Wow, ich bin vollkommen geflasht von der Geschichte um ein Teenager-Waisenmädchen, das sich in einen Inuit (Innu) verliebt und ihm in die Wildnis folgt. Auch wenn Ihr den Autor nicht kennt und Euch der Verlag gar nichts sagt, nehmt Euch bitte kurz Zeit, ausnahmsweise in die Rezension zu diesem Juwel zu klicken.

Wie gesagt, das Ausgangssetting ist extrem spannend. Die 15-jährige blonde Siedlertochter Almanda, die nach dem Tod der Eltern während der Überfahrt von Irland nach Kanada, bei Onkel und Tante in einer Siedlung am Rande der Zivilisation im Norden in der Provinz Quebec lebt, verliebt sich Knall auf Fall in den Inuit Thomas Siméon, der auf der Jagd nach Trappen im Kanu in ihrem Dorf vorbeigekommen ist. Sie zieht mit ihm in die Wildnis und lebt fortan ein entbehrungsreiches Nomadenleben im Zelt im wilden Norden.

Wundervoll werden die Kraft der Natur, die unbändige Wildnis, der harte Überlebenskampf vor allem im Winter, die fremde Familie, die sie sehr wohlwollend aufnimmt, die Verständigungsprobleme mit der neuen, völlig unbekannten Sprache und andere Anpassungsprobleme, die Almanda bravourös meistert, beschrieben. Im ersten Winter ist sie auch noch monatelang völlig alleine mit den Frauen der Familie, denn Thomas zieht noch weiter in den Norden auf die Jagd nach Fellen, was für die Anfängerin Almanda viel zu gefährlich wäre. Das Mädchen wächst an ihren Aufgaben, wird nach und nach zur Frau, zum vollwertigen Mitglied der Familie, zur talentierten Jägerin, Überlebenskünstlerin und Mutter.

Ab dem Moment habe ich befürchtet, die Story würde langweilig werden, ewig mit dem Lauf der Natur leben, gibt halt nicht viel Fleisch für einen spannenden Plot her, aber der Autor hat mich total überrascht. Das ganze Land ist plötzlich im Umbruch, die Innu auf dem Rückzug, weil die Holzfäller eine Schneise der Verwüstung in die Natur fräsen, die Bäche, ergo ihre Verkehrswege mit Baumstämmen verstopfen, die Clans von ihren Jagdgründen fernhalten und voneinander isolieren. Dadurch wird die Haupteinnahmequelle der Innu, der Fellhandel, vernichtet und die Stämme in Reservate gesperrt, die die Familien nicht ernähren können. Eine zusätzliche Belastung sind die Siedlerfamilien, die mit den Holzfällern kommen und die Lagerplätze der Indigenen bevölkern, verwüsten und bebauen.

In diesem Setting ist die mittlerweile zur Mutter gereifte Protagonistin am besten gerüstet, die Interessen der Großfamilie und des Stammes zu vertreten, gerade weil sie die andere Welt auch kennt. Almandas Kinder gehen auf ihre beharrliche Intervention hin von klein auf erstmals zur Schule und es wird eine Blockhütte für die Familie gebaut. Die Verwandten schließen sich an, schicken ihre Kinder auch in die Dorfschule, bauen sich Hütten für den Winter und wenden sich beruflich dem Kunsthandwerk zu, um für das Überleben zu sorgen.

„Vom Territorium abgeschnitten mussten wir lernen, anders zu leben. Direkt von einem Leben der Bewegung zu einem Leben der Sesshaftigkeit zu wechseln. Wir wussten nicht, wie wir das anstellen sollten, und wissen es noch immer nicht. Freudlosigkeit machte sich breit und ließ ihre Bitterkeit in die Seelen sickern. […]
Unser Wissen nutzte nichts. Männer wie Thomas fühlten sich leer, und ihre Blicke erloschen nach und nach. Sie mussten uns nicht töten. Sie mussten uns nur aushungern und uns dabei zuschauen, wie wir nach und nach starben. Viele flüchteten sich in den Alkohol.“

Nach der atemberaubenden Ungerechtigkeit des Landraubes und der quasi Vernichtung der indigenen Bevölkerung, kam in der kanadischen Geschichte noch ein weiteres unglaubliches Verbrechen hinzu. Eines Tages wurden den Innu alle Kinder im Schulalter weggenommen und weit entfernt in katholische Internate gesteckt. Dabei sind auch viele der anvertrauten Zöglinge unter ungeklärten Umständen verstorben. Aufarbeitung und Aufklärung dauern in Kanada bei diesem Verbrechen bis zur heutigen Zeit noch immer an. Einer der unzähligen Belege: https://www.derstandard.at/story/2000127087758/kanadas-dunkles-kapitel-mit-seiner-indigenen-bevoelkerung

Nach den Holzfällern und Siedlern kamen dann auch noch Touristen und rücksichtslose Autofahrer, die ungestraft Fußgänger überfuhren. In diesem Fall erwacht erneut Almandas beharrliches Kämpferherz, das sie mit ihrer Beschwerde bis in die Hauptstadt des Bezirks zu einem Politiker fahren lässt.

Ein paar Faktoren, warum ich gar so begeistert vom Roman war, muss ich auch noch anmerken. Es gibt keine einzige romantisch kitschige Szene, wofür ich dem Autor unendlich dankbar bin. Weiters ist natürlich alles in der Geschichte, wirklich exakt so wie geschildert passiert, denn Michel Jean beschreibt hier die Biografie seiner Urgroßmutter Almanda Siméon. Zudem gibt es auch einige Fußnoten, die sehr gute Hintergrundinformationen zu den Territorien und der Geschichte dieses in Europa doch eher unbekannten Landstriches liefern.

Zwei winzige Kritikpunkte habe ich noch an den Verlag adressiert. Bitte mehr Kartenmaterial, vor allem eine Überblickskarte von Kanada, in der das Gebiet eingezeichnet ist, denn ich konnte die Location, in der der Roman spielt, einfach nicht verorten. Und unbedingt bessere Papierqualität bei den Fotos. Das heißt dann zwar, dass alle Bilder aus technischen Gründen in der Mitte sein müssen und nicht im Kontext gezeigt werden können, aber einige der Bilder saufen so extrem ab, dass zum Beispiel die Holzstämme auf den Flüssen gar nicht erkennbar sind.

Ich bin restlos begeistert. Der Roman war sehr spannend und lehrreich und hat alle Preise verdient. Buchstoffhöhepunkt!

Rezension von awogfli 

Kukum von Michel Jean ist im Wieser Verlag als Hardcover erschienen. Nähere Infos zum Buch auf der Verlagsseite.

Der Originalartikel kann hier besucht werden