tun.
Wieder Imperialist sein
Deutschland, das im Gegensatz zu den ehemaligen Staaten aus dem früheren Einflussbereich der Sowjetunion zwar die russischen, englischen und französischen, aber nicht die US-amerikanischen Streitkräfte abziehen sah, blieb zwar – auch nach der Vereinigung – zunächst ein ökonomischer Riese in Europa, militärisch aber ein Zwerg.
Das ist bis heute so geblieben. Doch die ausgerechnet von dem Kanzler, der sich in Windeseile von einem kritischen Beobachter der Eskalation zu einem regelrechten Waffenkanzler gewandelt hat, ausgerufene Zeitenwende (4) wird von vielen als Chance angesehen, an das imperiale deutsche Zeitalter anzuknüpfen.
Es ist zwar nicht belegt, was mit diesem Kanzler in den Katakomben des Weißen Hauses geschehen ist, die Wirkung ist jedoch nicht zu übersehen.
Flankiert von einer durch Monopolisierung und amerikanischer Infiltration verkommenen Presse wird nun von einer neuen großen deutschen Stärke schwadroniert, die ausgerechnet der Vorsitzende der SPD am Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion in Form des Unternehmens Barbarossa ausrief und das Ziel der europäischen militärischen Führungsmacht Deutschland verkündete.
Dass man gleichzeitig dabei ist, die ökonomischen Grundlagen jeglicher Form von Größe zu zerstören, ist bei dem ideologischen Defiliermarsch mal eben in Vergessenheit geraten. Endlich einmal wieder Imperialist sein! Ohne Wenn und Aber! Das ist der große Traum. (5)
Quellen und Anmerkungen
(1) Yoshihiro Francis Fukuyama (Jahrgang 1952) ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler. Fukuyama ist Direktor des Zentrums für Demokratie, Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit am Freeman Spogli Institute for International Studies der Stanford University, wo er das Master-Programm in Internationaler Politik leitet. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Entwicklungsländer, Nationenbildung, Demokratisierung, Governance, Internationale Politische Ökonomie, strategische und Sicherheitsfragen. Fukuyamas meistzitierte These ist die vom Ende der Geschichte (als Buch 1992 unter dem englischen Titel “The End of History and the Last Man” erschienen). Damit ist der vermeintlich ultimative Siegeszug der liberalen Demokratie nach dem Ende des Ostblocks und dem Zerfall der Sowjetunion gemeint.
(2) Wirtschaftsliberalismus ist die ökonomische Ausprägung des Liberalismus, einer Grundposition der politischen Philosophie und eine historische und aktuelle Bewegung, die eine freiheitliche politische, ökonomische und soziale Ordnung anstrebt. Der wirtschaftliche Liberalismus, dessen theoretische Grundlagen durch den schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723 bis 1790) entwickelt wurden, geht von der freien wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeit jedes Einzelnen aus. Die nie erklärte und fast religionsartig verklärte “unsichtbare Hand des Marktes” sorgt laut Smith dafür, dass bei der Verfolgung der eigennützigen Ziele der einzelnen Menschen nach Gewinn und Wohlstand gleichzeitig dem Wohl der Gesellschaft gedient werde, auch ohne dass dies beabsichtigt ist.
(3) Boris Nikolajewitsch Jelzin (1931 bis 2007) war ein sowjetischer bzw. russischer Politiker. Von 1991 bis 1999 war Jelzin der erste Präsident Russlands und zudem das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte Russlands. Unter Jelzin wurde die ehemalige UdSSR in den Kapitalismus überführt, was einem Ausverkauf des Landes gleich kam.
Im Oktober 1991 kündigte Jelzin eine Aufhebung aller Preiskontrollen mit 1. Januar 1992 an. Um die Inflation zu kontrollieren, wurden ein Austeritätsregime eingeführt und Staatsausgaben für das Sozialsystem und Förderungen gekürzt. Zudem wurde eine Coupon-Privatisierung durchgeführt, jedoch gelangten die an alle Bürger ausgegebenen Gutscheine für den Erwerb von Aktien ausgewählter Staatsunternehmen an Zwischenhändler, die sie an die Nomenklatura weiterverkauften. Dies trug wesentlich zum Entstehen der postsowjetischen Oligarchie bei.
Russland rutschte in den Folgejahren in eine katastrophale Wirtschaftskrise und war im August 1998 zahlungsunfähig. Erst am 31. Dezember 1999 erklärte Jelzin seinen Rücktritt. Die Regierungsgeschäfte übernahm der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin. Jelzin wurde im Gegenzug die Freiheit vor Strafverfolgung garantiert.
(4) Foreign Affairs (5.12.2022): The Global Zeitenwende – How to Avoid a New Cold War in a Multipolar Era. Auf https://www.foreignaffairs.com/germany/olaf-scholz-global-zeitenwende-how-avoid-new-cold-war (abgerufen am 22.5.2023).
(5) Als Imperialismus wird das Bestreben eines Staatswesens (beziehungsweise seiner politischen Führung; des herrschenden Regimes) bezeichnet, in anderen Ländern oder bei anderen Völkern politischen und wirtschaftlichen Einfluss zu erlangen. Der Imperialist realisiert dies in der Regel durch den Aufbau ungleicher wirtschaftlicher, kultureller oder/und territorialer Beziehung bis hin zur Unterwerfung der anderen Völker und deren Eingliederung in den eigenen Machtbereich. Der Begriff Imperialismus wurde im 16. Jahrhundert geprägt. Er galt als Negativbezeichnung für eine auf Militärmacht und Despotie – im Gegensatz zum Rechtsstaat – basierenden Herrschaft. Als eigentliches Zeitalter des Imperialismus gilt das späte 19. Jahrhundert.