Es ist diese wunderbare Poesie von Marguerite Duras, die Resnais in seinem Film zu Wort kommen lässt, eine Poesie der Liebe und des Todes zugleich. „Du hast nichts gesehen in Hiroshima.” „Ich habe alles gesehen in Hiroshima.“
Zwei nackte Körper in der Dunkelheit. Im Licht glänzen Staub und Asche auf den lebendigen Körpern. Dann nur noch der Schweiss. Staub und Asche sind verschwunden. Schon in dieser leisen, wunderschönen Eingangsszene werden Gegenwart und Vergangenheit, Da-Sein und Erinnerung verschmolzen. „Du hast nichts gesehen in Hiroshima”, sagt die männliche Stimme immer wieder. Und wir hören die weibliche Stimme sagen: „Ich habe alles gesehen in Hiroshima.” Sie erzählt von ihrer Begegnung mit den Lebenden und den Toten, von ihren langen Besuchen im Krankenhaus, in dem die Überlebenden von Hiroshima warten – auf den Tod oder auf das Weiterleben. Von ihren Besuchen im Museum, von den Filmen, die sie gesehen hat über Hiroshima, von dem Versuch, alles so wahrheitsgetreu nachzustellen, wie es war, von der Illusion, die dadurch geradezu perfekt geworden scheint. Sie hat alles gesehen. Und sie hat nichts gesehen.Die erste Viertelstunde lässt uns Alain Resnais nur die Stimmen des Mannes und der Frau hören, die sich lieben und die miteinander sprechen – über Hiroshima. Er zeigt uns Bilder aus dem Museum, von Menschen auf der Strasse, von den verkrüppelten, zerschundenen Menschen, den Objekten, die durch den Atombombenabwurf fest zusammengeschmolzen sind. Und so nahe uns Hiroshima in diesen fünfzehn Minuten wird, so fern ist es doch, so ungreifbar wie Auschwitz, das Hiroshima vorausging. So wenig fassbar wie begreifbar.
Sie – ist eine französische Schauspielerin, die in Hiroshima eine Rolle in einem Film über das Unfassbare mitgespielt hat und am nächsten Tag wieder nach Paris zurückfliegen will. Er – ist ein japanischer Architekt, der sie kennen gelernt hat. Sie verbringen die Nacht vor dem Abflug miteinander. Sie lieben sich. Er liebt sie. Sie liebt die Erinnerung, sie liebt ihn aus der Erinnerung.
„So wie in der Liebe die Illusion
da ist, diese Illusion, nicht
vergessen zu können, so hatte ich
die gleiche Illusion bei Hiroshima.
Ich werde nicht vergessen können,
genau wie in der Liebe.”
Ihm, dem japanischen Liebhaber, erzählt sie als erstem von ihrer Liebe gegen Ende des Krieges zu einem deutschen Soldaten. Sie war jung, vielleicht 18 Jahre alt. Uns sie liebte diesen „Feind” – in Nevers, ihrem Heimatort –, bis er angeschossen wurde und Stunden danach starb. Sie wurde kahl geschoren, eingesperrt in einen Keller, galt als Kollaborateurin –
„Die Gesellschaft rollt über meinen
Kopf. Anstelle des hohen Himmels
gezwungenermassen. Ich seh’ von der
Gesellschaft nur die Füsse. Abgehetzt
und überstürzt in der Woche, ruhig
und gemessen an Sonn -und Feiertagen.”
– bis ihre Eltern sie mit dem Fahrrad nach Paris schickten.
Immer wieder treffen sich Sie und Er in Hiroshima; in den von Leuchtreklame überfluteten Strassen, in der Teestube, im Hotel, in einer Bar. Er hört ihr zu, sie erzählt alles, was sie weiss. Er will, dass sie bleibt, bleibt. Sie will gehen und sie will bleiben.
Wenn sie erzählt, von ihrer Liebe, wenn sie sich erinnert, dann wird einem Emmanuelle Rivas „Sie” so nahe, so furchtbar nahe, und zugleich wird sie wunderbar schön. Es ist diese Nähe und Schönheit, die in einen harten, unüberwindlichen Kontrast zu dem mit dem Begriff Katastrophe eigentlich nicht Fassbaren gerät. Es ist diese Liebe, die zugleich Erinnerung ist, es ist diese individuelle Katastrophe einer Kriegsliebe, an die „Er” sie erinnert, es ist diese gnadenlos schöne und zugleich ebenso gnadenlos schreckliche Erinnerung, die das individuelle Schicksal mit dem der Geschichte verschmelzt.
„Hiroshima, das bist du”, sagt sie zu ihm. „Und du bist Nevers – Nevers in Frankreich”, antwortet er. Der Himmel ist seit Auschwitz und Hiroshima geschlossen. Die Religion scheint ihre Berechtigung, ihre Rechtfertigung, ihre Stellung verloren zu haben. Es ist nichts ausser dem Unfassbaren, bei ihr wie bei ihm wie in der Geschichte. Ihre Haare, die man ihr abgeschnitten hatte, sind wieder gewachsen; den Opfern von Hiroshima, so sie denn überlebt haben, sind die ausgefallen. 14 Jahre sind vergangen. Als das Leben für sie in Paris wieder zu beginnen schien, hörte sie von Hiroshima, von den Abertausenden von Toten.
Resnais zeigt eine ganze Welt, eigentlich „die” ganze Welt nach Auschwitz und Hiroshima in einer Frau und einem Mann, die zusammenfinden und sich lieben, die nicht vergessen können und nicht vergessen wollen, die die Erinnerung wach halten und damit eigentlich nicht leben können. Man könnte auch sagen, er zeigt die Unmöglichkeit, über Hiroshima zu denken, nach Hiroshima so zu leben wie vor Hiroshima. Während der Tod ihres Geliebten ihr nur noch die Erinnerung lässt, die immer wieder verblasst und doch immer wieder aufscheint, verblasst auch die Erinnerung an Hiroshima und kommt doch immer wieder zurück. „Mein Leben geht weiter. Dein Tod geht weiter”, sagt sie ihm über ihren deutschen Geliebten. „Mein Leben geht weiter. Euer Tod geht weiter”, könnte er antworten in Bezug auf die Opfer des Atombombenabwurfs.
„Hiroshima mon amour” ist aber nicht in einem simplen Sinn ein Film gegen das Vergessen. Man kann Hiroshima vielleicht verdrängen, sogar verleugnen, aber vergessen? Die Erinnerung allerdings verändert sich mit zunehmender Zeit. Die Ereignisse prägen sich ein, aber immer wieder anders, immer wieder neu, je nachdem, wie sich das eigene Leben fortentwickelt – anders bei den Überlebenden, und wieder anders bei denjenigen, die es nur gehört, über es gelesen und Filme über Hiroshima gesehen haben.
Es ist diese wunderbare Poesie von Marguerite Duras, die Resnais in seinem Film zu Wort kommen lässt, eine Poesie der Liebe und des Todes zugleich, einer Liebe, die tief geht, und das im Angesicht eines Todes, der das Bild vom Tod, vom Leben und von der Liebe radikal verändert hat – durch Auschwitz und Hiroshima. Es ist diese wunderbar-schreckliche Poesie und es sind diese ebenso wunderbaren und schrecklichen Bilder von Resnais, der Verzweiflung ebenso nahe wie der Hoffnung, dem Tode ebenso nah wie dem Leben, die diesen Film zu einem Erlebnis werden lassen – unterstützt durch die beiden phantastischen Schauspieler Emmanuelle Riva und Eiji Okada.
„Hiroshima mon amour” erzählt vom Leben und vom Tod und von der Liebe – vor allem aber von dem lebendigen und verzweifelten Aufbegehren gegen eine Welt, die ihre eigene Selbstzerstörung möglich gemacht hat.
Hiroshima, mon amour
Frankreich 1959 – 90 min.
Regie: Alain Resnais
Drehbuch: Marguerite Duras
Darsteller: Emmanuelle Riva, Eiji Okada, Stella Dassas
Produktion: Anatole Dauman, Samy Halfon
Musik: Georges Delerue, Giovanni Fusco
Kamera: Michio Takahashi, Sacha Vierny
Schnitt: Jasmine Chasney, Henri Colpi, Anne Sarraute