Außenministerin Baerbock bemüht sich in New Delhi um eine engere deutsch-indische Kooperation – auch, um Indien von seiner Zusammenarbeit mit Russland und China abzubringen.
In Gesprächen in New Delhi hat Außenministerin Annalena Baerbock gestern um eine enge deutsch-indische Kooperation geworben und damit Indiens Zusammenarbeit mit Russland zu untergraben versucht. Ihr Besuch in der indischen Hauptstadt erfolgte wenige Tage, nachdem Indien zum 1. Dezember den G20-Vorsitz angetreten hatte. Diesen will es nutzen, um den globalen Süden zu stärken und gegen einige Elemente und Folgen der westlichen Sanktionspolitik vorzugehen, etwa die Hindernisse beim Export russischer Düngemittel, die die Versorgung beispielsweise afrikanischer Staaten mit Nahrung im kommenden Jahr gefährden. Wie Außenminister Subrahmanyam Jaishankar bei einer Pressekonferenz mit Baerbock bekräftigte, baut Indien außerdem seinen Handel mit Russland aus. Baerbock vereinbarte mit Jaishankar eine „Mobilitätspartnerschaft“, die „hochqualifizierte Fachkräfte und junge Leute aus Indien nach Deutschland“ holen soll, um das Angebot an Arbeitskräften auszuweiten. Zudem thematisierte sie Indiens Beziehungen zu China. New Delhi und Beijing haben sich zuletzt im Streben nach einem „asiatischen Jahrhundert“ angenähert. Dem Westen passt das nicht.
„Kein Krieg, keine Sanktionen“
Indien hat seinen G20-Vorsitz mit der ausdrücklichen Ankündigung angetreten, in der Weltpolitik Veränderungen einzuleiten. Dabei sucht es sich eigenständig zu positionieren; einen hervorgehobenen Platz räumt es „unseren Weggefährten im globalen Süden“ ein, „deren Stimme oft ungehört bleibt“, wie es in einem Namensbeitrag von Premierminister Narendra Modi heißt, der international in mehreren Zeitungen abgedruckt wurde.[1] Indien verbindet das Streben nach Eigenständigkeit mit klaren Abgrenzungen von bestimmten Politiken des Westens, punktuell aber auch Russlands. So heißt es in Modis Namensbeitrag: „Unsere Zeit muss nicht mehr vom Krieg geprägt sein – sie darf es auch nicht!“ Eine bedauerliche „Mentalität“, die „in allem ein Nullsummenspiel sieht“, komme „zum Tragen“, wenn „Länder um Territorien oder Ressourcen kämpfen“. Modi kündigt an, Indien wolle seinen G20-Vorsitz nutzen, um „die globale Versorgung mit Nahrungsmitteln, Düngemitteln und medizinischen Produkten zu entpolitisieren“. Die Ablehnung von Kriegen lässt sich auf den Ukraine-Krieg ebenso beziehen wie auf die Kriege des Westens. Der Wunsch nach einer Entpolitisierung von Versorgungsleistungen richtet sich gegen die westlichen Sanktionen etwa gegen Russland (Düngemittel [2]) oder Iran (Medikamente [3]).
Der indisch-russische Handel
Die indische Regierung lässt weiterhin keinen Zweifel daran, dass sie an ihrer Kooperation mit Russland festhält. Sie ignoriert den Preisdeckel, den die EU, die G7 und Australien seit gestern auf den Kauf russischen Erdöls zu oktroyieren suchen; indische Unternehmen erwerben russisches Öl unverändert zu den Preisen, die sie selbst vereinbart haben. Anfang November ist Russland erstmals zu Indiens größtem Öllieferanten aufgestiegen – vor dem Irak und vor Saudi-Arabien, seinen traditionell wichtigsten Versorgern.[4] Dank des rasant gesteigerten Imports von Öl und von Ölprodukten ist Indiens Einfuhr aus Russland zwischen dem 24. Februar und dem 20. November von knapp 6 Milliarden US-Dollar im Vorjahr auf mehr als 29 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr gestiegen. Etwas zurückgegangen ist im gleichen Zeitraum hingegen Indiens Ausfuhr nach Russland – von annähernd 2,4 Milliarden US-Dollar im Vorjahreszeitraum auf gut 1,9 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr. Ursache sind Befürchtungen, mit westlichen Sanktionen zu kollidieren. Um das Handelsdefizit zu reduzieren, hat die Regierung in New Delhi nun die Sache in die Hand genommen und müht sich, beim Russlandgeschäft indischer Unternehmen aktiver zu vermitteln. Dies kündigte Außenminister Subrahmanyam Jaishankar gestern bei einer Pressekonferenz mit der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock an.[5]
Fachkräfte für Deutschland
Baerbock ist gestern mit mehreren Zielen in New Delhi eingetroffen. Zum einen geht es allgemein darum, die bilateralen Beziehungen auszubauen, um die deutschen Positionen in Indien, das als künftige Großmacht gilt, zu stärken. Zum zweiten hat Berlin es auf indische Fachkräfte abgesehen, die den Mangel an bestimmten Berufsgruppen in Deutschland decken sollen, insbesondere im IT-Sektor. Die bisherigen Anwerbebemühungen wurden nicht selten dadurch konterkariert, dass die deutschen Behörden Visaanträge monatelang verschleppten; von einem zeitweise sechsstelligen Rückstau an Visaanträgen wird berichtet. Die Außenministerin vereinbarte nun mit ihrem indischen Amtskollegen Jaishankar eine „Mobilitätspartnerschaft“, die Studium und Arbeitsaufnahme in Deutschland erleichtern soll. „Wir wollen, dass hochqualifizierte Fachkräfte und junge Leute aus Indien nach Deutschland kommen“, erklärte Baerbock.[6] Im Bemühen, New Delhi enger an Berlin zu binden und perspektivisch nach Möglichkeit einen Keil zwischen Indien und Russland zu treiben, griff Baerbock auf platte Lobhudelei zurück: Sie erklärte zum Beispiel, in die indische Hauptstadt zu reisen sei, „als würde man einen guten Freund besuchen“. Zudem warb sie: „Wir können als Wertepartner enger zueinander wachsen und tun das bereits“.[7]
Der Wertepartner
Was von der Propagandamasche zu halten ist, Staaten, mit denen man enger kooperieren möchte, als „Wertepartner“ über andere zu stellen, zeigt exemplarisch ein Vorfall im Vorlauf der Baerbock-Reise nach New Delhi. In Indien hatte eine Äußerung der Ministerin anlässlich eines Gesprächs mit Pakistans Außenminister Bilawal Bhutto Zardari im Oktober für heftigen Unmut gesorgt. Baerbock hatte sich damals zur Lage in Kashmir geäußert; laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen der indischen Repressionskräfte an der zumeist muslimischen Bevölkerung an der Tagesordnung (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Die Außenministerin hatte nun verlangt, in der Region müssten die Vereinten Nationen vermittelnd aktiv werden, und behauptet, dabei habe auch Deutschland „eine Rolle und Verantwortung“.[9] Worin eine deutsche „Verantwortung“ in Kashmir bestehen soll, ist nicht ersichtlich. Indien vertritt allerdings die Position, beim Konflikt in Kashmir handele es sich um seine innere Angelegenheit. Da die Kooperation mit Indien strategisch Vorrang hat, korrigierte Berlins Botschafter in Indien die Äußerung.[10] Auch Baerbock selbst zog sie vor ihrer Indien-Reise offiziell zurück und nannte den Konflikt in Kashmir gegenüber der Tageszeitung The Hindu eine „bilaterale“ Angelegenheit – eine zwischen Indien und Pakistan.[11]
Annäherung zwischen New Delhi und Beijing
In New Delhi besprach Baerbock gestern zudem die Beziehungen zwischen Indien und China. Indien versteht sich traditionell als asiatischen Rivalen der Volksrepublik und hat bis heute Grenzstreitigkeiten mit ihr, die zuletzt im Frühjahr 2020 zu tödlichen Scharmützeln an der Demarkationslinie zwischen beiden Staaten hoch oben im Himalaya führten. Im Westen gilt dies als Ansatzpunkt für Versuche, New Delhi für den eigenen Machtkampf gegen Beijing einzuspannen. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine haben sich allerdings – wohl im Bestreben, den heftigen Druck des Westens abzuwehren – Indien und China wieder angenähert und ihre Kooperation im BRICS-Format sowie in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) intensiviert.[12] Am 18. August äußerte Jaishankar dazu in einer Rede an der renommierten Chulalongkorn University in Bangkok, zwar erlebten die indisch-chinesischen Beziehungen zur Zeit „eine extrem schwierige Phase“; doch sei unumgänglich, dass sich beide Länder wieder annäherten: Nur dann könne das „asiatische Jahrhundert“ eintreten, das so viele in Asien wünschten.[13] Baerbock wollte dem entgegenwirken – mit einem Auftritt beim India Trilateral Forum des German Marshall Fund of the United States, der einen Ausbau der Beziehungen Indiens zur transatlantischen Staatenwelt anstrebt – auf Kosten der Beziehungen zwischen Indien und China.[14]
[1] Narendra Modi: Eine Erde – eine Familie – eine Zukunft. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.12.2022.
[2] S. dazu Die Hungermacher.
[3] S. dazu Die Kulturzerstörer und Im Westen keine Gnade.
[4] Chloe Cornish, John Reed, Tom Wilson: Russia becomes India’s top oil supplier as sanctions deflate price. ft.com 08.11.2022.
[5] Gave List Of Products To Moscow For Access To Russian Markets: S Jaishankar. ndtv.com 05.12.2022.
[6], [7] Mathias Peer: Baerbock lobt Indien als Wertepartner – obwohl das Land enorme Mengen an russischem Rohöl importiert. handelsblatt.com 05.12.2022.
[8] S. dazu Chinas Gegenspieler und Chinas Gegenspieler (II).
[9] India Takes Strong Note of German FM Advocating Role of UN in Kashmir Dispute. thewire.in 10.10.2022.
[10] Kai Küstner: Werben um Indien. tagesschau.de 05.12.2022.
[11] Suhasini Haidar: We understand India’s economic constraints on Russian sanctions, oil price cap: German Foreign Minister Baerbock. thehindu.com 04.12.2022.
[12] S. dazu The West against the Rest (II).
[13] China backs EAM Jaishankar’s ‘Asian century’ remark. timesofindia.indiatimes.com 20.08.2022.
[14] Germany FM Baerbock to discuss India’s relations with China, Russia during New Delhi’s visit. aninews.in 05.12.2022.