Industrie und Politik erwarten vom neuen Verteidigungsminister Einsatz für den Bau neuer Rüstungsfabriken. Erhöhung der Berliner Militärkredite von 100 auf 300 Milliarden Euro im Gespräch.
Die deutsche Rüstungsindustrie, Berliner Militärpolitiker und implizit auch die NATO äußern klare Erwartungen an den Nachfolger der gestern zurückgetretenen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Im Zentrum steht dabei die Forderung nach massiver Aufrüstung und dem Bau neuer Waffenfabriken, um die Ukraine langfristig mit Kriegsgerät aller Art ausstatten und zugleich die geschrumpften eigenen Waffenlager auffüllen zu können. Besondere Bedeutung wird zur Zeit der Herstellung von Munition beigemessen: Nach NATO-Angaben verschießen die ukrainischen Streitkräfte bis zu 10.000 Artilleriegeschosse pro Tag, gut zwei Drittel der US-Monatsproduktion (14.000). „Politik und Industrie“ müssten nun „gemeinsam einen Plan entwickeln, welche neuen Produktionslinien wir brauchen“, verlangt die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl. In der NATO heißt es, man benötige „Veränderungen“ wie in den USA im Zweiten Weltkrieg: Seien diese damals mit kaum 2.000 Militärflugzeugen in den Krieg gezogen, so hätten sie bis 1945 300.000 neue gebaut. Högl fordert zur Bewältigung der Rüstungspläne eine Aufstockung der Militärkredite („Sondervermögen“) von 100 auf 300 Milliarden Euro.
„Die Rüstungsproduktion hochfahren“
Zu den Aufgaben des Nachfolgers von Christine Lambrecht, die gestern offiziell ihren Rücktritt vom Amt der Verteidigungsministerin erklärt hat, wird insbesondere eine massive Beschleunigung der Aufrüstung gehören. Um einerseits „sicherzustellen, dass wir die Ukraine lange weiter [mit Waffen, d. Red.] versorgen können“, andererseits „die Vorräte der Alliierten“, die durch Lieferungen an Kiew dezimiert sind, „aufzufüllen“, müssten die Rüstungskonzerne der NATO-Mitgliedstaaten „die Produktion hochfahren“, fordert NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.[1] In der Zentrale des Militärbündnisses in Brüssel werde „eine Parallele zum Zweiten Weltkrieg [!] gezogen“, heißt es: Damals seien die USA „mit weniger als 2.000 Flugzeugen in den Krieg hineingegangen“, hätten aber „bis zu seinem Ende 300.000 gebaut“. „So sehen die Veränderungen aus, die wir brauchen“, werden Mitarbeiter des westlichen Pakts zitiert.[2] Aus der Berliner Regierungskoalition ist weithin Zustimmung zu hören. „Es geht gar nicht ohne neue Fertigungskapazitäten“, erklärt die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl.[3] „In den nächsten Jahren müssen wir die Produktion hochfahren“, kündigt Sara Nanni an, die Obfrau von Bündnis 90/Die Grünen im Verteidigungsausschuss.[4]
Gigantischer Munitionsbedarf
Die Rüstungspläne betreffen zur Zeit vor allem die Munitionsproduktion. Die ukrainischen Truppen verfeuern Berichten zufolge immense Mengen an Geschossen; war vor kurzem noch für den vergangenen Sommer von 5.000 bis 6.000 Artilleriegeschossen pro Tag die Rede, so hat die NATO ihre Schätzungen mittlerweile auf bis zu 10.000 Artilleriegeschosse pro Tag erhöht. Welche Folgen dies für die Belieferung der Ukraine mit sich bringt, verdeutlicht etwa die Tatsache, dass die Zahl der Artilleriegeschosse, die vor dem Krieg monatlich in den USA hergestellt wurden, mit rund 14.000 angegeben wird.[5] Washington will die Zahl bis zu diesem Frühjahr auf rund 20.000 monatlich aufstocken und anschließend bis 2025 auf 40.000 verdoppeln. Sogar dies könnte freilich den ukrainischen Spitzenverbrauch nicht annähernd decken. Entsprechend stockt etwa auch Rheinmetall seine Munitionsproduktion in hohem Tempo auf. Wie Konzernchef Armin Papperger berichtet, hat Rheinmetall längst begonnen, neue Mitarbeiter einzustellen und den Mehrschichtbetrieb auszubauen. Das Unternehmen hat Ende 2022 den spanischen Munitionshersteller Expal Systems übernommen, errichtet ein neues Werk im niedersächsischen Unterlüss und baut eine Sprengstofffabrik im ungarischen Várpalota.[6] Dort wird ab 2024 Mittelkalibermunition (30 Millimeter) gefertigt.
„Kooperationsbereitschaft mit der Industrie“
In diesem Zusammenhang dringt die gesamte Branche auf eine intensivere Kooperation mit der Bundesregierung. Man wünsche sich „von der Politik … Planungssicherheit in Bezug auf künftige Beschaffungen“, um „großvolumige Investitionen rechtzeitig angehen zu können“, erklärt Rheinmetall-Chef Papperger.[7] Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV), Hans-Christoph Atzpodien, äußert im Hinblick auf den nächsten Verteidigungsminister: „Wir hoffen auf eine möglichst ausgeprägte Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft mit der Industrie“.[8] Högl schließt sich dieser Forderung an: „Politik und Industrie“ müssten beispielsweise „gemeinsam einen Plan entwickeln, welche neuen Produktionslinien wir brauchen und was mit den bestehenden geht“.[9] Des weiteren müsse man sich auch mit der Frage beschäftigen, „ob es genügend qualifiziertes Personal für zusätzliche Produktionskapazitäten gibt“; Spezialisten seien „nicht leicht zu finden“. Zusätzliche Schwierigkeiten werden bei der Fertigung schwerer Waffen erwartet. Mit Blick auf den zu erwartenden gewaltigen Bedarf etwa an Panzern müsse man „wegkommen von der Manufakturproduktion auf Anfrage“ sowie hin „zu einer industriellen Produktion“, werden Berliner Regierungskreise zitiert.[10]
Mehr als zwei Prozent
Längst setzt sich in der deutschen Hauptstadt die Ansicht durch, die bereits beschlossene dramatische Aufstockung des deutschen Militärhaushalts reiche für die Aufrüstungspläne bei weitem nicht aus. NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat zu Jahresbeginn angekündigt, das Bündnis werde bis zum NATO-Gipfel am 11./12. Juli in Vilnius über die Forderung mehrerer Mitgliedstaaten debattieren, die Zwei-Prozent-Schwelle zum Minimalziel zu erklären.[11] Laut Berichten verlangen vor allem Polen, die baltischen Staaten und Großbritannien einen solchen Schritt. Polen will sein eigenes Verteidigungsbudget bereits dieses Jahr auf drei Prozent seiner Wirtschaftsleistung erhöhen und peilt auf lange Sicht fünf Prozent an. Schon jetzt haben die Wehretats der Vereinigten Staaten (3,47 Prozent) wie auch Griechenlands (3,76 Prozent) Anteile in Höhe von mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht. Deutschland lag 2022 bei 1,44 Prozent; das waren allerdings bereits mehr als zehn Prozent aller staatlichen Ausgaben. Högl äußert nun nicht nur Verständnis für „die Debatte, ob das Zwei-Prozent-Ziel nicht noch erhöht werden muss“, sondern dringt zusätzlich darauf, die schuldenfinanzierten Zusatzausgaben („Sondervermögen“) von 100 auf 300 Milliarden Euro aufzustocken.[12] Die Schulden daraus beliefen sich auf gut 3.600 Euro pro Kopf der Bevölkerung.
„Der nötige Drive“
Während gestern die Debatte darüber andauerte, wer nun der nächste Verteidigungsminister werde, äußerten sich dazu auch Vertreter der deutschen Rüstungsindustrie – freilich anonym. „Immer wieder“, so berichtete die WirtschaftsWoche, falle „der Name der bisherigen Staatssekretärin Siemtje Möller“: Sie „kenne sich aus, habe sich im vergangenen Jahr bereits ‘in die Materie reingefuchst und zeigt den nötigen Drive‘“.[13] Für geeignet werde auch Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt gehalten, der zuletzt „auffallend häufig bei Treffen mit der Industrie zugegen gewesen“ sei; „ein Panzerquartett besitzt er auch – und erzählt auch gern davon.“ Eine „gute Reputation bei der Industrie“ besitze auch der Ex-Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels, der zur Zeit als Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik fungiert. Über seine Nachfolgerin Högl heißt es kritisch, sie habe „zu wenig Erfahrung bei der Rüstungspolitik“, während der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil auf offene Ablehnung stößt: Ihm wird übelgenommen, dass er die geringen Vorräte an verfügbarer Munition nicht der Politik, sondern der Industrie angelastet hat.[14] Käme Klingbeil zum Zug, könnte er diesen Fauxpas freilich jederzeit durch ein größeres Entgegenkommen gegenüber den deutschen Waffenschmieden wiedergutmachen.
[1], [2] Ralph Bollmann, Konrad Schuller: Europa braucht mehr Rüstungsfabriken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[3] „Man bräuchte 300 Milliarden”. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[4] Ralph Bollmann, Konrad Schuller: Europa braucht mehr Rüstungsfabriken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[5] S. dazu Munitionsduell mit Russland.
[6] René Heilig: In harter Konkurrenz. nd-aktuell.de 09.01.2023.
[7] Ralph Bollmann, Konrad Schuller: Europa braucht mehr Rüstungsfabriken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[8] Max Biederbeck-Ketterer, Rüdiger Kiani-Kreß: Wen sich die Rüstungsindustrie als Lambrecht-Nachfolge wünscht. wiwo.de 16.01.2023.
[9] „Man bräuchte 300 Milliarden”. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[10] Ralph Bollmann, Konrad Schuller: Europa braucht mehr Rüstungsfabriken. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[11] Zwei-Prozent-Ziel als Mindestwert? tagesschau.de 03.01.2023.
[12] „Man bräuchte 300 Milliarden”. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 14.01.2023.
[13], [14] Max Biederbeck-Ketterer, Rüdiger Kiani-Kreß: Wen sich die Rüstungsindustrie als Lambrecht-Nachfolge wünscht. wiwo.de 16.01.2023.