Demokratie braucht Gemeinschaft. Sie lebt von Teilhabe und Teilnahme. Doch diese Grundanforderung der Demokratie scheint zunehmend gefährdet. Kein guter Zustand. Ein neues Buch liefert eine kluge Gegenwarts-Diagnostik und redet uns ins Gewissen.

Von Helmut Ortner

Die Hölle, so wusste Jean-Paul Sartre, «das sind die Anderen». In eine besondere Spielart dieser Hölle versetzt uns die Demokratie, die uns als Staatsform nicht nur ein großes Versprechen politischer Freiheit gibt, sondern auch die Zumutung auferlegt, die «Anderen» mit all ihren abweichenden Meinungen, Bedürfnissen und Interessen tatsächlich zu ertragen. Ja, Demokratie ist mitunter anstrengend, langwierig, nicht selten ermüdend.

Sophie Schönfelder, Parteienforscherin und Professorin für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf lässt Sartre gleich zu Beginn ihres Essays zu Wort kommen, um sich auf den folgenden Seiten ergiebig dem Zustand unserer demokratischen Wirklichkeit zu widmen: präzise, analytisch und emphatisch. Ihr Anliegen wird rasch sichtbar: um den vielfältigen Herausforderungen gewachsen zu sein, der unsere Demokratie ausgesetzt ist, braucht es vor allem eines: die Bereitschaft des Einzelnen, sich zu »vergemeinschaften«.

Wenn wir uns darauf verständigen können, dass Demokratie nicht das ist, auf was die Bürgerinnen und Bürgern Anspruch haben, sondern etwas, das uns in Anspruch nimmt – dann sind wir demokratiefähig. Vom ICH zum WIR – das ist die Formel, die sich eine demokratische Gesellschaft im besten Falle selbst auferlegt. Demokratie, so die Autorin, ist eine Zumutung, weil sie andauernder, empathischer Zuwendung bedarf. Sie lebt von Teilnahme und Teilhabe, von Verpflichtung und Verantwortung. Viel bequemer ist es, wenn ein vermeintlich starker Mann – wahlweise auch Frau – durchregiert, wenn man sich nicht allzu viele Gedanken machen muss. Genau mit diesem Versprechen einer radikalen Reduktion von Komplexität locken die Feinde der Demokratie. Sie locken mit der Unfreiheit.

Freiheit aber – wer würde das bezweifeln, macht den Kern von Demokratie aus. Demokratie ermöglicht nicht nur Freiheit, sie ist selbst Ausdruck von Freiheit. Der Begriff ist so etwas wie die »Leitwährung«. An ihm müssen sich Institutionen und Verfahren messen lassen. Die Frage nach der angemessenen Interpretation des Begriffs Freiheit stellt sich in besonderer Dichte in Krisenzeiten. Tatsache ist: wir leben im permanenten Krisenmodus. Die einzige verlässliche Erwartung an die Zukunft besteht darin, dass noch weitere Krisen auf uns zukommen: Krieg, Klima, Corona, Inflation: Alte Gewissheiten verlieren ihre Gültigkeit, etwa die vom steten Wachstum, Frieden und Wohlstand. Krisen sind in der modernen Gesellschaft kein Ausnahmefall, sondern er Normalzustand. Moderne Gesellschaften befinden sich gewissermaßen immer im Ungleichgewicht. Wir leben in einer fragilen Wirklichkeit.

»Eine kluge Gegenwartsdiagnostik, die uns ins Gewissen redet. Ein wichtiges Buch zur rechten Zeit«

Demokratie ist eine fragile Konstruktion, das konstatiert auch die Autorin. Demagogen, Populisten Verschwörungs-Erzähler und Untergangs-Propheten aller Couleur erkennen und nutzen ihre Chance, sie zu schwächen. Und viele folgen ihnen bereitwillig. Wo Vertrauen aber fehlt, entsteht Enttäuschung, Rückzug, Ignoranz. Teilnahmslosigkeit. Kein guter Zustand, denn Demokratie lebt auch von der Hoffnung, dass Dinge besser werden. Der Verlust von Zukunftsglauben ist ein Problem für die Demokratie. Geringe Wahlbeteiligungen sind bedenkliche Signale, ebenso das Votum für populistische Parteien. In ostdeutschen Bundesländern wie Thüringen erreicht die AfD konstant weit über 20 Prozent der Stimmen, in Sachsen kommt die Partei auf über 26 Prozent. Demokratie-Verachtung grassiert nicht allein im Osten Deutschlands, auch der westdeutsche Mittelstands-Hedonist – beruflich erfolgreich, gut versorgt und von akuten Armutsängsten weitgehend verschont – mischt munter mit. Es sind nicht allein kauzige, in Cordhosen-bewaffnete Reichsbürger, die aus der Bahn gleiten und einen verschlungenen Pfad demokratie-feindlicher Polit-Häme eingeschlagen haben. Die radikalisierte Peripherie der Gesellschaft ist unübersehbar auch von Mitgliedern der bürgerlichen Mitte besiedelt. Populismus greift auch auf dem Golfplatz. Wir müssen aufpassen, was den demokratischen Himmel verdunkelt. Gesellschaften können Zivilität lernen – und verlernen. Es gibt einen Prozess der Ent-Demokratisierung, der Ent-Solidarisierung, der nur schwer reversibel ist.

Es ist die Stärke des Buches, unseren Blick dafür zu schärfen, was uns unsere Demokratie wert sein sollte. Die Autorin weiß, gegen die Erosion demokratischer Errungenschaften gibt es keine »Wunderwaffe«. Es ist ein beständiger, mitunter mühsamer Weg. Und sie hat einen alltagskompatiblen Vorschlag: möglichst viele Orte des Austauschs schaffen, die Partizipation ermöglichen. Orte die Demokratie »erlebbar« machen, sich als Gemeinschaft zu begreifen, miteinander zu leben, miteinander zur reden, miteinander zu regieren. Es braucht, staatlich geförderte Begegnungsangebote zur Einübung, Stabilisierung und Weiterentwicklung einer demokratischen Kultur. Denn: »Demokratie ist nichts Selbstverständliches« – so lautet der erste Satz ihres Essays.

Sophie Schönfelder ist eine kluge Gegenwartsdiagnostik gelungen, die uns ins Gewissen redet. Ein wichtiges Buch zur rechten Zeit.


Buchhinweis:

Sophie Schönfelder, Zumutung Demokratie – Ein Essay, im C.H. Beck Verlag, 188 Seiten, 16 Euro

Lob der Demokratie oder: Vom Ich zum Wir