In Chile hat eine Mehrheit von 62 Prozent gegen die neue Verfassung gestimmt, die ein demokratisch gewählter Verfassungskonvent ausgearbeitet hatte. Sie sollte eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt werden. Doch es kam anders. Warum stimmte die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung gegen diesen Entwurf und wie geht es weiter? Was bedeutet das für die linke Regierung Chiles und was für die sozialen Bewegungen? Was bleibt von dem Prozess, den die Protestbewegung von 2019 angestoßen hat?

Am 4. September 2022 hatten die Chileninnen und Chilenen die Wahl: Bei einem Referendum konnten sie über den Entwurf für eine neue Verfassung abstimmen, die eine der fortschrittllichsten der Welt werden sollte. Mit einer sozialen, feministischen, ökologischen und plurinationalen Ausrichtung sollte sie das Fundament für den Umbau der Gesellschaft nach solidarischen Prinzipien werden und die Verfassung aus der Zeit der Diktatur ersetzen.

Doch eine deutliche Mehrheit stimmte mit Rechazo (dt.: «Ich lehne ab»), also gegen diesen Entwurf für eine neue Verfassung. «Damit die Werbung für das Rechazo in das Bewusstsein der Bevölkerung eindringen konnte, reichte es, den Fernseher einzuschalten oder Social Media Kanälen zu folgen», analysierte die Feministin Alondra Carrillo noch am Wahlabend: «Aber um den Inhalt des Verfassungsvorschlags zu kennen, brauchte es eine Genossin oder einen Aktivisten, einen Freund oder eine informierte Nachbarin, die die Lügen widerlegen konnten, die von der politischen Rechten, aus Wirtschaftskreisen und von Sektoren, die den Fortschritt dieses Prozesses blockieren wollten, finanziert und organisiert wurden.»

Alondra Carrillo war parteiunabhängiges Mitglied und Vertreterin der feministischen Dachorganisation 8. März (CF8M) im Verfassungskonvent. In diesem Gremium hat sie ein Jahr lang, von Juli 2021 bis Juli 2022, an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung mitgearbeitet. Dabei hat sie starke feministische Impulse eingebracht: die Gleichstellung zwischen Mann und Frau, eine paritätische Besetzung von Führungspositionen in staatlichen Einrichtungen, die Garantie sexueller und reproduktiver Rechte, die Freiheit von sexueller Gewalt – und die Einrichtung eines staatlich finanzierten Pflege- und Sorgesystems.

«Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft zu erreichen»

Die Medienkampagne, auf die sich Alondra Carrillo bezieht, war nicht der einzige, aber ein entscheidender Grund für die Ablehnung des Vorschlags. Schließlich stimmte in allen 16 Regionen Chiles, in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Geschlechtern die Mehrheit gegen den neuen Verfasssungstext. Anders als bei früheren Wahlen herrschte bei diesem Referendum Wahlpflicht. Die Wahlbeteiligung lag bei 86 Prozent, im Gegensatz zu sonst rund 50 Prozent. «Wir haben es nicht geschafft, die ärmsten Sektoren der Gesellschaft und diejenigen, die nie zuvor gewählt haben und entpolitisiert sind, zu erreichen», erklärt Manuela Royo von der Umweltschutzorganisation MODATIMA. Auch sie war parteiunabhängige Vertreterin im Verfassungskonvent.

Bei der Aufschlüsselung des Wahlverhaltens nach sozio-ökonomischen Faktoren wird deutlich, dass die ärmsten Sektoren am deutlichsten mit Rechazo stimmten. Ein demokratisches Dilemma für alle progressiven Kräfte. Denn die neue Verfassung sollte die Lebensbedingungen genau der Menschen verbessern, die in Armut leben und keinen Zugang zu guter Bildung, Gesundheitsversorgung, Renten und Wohnraum haben.

Große Niederlage für die progressive Linke

«Natürlich ist das Ergebnis eine große Niederlage für uns», räumt die Umweltaktivistin Manuela Royo ein. Besonders gibt ihr zu denken, warum auch Menschen in stark umweltbelasteten Gebieten sich durch den Verfassungsvorschlag nicht vertreten gefühlt haben. Denn sie hätten von der neuen Verfassung profitiert. Die Ursachen sieht Royo in der medialen Desinformationskampagne der Verfassungsgegner*innen, in Gleichgültigkeit und Desinteresse und im Misstrauen gegenüber allen Institutionen. Royo betont: «Offensichtlich gibt es in unserem Land aber auch viele Menschen, die keine grundlegenden Veränderungen wollen.»

Die neue Verfassung sollte die 1980, während der Pinochet-Diktatur und unter undemokratischen Bedingungen eingeführte Verfassung ablösen. Die entstand unter dem Einfluss des Ökonomen Milton Friedman und seiner Schule der Chicago Boys und schreibt bis heute ein neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell und die Vorherrschaft des Marktes vor dem Staat fest.

Sozialer und demokratischer Rechtsstaat als Ziel

Mit der neuen Verfassung sollte Chile zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat werden, den solidarische Regeln leiten. Dazu sollten das Recht auf angemessenen Wohnraum und auf ein gesellschaftliches System von Pflege und Betreuung genauso gehören, wie Autonomierechte für indigene Gruppen, das Streikrecht, der Schutz der Natur und das Verbot der Privatisierung von Wasser.

Der verfassungsgebende Prozess selbst geht auf die breite Protestbewegung zurück, die Chile ab Oktober 2019 erfasste und bei der sich die Unzufriedenheit Vieler in massiven Straßenprotesten ausdrückte. «Chile despertó», auf deutsch «Chile ist aufgewacht», war das Motto der Bewegung. Diese richtete sich gegen die Politik von rechten und Mitte-Links-Parteien, die das Land nach dem Ende der Diktatur 1990 abwechselnd regiert und die soziale Ungleichheit teils noch verschärft hatten. Feministische und indigene, soziale und ökologische Bewegungen kamen zusammen und entfalteten gemeinsam eine enorme Stärke.

Schon im November 2019 unterzeichneten die Spitzen der meisten im Parlament vertretenen Parteien ein «Abkommen für den sozialen Frieden und für eine neue Verfassung». Weite Teile der Bewegung kritisierten das Abkommen, das wieder nur unter den bei der Bevölkerung diskreditierten Parteien ausgehandelt wurde, während die Proteste auf der Straße brutal niedergeschlagen wurden. Über dreißig Personen starben in diesen Monaten, über 460 erlitten Augenverletzungen durch Polizeischüsse, es kam zu Folter und Vergewaltigung in der Haft. Dutzende Gefangene sitzen noch heute im Gefängnis.

Das Ende der Glaubwürdigkeit des Neoliberalismus

Das Abkommen «rettete» das Überleben der Regierung des rechten Präsidenten Sebastián Piñera. Zugleich eröffnete es einen institutionalisierten Weg zu einem verfassungsgebenden Prozess. So kam es im Oktober 2020 zu einem ersten Referendum. Dabei stimmten 78 Prozent für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die von einem Verfassungskonvent gescheieben werden sollte, der extra dafür gewählt werden sollte. Die Glaubwürdigkeit des Neoliberalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell schien dahin.

Im Mai 2021 wählte die Bevölkerung die 155 Mitglieder des Verfassungskonvents. Davon waren 17 Sitze für Indigene reserviert und Geschlechterparität garantiert – also die gleiche Verteilung der Sitze zwischen Männern und Frauen. Parteilose Vertreter*innen konnten kandidieren, Abgeordnete hingegen nicht. Linke und parteiunabhängige Personen erzielten die Mehrheit der Sitze. Die Rechte erhielt weniger als ein Drittel der Sitze.

Zur ersten Präsidentin des Verfassungskonvents wurde die Linguistin und Vertreterin der indigenen Mapuche Elisa Loncón gewählt. Ein historischer Moment im rassistisch geprägten Chile. Nach ihrer Wahl erklärte sie: «Der Verfassungskonvent wird Chile zu einem plurinationalen, interkulturellen Chile machen, in dem die Rechte der Frauen und der Sorgearbeitenden geachtet, und in dem die Mutter Erde und das Wasser vor jeder Vereinnahmung geschützt werden.»

Die transformative Kraft dieses Prozesses war spürbar, doch sie repräsentierte schon damals nur einen Teil der Bevölkerung. Karina Nohales ist Sprecherin der feministischen Dachorganisation 8. März und war Mitarbeiterin von Alondra Carrillo im Verfassungskonvent. Im Mai 2021 sagte sie: «Der Verfassungskonvent steht viel weiter links als der Querschnitt der Gesellschaft.» Viele Mitglieder des Konvents hatten wenig politische Vorerfahrung. Und vielleicht wähnten sich linke und parteiunabhängige Kräfte zu stark und zu sehr im Einklang mit der Bevölkerung.

«Wir gingen davon aus, dass wir das Referendum gewinnen würden»

Die politische Rechte im Verfassungskonvent konnte mit weniger als einem Drittel der Sitze keine Entscheidungen blockieren: «Deshalb ließen sie sich nicht weiter auf die Arbeit am Verfassungsentwurf ein, sondern richteten ihre Kräfte schon auf die Ablehnung des Texte im zweiten Verfassungsreferendum aus.» so erklärt Karina Nohales deren Strategie und erinnert sich: «Wir Linke und Parteiunabhängige arbeiteten hingegen weiter an dem Verfassungstext. Wir dachten gar nicht an das Referendum, sondern gingen einfach davon aus, dass wir es gewinnen würden.» Nach Fertigstellung des Verfassungsvorschlags hätten sie nur noch zwei Monate für die Werbekampagne gehabt und die Situation nicht mehr drehen können.

Die sozialen Bewegungen steckten ihre Energie in den Verfassungskonvent und das ging zu Lasten der Kommunikation nach außen und der Basisarbeit, erklärt die Feministin. Die komplizierten und abstrakten Diskussionen über die Verfassung konnten nicht ausreichend vermittelt und heruntergebrochen werden. Die Kommunikationsstrategie der Konventsangehörigen war ein Schwachpunkt. «Wir haben eine sehr starke Eigentumskonzentration bei den privaten Medien», kritisiert Alondra Carrillo. «Und das staatliche Fernsehen TVN verhält sich ähnlich wie die Privaten: es verweigerte dem Verfassungskonvent sogar einen Sendeplatz, über den die Bevölkerung besser informiert werden sollte.»

Das Negativ-Framing der Gegner*innen

Mit ihrer überwältigenden Medienmacht setzten die Gegner*innen des Verfassungsentwurfs ein Negativ-Framing der neuen Verfassung. Fast 80 Prozent der Wahlspenden gingen an die Kampagne des Rechazo. Zu den Geldgebern gehörten die größten Unternehmen und Angehörige der reichsten Familien Chiles.

Auch neoliberale chilenische ThinkTanks, die teils zum internationalen Atlas-Netzwerk gehören, teils auch von deutschen parteinahen Stiftungen, wie der Friedrich-Naumann- oder der Hanns-Seidel-Stiftung unterstützt werden, warnten vor der neuen Verfassung oder zu erwartenden Auswirkungen.

Bekannte rechte Politiker*innen traten in der Rechazo-Kampagne kaum auf, meist waren scheinbar ganz normale Bürger*innen zu sehen. Zuerst wurden – meist weibliche – Angehörige des Verfassungskonvents diskreditiert und teilweise bedroht. Später wurden Passagen des Verfassungsentwurfs verzerrt oder verdreht. Das gezielte Lancieren eindeutiger Falschaussagen, die nie Teil des Textes waren, schürte Angst und Verwirrung. Dabei ging es meist um die Reizthemen Privateigentum, Nation und Familie.

Besonders verunsichernd wirkte die Behauptung, die neue Verfassung würde Eigentum an Wohnraum verbieten. Und das, obwohl der Verfassungsentwurf einen Artikel enthält, der das Recht auf Privateigentum garantiert. Sie verfing auch bei Menschen, die ohnehin nicht das Geld haben, sich eine Wohnung zu kaufen.

Manche Stiftungen veröffentlichten professionell produzierte, manipulative Videos. In einem mehr als 100.000 Mal aufgerufenen Clip der Stiftung Nueva Mente zum Beispiel werden «Solidarität» und der Aufbau sozialer Systeme der allgemeinen Daseinsvorsorge als «Raub» an Privateigentum dargestellt. Privateigentum gilt als scheinbar naturgegeben in einer Gesellschaft, in der Bildung und Gesundheitsversorgung, und sogar das Wasser weitgehend privatisiert sind.

Konservative Denkmuster auf dem Land

Die Lehrerin Verónica Arancibia aus der mittelgroßen Stadt Talca, südlich von Santiago, beschreibt konservative Denkmuster auf dem Land. Sie hat mit ihren Schüler*innen – darunter einige aus evangelikalen Gemeinden – über die neue Verfassung diskutiert. «Die Jugendlichen haben erzählt, dass ihre Familien gegen die neue Verfassung waren», so die Lehrerin. Entweder hätten sie befürchtet, dass ihnen ihr Haus weggenommen würde, oder weil sie gegen Abtreibung und gleichgeschlechtliche Lebensweisen waren. «Ein richtiger Schock war es für viele, dass einige Lehrerinnen gesagt haben, dass die Hausarbeit zwischen Männern und Frauen aufgeteilt werden muss. Das kennen viele nicht», erklärt Verónica Arancibia und ergänzt: «Manche arbeiten auch als Tagelöhner auf dem Land. Wir haben bemerkt, dass sie oft so wählen wie ihre Arbeitgeber. Und das ist meist Rechazo». Als weiteren Faktor sieht sie den gerade in ländlichen Regionen stark verbreiteten Nationalismus.

Hat die linke Mehrheit im Verfassungskonvent traditionelle Einstellungen in weiten Teilen der chilenischen Gesellschaft ignoriert oder zumindest unterschätzt? Jedenfalls nutzten Rechte diese Angriffsflächen. Dass mit der neuen Verfassung nationale Symbole wie die Fahne und die Hymne – angeblich – verboten und Chile in viele Staaten zerteilt würde, war ein weiterer Schwerpunkt der Rechazo-Kampagne, obwohl Artikel 3 des Verfassungsentwurfs Chile als unteilbaren Staat definierte.

Misstrauen der Bevölkerung trotz Aufklärungskampagne

Das Bündnis der sozialen Bewegungen für die neue Verfassung veröffentlichte Erklärvideos auf Social Media. Etwa zu Fragen von Geschlechtergerechtigkeit und Sorgearbeit, Zugang zu Wasser und Wohnraum. Sie verteilten Exemplare des Verfassungsentwurfs und Flugblätter, in denen die Kernaussagen einfach zusammengefasst wurden. Doch insgesamt kam die Kampagne des Apruebo (dt. «Ich stimme zu»), also für die neue Verfassung, kaum darüber hinaus, Falschaussagen zu korrigieren und Verzerrungen entgegenzuwirken. Es gab wenig Geld und es blieb kaum Energie, um für das eigene progressive Projekt zu werben.

Außerdem übertrug sich das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien auch auf den Verfassungskonvent als Institution. Und die Identifikation des Konvents mit der – mit sinkenden Zustimmungswerten kämpfenden – Regierung Boric verstärkte die Ablehnung. Allerdings stimmten nicht nur Rechte oder schlecht informierte Menschen für das Rechazo. Die sogenannten «Amarillos», auf deutsch die «Gelben», organisierten sich in Sektoren des politischen Zentrums, im Umfeld der Chistdemokratie und der Ex Concertación, den Mitte-Links-Parteien, die sich in den letzten Jahren mit den Rechten an der Regierung abgewechselt hatten. Mit ihrer Parole «Esa no», auf deutsch «Diese nicht», positionierten sich die «Amarillos» nicht grundsätzlich gegen eine neue Verfassung. Sie fordern sogar weiterhin einen verfassungsgebenden Prozess. Aber den aktuellen Verfassungsvorschlag lehnten sie ab: teils aus wirtschaftllichen Gründen, weil sie eigene Privilegien in Gefahr sahen. Teils, um nicht einem von Linken und sozialen Bewegungen geprägten gesellschaftlichen Transformationsprozess zuzustimmen, in dem sie sich als Konservative nicht genügend repräsentiert sahen. Dabei wären nachträgliche Anpassungen am Verfassungstext möglich gewesen.

Manche, die mit Rechazo stimmten, waren frühere linke Politiker*innen und einige hatten beim ersten Verfassungsreferendum 2020 mit Apruebo gestimmt. So auch der Unternehmer Maurico Lorca. «Meine Wahl war eine traurige Wahl», sagt er. «Und es ist ein bitterer Sieg.» Mitte der 1980er Jahre engagierte sich Mauricio Lorca im kirchlichen Umfeld gegen die Diktatur. Heute ist er Nachbarschaftsvertreter in einer Kommune im Großraum Santiago. Er entschied sich, gegen den neuen Verfassungsvorschlag zu stimmen, als rechte Parteien Zugeständnisse bei Reformen der aktuellen Verfassung von 1980 signalisierten und als Chiles Präsident Gabriel Boric erklärte, der Verfassungsprozess werde weitergehen, selbst wenn das Rechazo gewinnen würde.

Einige Punkte des Verfassungsvorschlags findet Mauricio Lorca gut und will, dass diese übernommen werden. Dennoch habe er nicht mit Apruebo gestimmt, denn er sah «eine große Gefahr, eine gefährliche Falle in dem Entwurf. Nämlich dass das politische System Chiles sehr stark geschwächt würde.» Dabei bezieht er sich auf geplante institutionelle Reformen wie die Abschaffung des Senats, des chilenischen Oberhauses, und vor allem auf Änderungen im Bereich der Justiz.

Ein unperfektes, aber visionäres Dokument

Häufig kritisiert wurde die Länge des Verfassungstextes mit 388 Artikeln auf mehr als 160 Seiten, und deren Kleinteiligkeit. «Wir sind uns einig, dass es in einem Jahr nicht möglich war, einen perfekt aufbereiteten, elegant formulierten Text aus einer akademischen verfassungsrechtlichen Perspektive zu verfassen», sagt die Biologin und Ökofeministin Elisa Giustinianovich, die auch Mitglied des Verfassungskonvents war. «Aber unser Vorschlag bringt die entscheidenden Forderungen zusammen. Es geht darum, die sozialen Rechte der Bevölkerung zu garantieren, und die auf Extraktivismus aufbauende neoliberale Wirtschaftspolitik zu überwinden.»

Insgesamt ist der Text vor allem Abbild eines politischen Prozesses mit starker Beteiligung sozialer Bewegungen. Thomas Piketty und andere renommierte Jurist*innen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler*innen aus aller Welt lobten den Verfassungsentwurf als «visionäres Dokument» und bekannten: «Wir sind der Meinung, dass die neue Verfassung einen neuen globalen Standard setzt und Antworten gibt auf Herausforderungen der Klimakrise, der wirtschaftlichen Unsicherheit und der nachhaltigen Entwicklung.»

Die frühere Angehörige des Verfassungskonvents Elisa Giustinianovich betont die Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Inhalten. «Wir sehen einen Grundfehler im Design, im Konzept des Prozesses», sagt sie. «Es gab zu wenig Zeit und Möglichkeiten für eine aktive Beteiligung der Bevölkerung, dass die Menschen ihre Forderungen einbringen und diese dann in Verfassungsnormen übersetzt würden.» Außerdem fehle es an politischer Bildung, «so etwas wie Gesellschaftskunde gibt es im chilenischen Bildungssystem nicht. Viele Menschen wussten nicht einmal, was eine Verfassung ist.»

Wie geht es weiter?

Präsident Boric kündigte eine schnelle Neuauflage des Verfassungsprozesses an, voraussichtlich institutionalisierter und weniger bewegungsnah als zuvor. Zwar ist die Neuwahl eines geschlechterparitätisch besetzten Verfassungskonvents geplant. Reservierte Sitze für Indigene und Wahlmöglichkeiten für Vertreter*innen sozialer Bewegungen sind aber nicht in Sicht. Inwieweit Bestandteile des ersten Verfassungsentwurfs übernommen werden, ist offen. Ob die politische Rechte sich an ihre Zusage zu einem neuen Verfassungsprozess hält, ist unklar.

Elisa Giustinianovich vermutet, dass das aktuelle politische Klima, in dem die Regierung Boric stark unter Druck steht und keine Mehrheit im Parlament hat, eine Einigung selbst im Jahr 2023 schwierig werden lässt. Und wenn es zu einer Einigung komme, werde diese nur sehr begrenzte Möglichkeiten eröffnen und grundlegende Diskussionen über die sensiblen Themen verhindern. «Als soziale Bewegungen haben wir noch keine einheitliche Position dazu, ob oder wie wir teilnehmen werden, falls ein neuer Verfassungskonvent oder eine Expert*innenkommission eingerichtet wird», so die Biologin. «Jedenfalls setzen wir keine großen Hoffnungen da rein. Aber wir haben eine Richtschnur, einen programmatischen Rahmen und den versuchen wir umzusetzen und auch in Gesetze zu gießen.»

Die Gefahr einer rechten Regierung

Der Sieg des Rechazo steht für die verpasste historische Chance, die Verfassung und das autoritäre und neolliberale Erbe der Diktatur Pinochets abzulegen. Dennoch sieht Elisa Giustinianovich auch politische Erfolge und große Fortschritte im Vergleich zur Situation vor drei Jahren. «Wir haben uns als soziale Bewegungen im ganzen Land vernetzt und eine themenübergreifende Koordination mit über einhundert Organisationen gegründet.» Diese trifft sich auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene jede Woche online, berichtet Giustinianocich. Besonders wichtig ist ihr: «Außerdem haben wir unsere Forderungen in einem gemeinsamen Projekt vereint. Früher waren wir immer gegen etwas, gegen private Rentenfonds oder gegen Gewalt. Jetzt mussten wir das positiv wenden und in ein Programm gießen.»

Alondra Carrillo ist über die feministische Dachorganisation 8. März auch Teil der Koordination der sozialen Bewegungen. Sie sieht zwei zentrale Herausforderungen für die Zukunft: «Zum einen brauchen wir eine gute Öffentlichkeitsarbeit und Medien. Zum anderen müssen wir politische Bildung stärken und soziale Strukturen von unten aufbauen.» Das sei auch wichtig, um dem Erstarken der extremen Rechten entgegenzutreten, so Carrillo. «Denn es besteht die Möglichkeit, dass wir nach den nächsten Wahlen in Chile eine extrem rechte Regierung bekommen.»

Die politische Rechte ist mit einem Gefühl von Stärke aus dem Referendum hervorgegangen. Ob sich die Stimmung wieder drehen lässt, wird davon abhängen, ob es der linken Regierung in den kommenden Jahren gelingen wird, zumindest einige konkrete Erfolge zu erzielen. Tatsächlich ist die Regierung Boric nach dem gescheiterten Verfassungsreferendum geschwächt und durch eine Pattsituation im Parlament blockiert. Solidarische Systeme allgemeiner Daseinsvorsorge einzuführen, ist schwer. Es bleibt aber die entscheidende Herausforderung.


Nachtrag 18.12.2022 zur Neuauflage des Verfassungsprozesses:

Am 12.12.2022 einigten sich die Spitzen der politischen Parteien (von UDI bis PC, außer PR und PdG) und unterschrieben ein neues “Abkommen für Chile“, für einen neuen verfassungsgebenden Prozess. Das Parlament hat das Abkommen noch nicht ratifiziert, dessen Zustimmung gilt aber als sicher. In dem Dokument sind bereits zwölf inhaltliche Grundlagen für eine neue Verfassung, sowie die Organe, die diese ausarbeiten sollen und ein zeitlicher Fahrplan definiert.

Bis Januar 2023 sollen der Senat und die Abgeordnetenkammer jeweils 12 Mitglieder für eine Expertenkommission (Comisión Experta) benennen, die auf Grundlage der bereits definierten inhaltlichen Vorgaben einen Verfassungsvorschlag erarbeiten soll. Im April 2023 soll die Bevölkerung unter Wahlpflicht fünfzig Personen über Parteilisten in einen Verfassungsrat (Consejo Constitucional) wählen: über Parteilisten, parteiunabhängige Listen sind nicht vorgesehen. Der Verfassungsrat wird nicht selbst Artikel verfassen, sondern lediglich den von der Expertenkommission verfassten Vorschlag diskutieren und bestätigen. Ein technisches Komitee mit 14 Jurist:innen wird vom Parlament gewählt und soll den Verfassungsvorschlag auf evtl. Konflikte mit geltenden Normen hin überprüfen. Am 26. November 2023 soll die Bevölkerung in einem Referendum mit Wahlpflicht über Annahme oder Ablehnung des neuen Verfassungsvorschlags abstimmen.

Präsident Gabriel Boric zeigt sich vor der Presse zufrieden, Zwar hätte er sich für ein Verfassungsgremium mit 100 Prozent aus der Bevölkerung zu wählenden Personen eingesetzt, ziehe aber ein unperfektes Abkommen dem Nicht-Zustandekommen eines Abkommens vor. Vertreter:innen von sozialen Bewegungen kritisieren das Abkommen als antidemokratisch, es werde Krisen und Konflikte nicht lösen, die alten Machteliten hätten sich durchgesetzt.

Der Originalartikel kann hier besucht werden