Es gibt Anlässe in der Geschichte, die genutzt werden müssen. Es sind Gelegenheitsfenster, die aufzeigen, dass die Zeit gekommen ist, entschlossen voranzukommen. Unentschlossenheit ist unter solchen Umständen nicht ratsam und sogar verwerflich. Aktuell ist dies der Fall hinsichtlich der Möglichkeit, einen qualitativen Sprung in Richtung der Einheit Lateinamerikas und der Karibik zu vollziehen.
Die Chance
Die Geschichte bietet viele Beispiele für kritische Augenblicke, an denen Völker dazu neigen, rückständige Formen der Unterdrückung und Verkrustungen abzuschütteln. Diese Kreuzungen treten auf, wenn der Niedergang unterdrückender Kräfte offensichtlich ist oder in Zeiten, in denen Konflikte zwischen Mächten einen Riss für die Befreiung eröffnen.
Im ersten Fall schwächen durch innere Widersprüche aufgehäufte Probleme die einst unbesiegbare Macht und enthüllen ihre tönernen Füße. In solchen Momenten wird das nahende Ende einer Periode zur Gewissheit und verbreitet sich. In der zweiten entwickeln sich parallel andere Strukturen und fordern die alleinige Macht der vorherigen Hegemonie heraus.
Dies geschah so beim Fall des Weströmischen Reiches, als verschiedene einfallende Stämme die Dekadenz ausnutzten, die durch interne Spaltungen, Korruption und die Schwierigkeiten, die militärische Macht über ausgedehnte Gebiete aufrecht zu erhalten, verursacht wurde. Es entstanden verschiedene Königreiche (fränkisch, thüringisch, angelsächsisch, sächsisch, westgotisch, ostgotisch, bayerisch usw.), die die kulturelle Grundlage für die späteren europäischen Staaten bildeten. Es entstand aber auch ein neues Reich, das diesen Ländern seinen Herrschaftsstempel aufdrücken sollte, das der zweiköpfigen christlichen Kirche mit seinen Zentren in Rom und Konstantinopel.
Jahrhunderte später, im Zuge der Zerstückelung des Osmanischen Reiches und nach Jahrzehnten weiterer Ausplünderung durch Frankreich und Großbritannien, erlangten die Staaten, die heute die politische Landkarte des Nahen Ostens und eines Teils des Balkans bilden, nationale Unabhängigkeit. Ebenso eröffneten sich nach dem Ende des Krieges zwischen den Achsenmächten und den Alliierten die meisten, von den europäischen Imperien bis dahin unterworfenen, ausgebeuteten und versklavten Völker Asiens, Afrikas und der Karibik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg zur Selbstbestimmung.
Die Welt entwickelte sich von 51 nationalen Entitäten, die 1945 die ursprüngliche UN-Charta unterzeichneten, über 127 Staaten im Jahr 1970 bis hin zu den 193 souveränen Ländern (197 sind anerkannt) von heute.
Etwas Ähnliches war im vorigen Jahrhundert in Lateinamerika geschehen, wo das zweite und dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts den Beginn der Unabhängigkeit von der spanischen Krone markierten. Als Erster hatte es Haiti bereits 1804 geschafft, die Franzosen zu vertreiben, die Dominikanische Republik trennte sich 1844 von den Franzosen, Panama 1903 von Kolumbien und Kuba schaffte es, sich 1902 zunächst von Spanien zu befreien, und dann von der erstickenden Bevormundung durch die Vereinigten Staaten erst nach der Revolution von 1959. Die Vereinigten Staaten von Amerika versuchten unter der Monroe-Doktrin die Vorherrschaft über die gesamte Region zu übernehmen, um die Hegemonie der vorherigen Imperien durch eine Eigene zu ersetzen. Fast ein Jahrhundert nach der Rede, in der der fünfte US-Präsident diese (die Monroe-Doktrin) enthüllte, scheint dieser eitle und illegitime Herrschaftsanspruch für immer zu verschwinden und es bietet sich die Möglichkeit, die künstlichen Spaltungen zu überwinden, die von den republikanischen Eliten im postkolonialen Amerika erzeugt wurden.
Das Kräfteverhältnis heute
Nach Lulas Sieg in Brasilien lässt sich die politische Landkarte Lateinamerikas und der Karibik zusammenfassend wie folgt gruppieren: In Südamerika qualifizieren sich von den zwölf unabhängigen Ländern (ohne Französisch-Guayana) neun fest in der integrationistischen Kategorie (Venezuela, Bolivien, Argentinien, Kolumbien, Chile, Guyana, Surinam, Peru und Brasilien), und nur drei Regierungen setzen noch weiter auf die zerfallende, mit dem Imperialismus verknüpfte, neoliberale Ordnung (Ecuador, Paraguay und Uruguay).
In Mittel- und Nordamerika sind heute Mexiko zusammen mit Honduras und Nicaragua feste Säulen der Integration, während andere Länder, die von unterschiedlichen rechten Fraktionen regiert werden, ernsthafte Konflikte mit den Vereinigten Staaten austragen, die hauptsächlich, neben anderen Aspekten, durch geopolitische Interessenunterschiede im Zusammenhang mit den durch Chinas Präsenz und Unterstützung gewährten Vorteilen verursacht werden.
In der Karibik bilden die vom britischen Kolonialismus emanzipierten Nationen zusammen mit einem unbeugsamen Kuba jenseits ihrer politischen geringfügigen Unterschiedlichkeiten einen relativ kompakten Block bei der Unterstützung von Prozessen hin zu Geschwisterlichkeit und Gemeinschaft. Ihr Inselstatus, die Größe ihres jeweiligen Territoriums, ihrer Bevölkerung und ihrer Wirtschaft, verbunden mit einem aus einer Vergangenheit von grausamer Sklaverei hervorgehenden Geist der Freiheit, haben ihre Führer wahrscheinlich schon frühzeitig davon überzeugt, dass Einigkeit der einzig mögliche Weg hin zur Souveränität ist.
Diese verheißungsvolle Aussicht wird noch betont durch Beobachtungen, in welcher Weise frühere, nach Vasallentum süchtige Regierungen in Ländern wie Mexiko, Chile, Kolumbien und Peru zusammengebrochen sind und dabei Formen der Zergliederung aufgehoben wurden. Organisationen wie die Gewaltfreie Allianz, die Lima-Gruppe oder die ProSur-Gruppe haben ihre Dreh- und Angelpunkte verloren, und heute werden Stimmen laut, die OAS, das den Befehlen der US-Diplomatie unterstellte „Ministerium der Kolonien“ endgültig abzulösen.
Im letzteren Fall versucht das vermeintliche Imperium alles erdenkliche, um den endgültigen Untergang einer Organisation zu verhindern, die in der Hitze des Kalten Krieges mit dem Ziel entstanden ist, die Regeln zu diktieren für die Ausrichtung des Kontinents auf die kapitalistische Macht des Nordens. Die aktuell laufenden Korrekturbemühungen zielen darauf ab, die Situation durch die Ablösung des derzeitigen Generalsekretärs Luis Almagro zu bereinigen. Gründe hierfür sind dessen amouröse Beziehung zu einem Untergebenen, die Komplizenschaft der OAS beim Putsch in Bolivien im Jahr 2019 herunterzuspielen und zu verschleiern, die schlussendliche Bestätigung des doppelten Betrugs bei der verfassungswidrigen und fehlerhaften Wahl von Juan Orlando Hernández in Honduras und vor allem der heftige und anhaltende Angriff auf die Regierung der Bolivarischen Republik Venezuela und ihres Präsidenten Nicolás Maduro, um nur einige der jüngsten Missetaten einer langen Liste zu nennen.
Zeitgleich mit dem unumkehrbaren Verfall der Organisationen, die geschaffen wurden, um die neuen aus der Welle der Volksregierungen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hervorgegangen Strukturen der regionalen Zusammenarbeit und Koordinierung zu untergraben, werden nun Stimmen für die Institutionalisierung der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) und die Neuzusammensetzung der UNASUR laut, seit April 2018 gelähmt durch die konzertierte Aktion von sechs ihrer Mitgliedsländer, die damals von der Rechten regiert wurden.
Widerstand gegen neue Modelle
Der entstehende Multilateralismus in einer vernetzten Welt impliziert eine entschlossene und mutige Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Wiederherstellung und tendiert dahin, den Finanz-Kapitalismus und die systemische und multidimensionale Krise, die er verursacht hat, ein für alle Mal zu überwinden.
Den Nationalstaaten, einst Projekte des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen im Rahmen einer wachsenden Selbstbestimmung der Völker, fehlt heute die notwendige Kraft, um sich allein gegen die fortschreitenden Plünderungen transnationaler Konzerne zu wehren. Daher ist die Bildung regionaler Blöcke mit Sinn für die Wahrung der Souveränität und gerechten Umverteilung unerlässlich, um die Asymmetrien auszugleichen, die durch die übermäßige Machtkonzentration auf der Grundlage neoliberaler Politik entstehen.
Aber es lohnt sich zu fragen, ob bloße zwischenstaatliche Bündnisschließungen in dieser neuen sich anbahnenden Phase der Integration ausreichen werden. Das Wesen der liberalen Demokratie in jedem der Staaten wird durch die Anhäufung realer, wirtschaftlicher und medialer Macht und ihrer langen in den Militär- und Justizapparat hineinreichenden Tentakel torpediert und zergliedert, wobei letzterer der Hauptakteur einer zweiten regionalen, gegen die wichtigsten Volksvertreter gerichteten, „Operation Condor“ ist.
Neben den destabilisierenden Unternehmungen der untergehenden Vormacht des Nordens und seiner lokalen Verbündeten taucht ein neuer Einflussfaktor gegen die Integration am Horizont auf. Das ist der ultrarechte Trend, der unter dem Deckmantel eines angeblichen Nationalismus und gestützt auf konservative Werte nun bei ausgegrenzten und unterjochten Bevölkerungsgruppen an Unterstützung gewinnt. Die andere reaktionäre Variante, die Gewalt anwendet, um den Fortschritt von Veränderungen zu behindern, ist von ähnlicher Ausrichtung, wenn auch mit sezessionistischen Absichten.
Bevor wir uns den möglichen Auswegen aus diesen rückschrittlichen Fallen zuwenden, ist es notwendig, unser Verständnis des Phänomens zu vertiefen. Auf der einen Seite ist klar, dass es bei einer bloßen Aufrechterhaltung des Ordnungsrahmens des kapitalistischen Systems für Millionen armer, hungriger und leidender Einwohner nur Raum für Verzweiflung oder Rebellion gibt, insbesondere für junge Menschen, die im gegenwärtigen System keine Zukunft haben. Der lauwarme reformistische Diskurs überzeugt nicht angesichts des Geheuls des radikalen Rudels, dessen vereinfachende Deutungsmuster sich, wie schon in anderen historischen Epochen, effektiv mit der Verunsicherung und gerechtfertigten Empörung der Bevölkerung verbinden.
Auf der anderen Seite hat es die Rechte geschafft, ihre verabscheuungswürdigen Argumentationen „salonfähig“ zu machen, hat es geschafft, sich lokal und international zu vernetzen, hat die Spaltungstendenzen in den Reihen, die für echte soziale Veränderungen eintreten, ausgenutzt (und gefördert) und hat bereits – was früher kaum möglich war – eine ganze Reihe Paradebeispiele von Individuen, die es schaffen, an die Spitze politischer Macht zu gelangen.
Offensichtlich wäre nichts davon möglich gewesen ohne eine von einem mit realer Macht ausgestattetem Gesellschaftsbereich vorgegebenen Strategie, der in dieser populistisch-konservativen Radikalisierung die geeignete Taktik gesehen hat, um jedem Versuch eines systemischen Wandels evolutionärer Natur entgegenzuwirken, (oder diesen zumindest zu verzögern).
Aber es gibt auch tiefgreifende subjektive Faktoren, die den Weg für das Eindringen gewalttätiger rechter Ideologien und Praktiken ebnen. Kurz gesagt gibt es zwei gleichzeitig wirkende Trends, um Unsicherheit und Destabilisierung im kollektiven Bewusstsein zu erzeugen. Einer dieser Trends ist die durch rasche technologische Veränderungen angetriebene Geschwindigkeit der Umgestaltung der externen Landschaft, die die Lebenswelt der Produktionsweise, der sozialen Organisation und der menschlichen Beziehungen verändern und mit Gewohnheiten kollidieren, die in der Lebenswirklichkeit breiter sozialer Sektoren verwurzelt sind.
Auf der anderen Seite untergräbt die soziale Zersplitterung die Solidarität, die herzlichen und brüderlichen Bindungen, und lässt Millionen von Menschen in einer herzzerreißenden Einsamkeit zurück, der es an Nähe und Schutz mangelt.
In diesem psychosozialen Szenario von Unsicherheiten und Leid sind regressive Erlösungsversprechen, in Verbindung mit einem Gefühl der Identitätsbewahrung, leicht in den am stärksten gefährdeten Gesellschaftsbereichen einzubetten. Diese Sektoren wurden nicht nur von neoliberalen Staaten vernachlässigt, sondern auch vom hegemonialen Kult, der nun versucht, mit einer Art moderner „Gegenreform“ einige der verlorenen Wurzeln in den populären Bereichen zurückzugewinnen. Die Bedeutungs- und Zukunftsleere, die die Menschen erleben, kann jedoch nicht mit veralteten Modellen gefüllt werden.
Die Einheit der Völker auf dem Weg zu einer neuen Revolution
Keine Revolution ist ohne massive Beteiligung der Bevölkerung möglich. Dieses Prinzip bezieht sich nicht nur auf den Kipppunkt historischen Wandels, der in Büchern meist präzise datiert wird, sondern genauso auf die Kontinuität und Beständigkeit des Wandels innerhalb der Menschen selbst und ihrer Lebensorientierung.
„Mensch“ ist heute jedoch ein vielgestaltiger Begriff, der, wenn er sich eindeutig auf die Mehrheiten bezieht, auch eine breite Kategorie sozioökonomischer, kultureller, geschlechtsspezifischer, generationeller und anderer Unterscheidungen umfasst. Diversitäten, die einen neuen gemeinsamen Nenner finden müssen, um in dieser neuen Zeit, in der frühere Besitztümer keine solide Basis mehr bieten, kreativ zu verschmelzen.
Das Zusammenwachsen der Vielfalt hat sich als grundlegende taktische Notwendigkeit herausgestellt, um die politische Vorherrschaft an verschiedenen Orten zu erobern, und erscheint am Horizont als eine bestimmende Richtung, um eine integrative Zukunft von der sozialen Basis aus aufzubauen.
Eine echte, partizipative Demokratie, ein Multikulturalismus vielfältiger und unterschiedlicher Farben und Überzeugungen, ein Ende der Gewalt, die Wiedergutmachung von Ungerechtigkeiten und die Suche nach einem neuen wirtschaftlichen Paradigma, das sozial gerecht und ökologisch verhältnismäßig ist, sind ohne Zweifel Teil des Programms, das die Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung in Lateinamerika und der Karibik verbessern wird.
Ein revolutionäres Programm, das aus der Anerkennung der gemeinsamen Menschlichkeit jenseits von Unterschieden verwirklicht werden kann, fiktive Grenzen überwindend, hin zu einer lateinamerikanischen und karibischen Einheit humanistischen Charakters mit der direkten Beteiligung ihrer Mehrheiten.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Ulrich Karthaus vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!