Nord Stream-Anschläge: Druck auf die Bundesregierung, Ermittlungsresultate vorzulegen, steigt. US-Medien und Regierungsbeamte aus Europa bezweifeln russische Täterschaft.

Der Druck auf die Bundesregierung steigt, erste Ergebnisse der Ermittlungen zu den Nord Stream-Anschlägen bekanntzugeben. Hintergrund ist, dass die angebliche russische Täterschaft, die Politik und Medien im Westen allgemein suggeriert hatten, inzwischen von US-Leitmedien in Frage gestellt wird. Diese stützen sich dabei auf Einschätzungen auch europäischer Regierungsmitarbeiter, laut denen kein einziger Hinweis auf etwaige russische Täter vorliegt, während Moskau Interesse am Fortbestand der Pipelines haben müsse. In deutschen Medien wurden unlängst nicht näher gekennzeichnete „Leute im Berliner Regierungsbetrieb“ mit Äußerungen zitiert, die eine ukrainische oder polnische Täterschaft zumindest in Betracht ziehen. Als mögliche Ursache für eine etwaige westliche Täterschaft benennen US-Medien russische Spekulationen, im Fall eines schweren Mangels an Erdgas, wie er im nächsten Winter als nicht unwahrscheinlich gilt, könnten die Staaten Europas sich zum erneuten Bezug von russischem Pipelinegas gezwungen sehen. Nach wie vor ist nicht geklärt, wieso sich schwedische Kriegsschiffe kurz vor den Anschlägen in der Nähe der Tatorte aufhielten.

Keine Hinweise auf Russland

Drei Monate nach den Anschlägen auf die Erdgaspipelines Nord Stream 1 und 2 weisen zum ersten Mal Mitarbeiter westlicher Regierungen die Behauptung, Russland könne für den Sabotageakt verantwortlich sein, öffentlich zurück. Schon kurz vor den Weihachtsfeiertagen hatte die Washington Post berichtet, „zahlreiche“ Regierungsmitarbeiter vermuteten „privat“, Moskau habe mit den Anschlägen nichts zu tun. Die Zeitung zitierte einen Beamten aus Europa mit der Einschätzung, es gebe „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ keinerlei Hinweis auf eine russische Täterschaft. Diese Einschätzung gründe sich, hieß es, auf Gespräche mit 23 Quellen aus Diplomatie und Geheimdiensten.[1] Ein Beamter aus Westeuropa wird sogar mit der Aussage zitiert: „Die Überlegung, dass Russland es war, hat für mich nie Sinn ergeben.“ Wie die Washington Post berichtet, beruht die jetzt bekannt werdende Skepsis nicht bloß darauf, dass an den Tatorten keinerlei Hinweise auf russische Täter gefunden worden seien, sondern auch darauf, dass die gewöhnlich umfassende US-Spionage beim Abhören russischer Stellen bis heute keinerlei Hinweise auf eine Mitwisserschaft aufgespürt habe. Das sei recht ungewöhnlich.

Hohe Reparaturkosten

Wenige Tage später legte die New York Times nach. Die Zeitung schrieb, die Nord Stream AG, die die Pipeline Nord Stream 1 betreibe, habe begonnen, die Reparatur der Leitungen in den Blick zu nehmen. Dies habe eine Person mit detaillierter Kenntnis über die Vorgänge berichtet.[2] Zuvor hatte Moskau entsprechende Pläne zwar nicht bestätigt, sie jedoch auch nicht dementiert. Der stellvertretende russische Ministerpräsident Alexander Nowak hatte im Interview mit der Nachrichtenagentur Tass mitgeteilt, Spezialisten stuften die Reparatur als „technisch machbar“ ein; unklar sei aber, wie viel sie kosten würde.[3] Der New York Times zufolge beläuft sich eine Schätzung auf rund eine halbe Milliarde US-Dollar. Die Zeitung weist darauf hin, es leuchte nicht wirklich ein, dass Russland eine Erdgasleitung zerstöre, nur um sie anschließend für hohe Summen wieder instand zu setzen. Dies gelte umso mehr, als Moskau weiterhin Transitgebühren für die noch getätigten Erdgaslieferungen durch Pipelines an Land zahlen müsse – und zwar an den Kriegsgegner, die Ukraine.[4] Hinzu komme, dass Moskau mögliche Gaslieferungen durch die Nord Stream-Pipelines nun nicht mehr als Lockmittel nutzen könne.

Europas Erdgaslücke

Tatsächlich läge eine solche Nutzung im russischen Interesse. Laut jüngsten Prognosen der Internationalen Energieagentur (IEA) stehen die Staaten Europas im nächsten Jahr bzw. im nächsten Winter vor einer Versorgungslücke von rund 30 bis 60 Milliarden Kubikmetern Erdgas; wo diese herkommen sollen, ist völlig unklar.[5] Gedeckt werden könnten sie durch die Pipeline Nord Stream 1, deren Durchleitungsvolumen rund 55 Milliarden Kubikmeter jährlich erreicht. Die New York Times zitiert nun einen leitenden Mitarbeiter von Gazprom mit der Äußerung: „Warte bloß einen einzigen kalten Winter ab, und sie werden um unser Gas betteln.“[6] Die Möglichkeit, in einer akuten Notlage doch noch auf die Nord Stream-Pipelines zurückzugreifen, ist durch die Anschläge zunichte gemacht worden. Hinzu kommt, dass Branchenexperten es durchaus für möglich halten, dass die Staaten Europas in Zukunft wieder russisches Pipelinegas in größerem Umfang importieren. Wie die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet, gingen bei einem Fachtreffen, das das Oxford Institute for Energy Studies Anfang Dezember organisiert hatte, nur 40 Prozent aller Anwesenden davon aus, der Ausstieg Europas aus russischem Erdgas werde auf Dauer Bestand haben. 40 Prozent waren vom Gegenteil überzeugt.[7] Der Grund: Ohne kostengünstiges Erdgas könnten zentrale Branchen der europäischen Industrie nicht überleben.

Sanktionen aktiviert

Würde eine Reparatur der Pipeline Nord Stream 1 die Wiederaufnahme der Lieferungen zumindest theoretisch ermöglichen, so hat Kanada entsprechenden Überlegungen Ende 2022 einen weiteren Schlag versetzt: Es hat Sanktionen wieder aktiviert, die es speziell verhindern, eine im kanadischen Montréal überholte Siemens-Turbine, die für den Betrieb von Nord Stream 1 benötigt wird, nach Russland zurückzubringen.[8] Das erhöht den Aufwand für eine Instandsetzung der Erdgasleitung ein weiteres Stück. Hätte Ottawa eine etwaige Reparatur der Pipeline nicht im Blick, ergäbe die Aktivierung der Sanktionen zum Nachteil einer zerstörten Erdgasleitung wenig Sinn.

„Eine plausible Erzählung vorlegen“

Nicht nur in führenden US-Medien wird eine russische Täterschaft mittlerweile als recht unwahrscheinlich eingestuft. Auch „Leute im Berliner Regierungsbetrieb“, so wird berichtet, stellten „unter der Hand Fragen …, die für Unruhe in der Nato sorgen könnten“: Hätten nicht „die Ukraine und Polen mit größtem Nachdruck von Deutschland den Verzicht auf die Nord-Stream-Leitungen gefordert?“[9] Ein nicht namentlich genannter hochrangiger Militärexperte wiederum wird mit der Aussage zitiert, man möge „sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn irgendwann mitten im Krieg herauskäme, dass ein Nato-Staat bei der Bombardierung der umstrittenen Pipeline geholfen oder von entsprechenden Plänen gewusst habe, ohne sie zu verhindern“.[10] Mit Blick darauf dringt nun der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter (CDU), stellvertretender Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, darauf, Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen zu präsentieren, „weil die wilden Spekulationen in dieser unklaren Situation nicht ungefährlich sind“.[11] Auch der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen), verlangt, die Bundesregierung müsse „Transparenz schaffen oder wenigstens eine plausible Erzählung der Ereignisse vom 26. September vorlegen“.

Mit ausgeschaltetem Transponder

Erschwert wird die Angelegenheit durch die exzessive Geheimhaltungspraxis Schwedens, dessen Behörden laut Berichten nicht einmal die verbündeten NATO-Staaten über Resultate ihrer Ermittlungen informieren. Zu den Rätseln um die Anschläge auf die Pipelines gehört nicht zuletzt, woher die beiden großen Schiffe kamen, die laut Recherchen des Magazins Wired in den Tagen unmittelbar vor den Anschlägen nicht weit von den Tatorten kreuzten und dabei ihre Transponder ausgeschaltet hatten.[12] Bemerkenswert ist, dass noch niemand Belege für die Behauptung präsentiert hat, es seien russische Schiffe gewesen; die Größe der Schiffe und die Dichte der NATO-Aufklärung in der Ostsee lässt Unkenntnis über das maritime Geschehen unweit der strategisch wichtigen Insel Bornholm als nicht besonders wahrscheinlich erscheinen. Bekannt ist freilich, dass sich Kriegsschiffe der schwedischen Marine kurz vor dem Tatzeitpunkt gleichfalls in der Nähe der Tatorte aufgehalten hatten; die schwedische Marine hat dies sogar eingeräumt und als Ursache nicht näher bestimmte Maßnahmen der Seeraumüberwachung angegeben.[13] Ob dabei gewöhnlich die Transponder ausgeschaltet werden, ist nicht bekannt.

 

[1] Shane Harris, John Hudson, Missy Ryan, Michael Birnbaum: No conclusive evidence Russia is behind Nord Stream attack. washingtonpost.com 21.12.2022.

[2] Rebecca R. Ruiz, Justin Scheck: In Nord Stream Mystery, Baltic Seabed Provides a Nearly Ideal Crime Scene. nytimes.com 26.12.2022.

[3] Michael Maier: Nord Stream: Repariert Russland heimlich die Pipeline? berliner-zeitung.de 02.01.2023.

[4] Rebecca R. Ruiz, Justin Scheck: In Nord Stream Mystery, Baltic Seabed Provides a Nearly Ideal Crime Scene. nytimes.com 26.12.2022.

[5] S. dazu Die Erdgaslücke.

[6] Rebecca R. Ruiz, Justin Scheck: In Nord Stream Mystery, Baltic Seabed Provides a Nearly Ideal Crime Scene. nytimes.com 26.12.2022.

[7] Javier Blas: Can Europe’s Energy Bridge to Russia Ever Be Rebuilt? bloomberg.com 12.12.2022.

[8] Darren Major: Ottawa revokes sanctions waiver on Nord Stream gas turbines. cbc.ca 14.12.2022.

[9], [10] Daniel Goffart: Erst bombardieren, dann reparieren? wiwo.de 01.01.2023.

[11] Christopher Ziedler: 100 Tage nach den Gaslecks: Rätselraten um die Nord-Stream-Sabotage geht weiter. tagesspiegel.de 03.01.2023.

[12] ‘Dark Ships‘ Emerge From the Shadows of the Nord Stream Mystery. wired.co.uk 11.11.2022.

[13] Svenska marinens fartygsrörelser I området: “Inte en slump“. svt.se 03.10.2022.

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