Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert die Goi Peace Foundation aus Japan einen Aufsatzwettbewerb für junge Menschen. Das Thema 2022 lautete „Meine Werte“. Uns erreichten 19.986 Aufsätze aus 152 Ländern.

Die Gewinner*innen der beiden ersten und der beiden zweiten Preise erhalten einen Geldbetrag und ihre Siegerurkunde direkt vom japanischen Minister für Erziehung. Sofia, die 20jährige russische Gewinnerin des ersten Preises und Arina, die 13jährige ukrainische Gewinnerin des zweiten Preises beschreiben in ihren Aufsätzen, was der Krieg mit ihrem Wertesystem gemacht hat. Ihre Aufsätze möchten wir auf Deutsch veröffentlichen.

Alle Gewinneraufsätze können Sie in Englisch auf unserer Webseite lesen: https://www.goipeace.or.jp/en/work/essay-contest/

Erster Preis Aufsatzgewinnerin Sofia, 20 Jahre, Russland
Original auf Englisch

Man kann nicht einfach Menschen umbringen

Es war immer ganz klar and überdeutlich für mich. Ein Axiom, das keines Beweises bedarf. Feuer ist heiß, Eis ist kalt, jedes Leben zählt. Etwas, das man anderen nicht erklären muss.

Das änderte sich jedoch vor drei Monaten, denn das Land, in dem ich lebe, begann den KRIEG.

Der KRIEG. Er kam aus dem Nichts und er trifft Dich so hart. Schmerzen für die Menschen, die sterben und ihre Familien und ihr Zuhause verlieren, Verzweiflung darüber, dass es einem nicht möglich ist, das zu stoppen, die Angst, wie das wohl alles enden wird, durchdringt Dich und alles in Dir will sich verstecken, vergessen, sich vorstellen, das wäre nur eine Fiktion. Aber es ist real. Und es verändert die Welt, in der Du lebst, von Grund auf.

Werte, an die Du immer geglaubt hast, Werte, die Dir immer wichtig waren, Werte, die die Grundpfeiler Deines Lebens waren, scheinen sich nun in Asche verwandelt zu haben. Und das alles durch ein grausames, zerstörendes Feuer namens KRIEG.

Frieden.

Seit meiner Kindheit brachte man mir die Bedeutung von einem Leben in Frieden bei. Jeder erinnert sich noch an den großen Preis, der während des 2. Weltkriegs gezahlt worden war. Trotz aller Grausamkeit und Gewalt, gaben uns doch die Hingabe und der Mut unserer Vorfahren die Chance zu einer friedlichen Zukunft.

Die Tragödie, jedoch, die sich gerade abspielt, gibt dem Namen Siegestag eine neue Bedeutung. Es erscheint mir unmöglich, ihn in dem Wissen zu feiern, dass im Nachbarland die Menschen kämpfen und mit blauem Himmel über ihnen sterben. Dieser bedeutende Tag zu Ehren der gefallenen Helden ist erfüllt von Scheinheiligkeit und Falschheit, weil die Person, die die Bombardierungen befohlen hat, nun Blumen auf eine Stele legt und weil in meinem Kopf das feierliche Feuerwerk nicht zusammengeht mit den Donnern der Artillerie.

Redefreiheit.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, was kann noch schlimmer sein? Ich kann es Ihnen sagen. Die Unfähigkeit öffentlich sagen zu können, was los ist. Die Illusion der Redefreiheit kann einfach damit ausgedrückt werden, dass Sie versuchen Ihre Meinung zu sagen. Ein „falsches“ Wort, nämlich Krieg, kann ein Funke werden, der zu einer Explosion führen kann. Es ist uns nicht erlaubt, „ihn“ so zu nennen. Es ist uns nicht erlaubt, „nein“ zu „ihm“ zu sagen. Es ist uns nicht erlaubt, Frieden zu wollen.

Ich war es gewohnt in einer Welt zu leben, in der Menschen mit anderen ihre Meinungen austauschen können ohne dafür bestraft zu werden. Ich erinnere mich daran, wie ich in den Medien unterschiedliche Standpunkte hörte. Das ist jetzt alles vorbei. Alle Menschen, die nicht mit der Regierung einer Meinung sind, werden als „ausländische Agenten“ bezeichnet. Das kommt einem Strangulieren gleich! Ich fühle gleichsam ein Seil, das sich fester und fester um meinen Hals schlingt und mir jede Möglichkeit zu atmen nimmt.

Menschliches Leben.

Warum suchen Menschen nach Gründen, warum sie unschuldigen Menschen das Leben nehmen können? Warum glauben sie, dass jemand das Recht hat, andere Leben zu zerstören? Ein Genozid ist tragisch und grauenvoll und es gibt keine Rechtfertigung für ihn.

Und trotzdem muss ich mich immer den anderen gegenüber erklären.

„Du verstehst es also wirklich nicht? Menschen s t e r b e n!“ Ich schreie es aus mir heraus und gleich laufen Tränen über mein Gesicht.
„Das ist doch deren Schuld.“
„Schaust Du kein Fernsehen?“
„Das ist halt Politik, die ist nie einfach.“

Jedes dieser Worte trifft mich wie eine Pistolenkugel und löchert mein geschundenes Herz.

Ihre feste Überzeugung und die Gleichgültigkeit in ihren Augen lassen meine Seele und meinen Kopf aufschreien! Ist die Welt verrückt geworden? Ist mir etwas entgangen?

Nein, mir ist nicht entgangen, dessen bin ich mir sicher. Und während die Welt, an die ich gewöhnt war, in Stücke zerfällt, hilft mir der Glaube, den ich habe, die Teile zusammenzusetzen.

Man mag mir sagen, ich sei naiv, aber ich glaube daran, dass das Gute über das Böse siegen wird. Ich weiß, dass ich damit nicht allein bin. Ich vertraue darauf, dass wir die Situation verändern können. Frieden, Redefreiheit, menschliches Leben. Dafür stehe ich ein. Das sind m e i n e  W e r t e .

Man kann Menschen nicht umbringen.

 

Zweiter Preis Aufsatzgewinner Padalko Arina Aeksandrovna (13 Jahre alt), Kharkov Gymnasium No 43, Ukraine
Original auf Englisch

Meine Werte sind mein Leben

24. Februar 2022. Kharkiv, Ukraine. Ich wache um 4 Uhr morgens wegen Explosionen auf. Ich gehe in das Zimmer meiner Eltern und frage sie: „Habt Ihr das gehört? Was geht da vor?“ Und ich höre ihre Antwort „Ja, der Krieg hat begonnen.“

Die Eltern meiner Klassenkameraden begannen Briefe zu schreiben, dass ihr Kind nicht zur Schule kommen würde, dass sie nicht zur Arbeit gehen würden und dass sie die Stadt ganz verlassen würden. Das war der Moment, an dem ich eine Menge Fragen hatte. War es wirklich so schlimm? Es war furchtbar…. Wenn Du plötzlich dringend Deine Stadt verlassen musst. Wenn Du nicht den Geburtstag feiern kannst, den Deine liebste Person im Leben in zwei Tagen hat und den Du seit einem Jahr vorbereitet hast. Wenn Dich Deine Familienmitglieder und Freunde anrufen und fragen „Lebst Du noch?“.

Ich hätte nie gedacht, dass ich im 21. Jahrhundert in den Keller gehen würde, nicht um dort die Gurken und Tomaten meiner Großmutter anzusehen, sondern um mich dort zu verstecken.

Zurück in der Sicherheit meines Zuhauses, wollte ich mich absondern. Meine Augen und Ohren schließen. Denken, dass es nur ein Traum wäre. In dem Moment fiel mir ein berühmtes Sprichwort ein „Schätze das, was Du hast.“ Vorher war mir alles normal erschienen, irgendwie sogar auch langweilig, Alltagsroutine sozusagen. Und danach, was für Werte hatte ich jetzt?

Mein Leben ist mein Wert. Ich begann es mehr zu schätzen, seinen Wert zu erkennen. Man merkt, dass der heutige Tag der letzte sein könnte. Man weiß nicht, wo die nächste Rakete, Bombe oder das nächste Flugzeug landen wird. Das Leben besteht aus Momenten, guten und freudvollen oder schlechten und unsicheren. Sogar, wenn Du im Schutzkeller sitzt, hast Du Deine Eltern. Sie unterstützen Dich, helfen Dir an das Gute zu glauben und warten gemeinsam mit Dir.

Wenn man dann daran denkt, wie es vorher war. Morgens zur Schule gehen, zurückkommen, Hausaufgaben machen, mit der Mama ins Fitnessstudio gehen, den Hund der Freunde ausführen. Lachen, glücklich sein oder über eine schlechte Note weinen. All das sind Momente, die in Deinem Leben wirklich besonders sind. Wir erinnern uns nicht lange an sie, aber wenn wir es tun, fühlen wir uns lebendig.

Etwas schätzen, lieben, sich freuen. Das Leben ist ein Geschenk. Wenn Du das verstehst, dann läuft Dein Leben in den besten Bahnen.

Man kann nicht das morgen kennen oder was in einer Woche passieren wird, aber man kann seine Zukunft aufbauen. Meine Werte gestalten meine Zukunft.