Urs P. Gasche/Peter Gerber für die Online-Zeitung INFOsperber
- Noch halten die USA am Phantom-Präsidenten Juan Guaidó in Venezuela fest, obwohl dieser nicht mehr Parlamentspräsident ist und im Land kaum mehr eine Basis hat.
- Noch haben die USA 15 Millionen Dollar für die Verhaftung von Präsident Nicolás Maduro ausgesetzt.
- Noch sind extreme Sanktionen der USA gegen Venezuela in Kraft. Jeglicher Handel mit Dollars – auch von ausländischen Unternehmen – mit Venezuela wird sanktioniert. Seit die USA auch Abwicklungen über russische Banken sanktionieren, ist der Geldfluss nach Venezuela praktisch versiegt.
Die Folgen für die Bevölkerung von Venezuela sind verheerend: Sieben Millionen Menschen – ein Viertel der Bevölkerung – flohen zum Überleben ins Ausland. Ein Drittel der verbleibenden Bevölkerung leidet nach Angaben der UNO und von Hilfswerken unter Hunger und Krankheit. Die Inflation beträgt gegenwärtig etwa 170 Prozent.
Vermittlung von Norwegen
Jetzt haben sich Vertreter von Präsident Maduro und der Opposition auf ein erstes Teilabkommen geeinigt: Die USA sollen eingefrorene Guthaben Venezuelas in Höhe von drei Milliarden Dollar freigeben. Über die drei Milliarden wird nicht die venezolanische Regierung verfügen, sondern die UNO, welche die Gelder unter anderem in das Gesundheits- und Sozialwesen investieren soll.
Norwegen hat die Verhandlungen in Mexiko vermittelt.
Die USA geben diese Milliarden frei und heben gleichzeitig einen Teil der Sanktionen auf: Die US-Konzerne Chevron, Halliburton, Schlumberger, Baker Hughes und Weatherford dürfen in Venezuela wieder Erdöl-Anlagen warten. Chevron darf Öl in die USA exportieren, damit Venezuela mit den Einnahmen Schulden gegenüber dem Öl-Konzern tilgen kann. Maduros Regierung darf auf diesen Ölexporten weder Steuern noch Abgaben verlangen.
Wegen fehlendem Unterhalt der Anlagen und fehlender Ersatzteile fiel die tägliche Erdölproduktion in Venezuela von einst 3,5 Millionen auf noch rund 600‘000 Fass.
Die USA, die EU, Grossbritannien und Kanada forderten die Regierung Maduro und die venezolanische Opposition in einer gemeinsamen Erklärung auf, «guten Willen zu zeigen, um ein umfassendes Abkommen zu erreichen, das zu freien und fairen Wahlen im Jahr 2024 führt, zur Wiederherstellung der demokratischen Institutionen sowie zur Beendigung der humanitären Krise». Die westlichen Mächte stellten in Aussicht, das Sanktionspaket im Falle wesentlicher Fortschritte seitens des Regimes in Caracas zu überprüfen.
In den angelsächsischen Ländern führte die Einigung in Mexiko vom 26. November zu grösseren Schlagzeilen, während grosse Medien in der Schweiz und in Deutschland bisher kaum darüber informierten.
«USA sollen ihre Politik nicht auf einer Fiktion aufbauen»
«Die USA müssen Nicolás Maduro als Präsidenten akzeptieren», titelte die New York Times schon im Oktober. Das Weisse Haus solle seine Politik nicht auf Fiktionen aufbauen. Unterdessen gibt es weltweit nur noch eine Handvoll Staaten, die am Oppositionspolitiker Juan Guaidó festhalten.
Die Politik der Isolierung Venezuelas mit harten Sanktionen und dem Einfrieren von Venezuelas Nationalbankreserven hat im Land das Elend massiv verstärkt und zu einer Auswanderung in Nachbarstaaten, aber auch bis an und über die Grenze der USA geführt. Seit 2015 hat ein Viertel der Bevölkerung das Land verlassen, berichtete die New York Times.
Maduro war 2013 nach dem Tod von Hugo Chavez ins Amt des venezolanischen Präsidenten nachgerückt. Seither hat das Land gemäss dem Lateinamerika-Experten Günther Maihold fast ein Drittel seiner Wirtschaftsleistung eingebüsst. Zudem geriet es in eine Hyperinflationsspirale, an der auch mehrere Währungsreformen bisher nichts ändern konnten.
Die USA versuchen seit einigen Jahren mit dem ehemaligen Präsidenten der Nationalversammlung, Juan Guaidó, einem US-nahen Oppositionellen zur Macht zu verhelfen. Dieser hatte sich Anfang 2019 selbst zum Interimspräsidenten erklärt. Die Trump-Administration anerkannte Anfangs 2019 Guaidó als Staatsoberhaupt, nachdem sie bereits 2017 die diplomatischen Beziehungen zur amtierenden Maduro-Regierung abgebrochen und massive Wirtschaftssanktionen erlassen hatte.
Seither ist die venezolanische Opposition jedoch zunehmend gespalten und reibt sich selbst auf. Dies zeigte sich eindrücklich in den Ergebnissen der Regionalwahlen vom November 2021. Nur 3 von 23 Gouverneursämtern gingen an die Opposition, obwohl diese in den meisten Gliedstaaten eine Mehrheit der Wählerstimmen erreichte. Der Grund liegt in der Uneinigkeit innerhalb der Opposition. Anstatt sich auf gemeinsame Kandidatinnen und Kandidaten zu einigen, schickten die zahlreichen Splittergruppen je eigene Leute ins Rennen und verloren so prompt die meisten Sitze an die Regierungspartei. Immerhin: Die Wahlen beweisen, dass die venezolanische Bevölkerung den Glauben an einen Regierungswechsel noch nicht aufgegeben hat.
Mittlerweile verlor Guaidó seinen Chefposten im Parlament und zunehmend auch den Rückhalt in der Bevölkerung, der ohnehin nie sehr gross war. Guaidó gilt als Mitglied der schmalen Elite des Landes und hat nicht den Ruf, sich für die grösstenteils verarmte Bevölkerung einzusetzen. Die US-Sanktionen, die von zahlreichen Ländern übernommen wurden (inklusive einiger wichtiger südamerikanischer Staaten und engen Handelspartnern von Venezuela) sowie die Verwerfungen der Pandemie haben die Lage der Bevölkerung nochmals drastisch verschlechtert.
Gemäss UNO leben mittlerweile 96 Prozent der Bevölkerung in Armut, d.h. mit maximal zwei US-Dollar pro Tag. Ein Drittel der Bevölkerung leidet an Hunger und Fehlernährung. Und dies in dem Land, dessen Erdölreserven zu den grössten der Erde gehören.
Druck von Migrantinnen und Migranten an den Grenzen der USA
Hunger, Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven führen bereits seit längerer Zeit zu einem unvorstellbaren Exodus der Menschen. Es handelt sich – nach Syrien – um die zweitgrösste Flüchtlingsgruppe der Welt. Bereits sind Millionen Menschen in südamerikanischen und karibischen Staaten untergekommen und konnten von dort die Daheimgebliebenen unterstützen.
Die global angespannte wirtschaftliche Lage macht dies nun immer schwieriger, weshalb venezolanische Migrantinnen und Migranten zunehmend vor den Grenzen der USA stehen. Aufgrund der fehlenden diplomatischen Beziehungen zur Regierung Maduro können diese nicht zurückgeschickt werden. Die Flüchtlingskrise ist in Washington angekommen und die Biden-Administration steht immer mehr unter Druck ihre Politik gegenüber Venezuela zu überdenken.
Die globale Rohstoffkrise und eine Flüchtlingskrise vor der eigenen Türe – zwei Faktoren, welche die USA beunruhigen müssen und zum Handeln zwingen. Eine Verbesserung der Beziehungen zu Venezuela ist auch hinsichtlich einer Wiederaufnahme von venezolanischen Erdöllieferungen ein dringendes Anliegen.
Die Guaidó-Karte hat nicht gestochen, also muss Biden versuchen, wieder mit Maduro ins Gespräch zu kommen. Erste zaghafte Annäherungen sind schon geschehen, so ein kürzlicher Gefangenenaustausch. Dabei verhandelten die USA direkt mit Maduros Regierung und düpierten damit die Opposition und insbesondere Guaidó, den sie immer noch als offizielles Staatsoberhaupt anerkennen. Dies mag aufzeigen, wie gross die Unsicherheit der Biden-Regierung mittlerweile in der Causa Venezuela ist. Darüber hinaus brachte der Deal die venezolanische Diaspora in Florida in Aufruhr, da ausgerechnet zwei Neffen von Maduros Frau, Cilia Flores, ausgetauscht wurden, die wegen Drogendelikten in US-Gefängnissen sassen.
Und jetzt haben erste Gespräche zwischen der Regierung Maduro und der Opposition in Mexiko zum eingangs erwähnten Abkommen geführt.
In der Partei Maduros steigt eine neue Generation auf
Die politischen Entwicklungen in wichtigen südamerikanischen Staaten, die bis vor den jeweiligen Wahlniederlagen noch die US-Politik stützten, spielen den USA jedoch nicht in die Karten. Vor allem die neuen linksorientierten Regierungen in Kolumbien und Brasilien haben wohl ein Interesse an engen Handelsbeziehungen zu Venezuela, kaum jedoch an dessen Annäherung an die USA.
All dies stärkt Maduro, der sich unverhofft in einer besseren Verhandlungsposition gegenüber den USA (und ihren Verbündeten) wiederfindet, als dies seit Jahren der Fall war. Ob dies der Bevölkerung allerdings hilft, ihre Situation zu verbessern, darf bezweifelt werden. Aber – wie William Neuman in seinem Artikel in der New York Times bemerkt – «Fakt ist, dass Herr Maduro der Präsident von Venezuela ist, und Herr Guaidó ist es nicht.»
Die nächste Präsidentschaftswahl wird 2024 stattfinden. Sollten die USA bis dahin an Guaidó festhalten, minimieren sie damit die Chancen der Opposition, die ihn grösstenteils längst nicht mehr als Meinungsführer akzeptiert. Dafür schiebt sich die neue Garde aus Maduros Reihen gerade ins Rampenlicht, wie beispielsweise Rafael Lacava. Dieser hat die Gouverneurswahlen in ‚seinem’ Gliedstaat Carabobo erdrutschartig gewonnen. Er nimmt Abstand von den sozialistischen Parolen seiner Partei und gibt sich modern, marktorientiert und volksnah. Seine Social-Media-Auftritte werden gefeiert und die Jugend reisst sich um Selfies mit ihm, wenn er morgens joggen geht. Nach Einschätzung Neumanns ist nicht alles daran Show. Lacava konnte durch seinen pragmatischen Ansatz die Situation der Menschen in seinem Wahlkreis tatsächlich etwas verbessern, die dadurch nun auch geneigter ist, die Maduro-Regierung wieder zu stützen.
Die sozialistische Partei Venezuelas kann durch eine neue Generation smarter werden, meist unterstützt von Politikerinnen und Politiker, die im Westen ausgebildet wurden. Sie haben die «alte Garde» beinahe vollständig verdrängt. Sie tut das, was die Opposition bisher nicht schaffte: Die Bevölkerung anzusprechen, indem sie konkrete Verbesserungen herbeiführt. So hat beispielsweise Delcy Rodríguez, die Leiterin eines Teams, welches die ökonomische Reaktion auf die Wirtschaftssanktionen erarbeitete, Chavez’ Grundsätze über den Haufen geworfen und die Zahlungen mit US-Dollars ermöglicht. Neben der Deregulierung des privaten Wirtschaftssektors hat dies wesentlich dazu beigetragen, das Leben der Venezolanerinnen und Venezolaner inmitten der Hyperinflation erträglicher zu machen. So wuchs die Wirtschaft 2021 erstmals seit acht Jahren wieder, die Hyperinflation wurde etwas gebremst und die Erdölproduktion erholte sich moderat. Trotzdem bleibt die venezolanische Wirtschaft nur ein Schatten ihres Zustands vor der Präsidentschaft von Maduro. Es wäre ein Wachstum von jährlich 20 Prozent während zehn Jahren nötig, um wieder das alte Niveau zu erreichen.