Zunächst in den Strassen von Teheran, dann in mehreren Städten des Landes, verbreiteten sich die Demonstrationen auch ausserhalb der Grenzen, in der Türkei, im Libanon, in Deutschland oder in Griechenland und anderswo. Die Unterbrechung des Zugangs zum Internet und zu sozialen Netzwerken sowie die äusserst gewalttätige Unterdrückung durch die Polizei – nach acht Tagen Demonstrationen werden bereits mehrere Dutzend Tote vermutet – machen es dort unerlässlich und lebensnotwendig, Solidarität zu zeigen. Hier zirkulieren in den grossen Medien wie auch in kleinen Netzwerken und auf den Pinnwänden der Like-Aktivisten zahlreiche Bilder von Frauen, die bei den Kundgebungen anwesend sind, ihre Schleier ablegen und manchmal ihre Haare abschneiden und dabei „Frau, Leben, Freiheit“ skandieren.Die Szene hat sich in der Geschichte, seit der Westen ein Image als „Retter“ aufgebaut hat, so oft wiederholt, dass es jetzt unmöglich ist, sich für eine Sekunde mit dem Gefühl der Verwirrung zu gedulden. Wie immer, wenn die globalen Interessen der grossen Mächtigen von der Sorge um lokale Aufstände der „Schwachen“ geprägt sind, die schnell zu Barbaren degradiert werden. In einem Zeitalter, in dem Unruhen und Demonstrationen nicht mehr durch eine revolutionäre Wissenschaft in wirtschaftliche und politische und andere, die einfach nur kultureller Natur sind, unterteilt werden können, wird es immer dringender, zu versuchen, nicht die Vorstellungswelten im Allgemeinen, sondern insbesondere und vor allem für „uns“, die Vorstellungswelten der Revolte zu entkolonialisieren.Die nächste Fussballweltmeisterschaft findet in Katar statt, richtig? Dort, wo die Arbeiter zu Tausenden sterben und die Frauen nicht einmal… Pssst!Do Muslim Women Need Saving? Lila Abu-Lughod, eine palästinensisch-amerikanische Anthropologin, hat versucht, diese Frage zu stellen. Diejenigen, die heute im Iran kämpfen, brauchen unsere Solidarität, und wir brauchen ihren Kampf, um aktiv zu hoffen und die Welt nicht so hinzunehmen, wie sie ist. Die westliche Erzählung von der “ Befreiung “ misshandelter muslimischer Frauen, die gerettet werden müssen, könnte daher nicht eine Geste der Solidarität sein, die Taten verlangt, sondern eine Gefühlsregung des stereotypen Humanitarismus, der rassistische, koloniale und patriarchale Vorstellungswelten aufrechterhält.Die politische Moderne wird oft im Licht der Französischen Revolution gedacht. Tonnen von Büchern und Tausende von Analysen wurden geschrieben, um sie zu glorifizieren, sie zu beschmutzen oder zu versuchen, unsere Gegenwart mit ihr zu denken. Dazu gehört auch der Versuch, sie zusammen mit der Revolution in Haiti zu denken, der ersten Revolution der schwarzen Sklaven, die nur zwei Jahre später, 1791, ausbrach. Die Revolutionäre in Haiti nahmen die Slogans der Revolution in Frankreich für Freiheit und Gleichheit wörtlich. Sie geben einer „zweiten Geste“ Gestalt, die die erste Geste radikalisiert und retrospektiv auf sie einwirkt. Der universelle Charakter der Französischen Revolution gehört nicht der Französischen Revolution, sondern denjenigen, die den Staffelstab übernehmen, damit die Worte Freiheit und Gleichheit nicht nur Worte sind, geschweige denn Instrumente der Unterwerfung. Es sind die Revolutionäre in Haiti, die „überprüfen“, dass das, was geschehen ist, nicht nichts war, sondern zu etwas anderem führen kann. Es geht also nicht um die Magie und das Genie einer Eröffnungsgeste, sondern um die Art und Weise, wie eine emanzipatorische Geste eine andere Geste ablöst. Indem sie diese verifiziert und ihre Wahrheit zu einem Werden macht.
Aber das, was man hier grob als die revolutionäre Rhapsodie der Moderne bezeichnen könnte, hat noch eine dritte Episode, nämlich die griechische Revolution von 1821. Was keineswegs bedeutet, dass es nicht auch in anderen Ländern bedeutende Revolutionen gegeben hat. Eine Gliederung ist nie neutral und repräsentiert keine Realität, sie ist das, was eine Verstehbarkeit der Realität ermöglicht. Und unsere Realität ist das, was auf den Strassen von Teheran rumort. Indem wir hier diese Rhapsodie zerlegen, versuchen wir, den Übergang von einem vereitelten Universal zu einem privatisierten Universal und einer instrumentalisierten Revolte zu denken.
„Griechische Revolution oder Griechischer Unabhängigkeitskrieg“. Die westlichen Mächte schufen ein Schema, das sie seitdem immer wieder neu erfunden haben: Sie kamen einer lokalen Revolte zu Hilfe, um ihre Herrschaft zu konsolidieren oder um ihre Figuren auf dem Schachbrett der Geopolitik der Grausamkeit, in der sie Könige sind, voranzubringen. Als Russland, das Vereinigte Königreich oder Frankreich unter Karl X. beschlossen, in die griechische Krise einzugreifen und das Osmanische Reich zu schwächen, geschah dies nicht so sehr aus Liebe zur Unabhängigkeit des einfachen Volkes dort.
Die griechische Revolution wandte sich in ihren ersten Schritten hilfesuchend an Haiti, als ob hier eine Ahnung von einem Staffellauf vorhanden wäre, der stattfinden sollte. Was die grosse offizielle Geschichte betrifft, so hat sie von der griechischen wie auch von der haitianischen Revolution nur die Spuren bewahrt, die ihr passten. Die Bürde des weissen Mannes, der die Barbaren zivilisiert, musste einen „Ursprung“ konstruieren, seine Auserwählte war Griechenland, die schöne Hellenin. Das Erbe der Philosophie, des Theaters, der Demokratie … kurzum der ganzen kleinen Welt, die man als „das Jahrhundert des Perikles“ (noch ein Genie) bezeichnet hat, musste zum Erbe werden und dieses Erbe musste eurozentrisch bleiben. Dazu musste Griechenland verwestlicht und zur ersten europäischen Kolonie innerhalb des europäischen Raums gemacht werden. Seit seinem Aufbau als moderner Staat zahlt Griechenland den unbezahlbaren Preis für seine Unabhängigkeit, kauft Waffen von grossen Händlern und bewacht die europäischen Grenzen wie ein Hund. Der Mythos von der „Wiege der westlichen Zivilisation“. Fast zwei Jahrhunderte später, als die griechische Staatsschuldenkrise 2008 die Finanzkrise ablöste, hörten die „Rettungspakete“ nicht auf, das Land zu bombardieren, indem sie erneut den grossen Ausverkauf einleiteten.
Heute erheben sich Stimmen, die sagen, dass die Revolution als imaginär abgesetzt werden muss, da in ihrem Namen zu viele Verbrechen begangen wurden. Die revoltierenden Sklaven in Haiti hatten Recht. Vielleicht müssen wir die Frage nach dem Universellen weniger den Tyrannen überlassen, als vielmehr Gesten neu erfinden, die andere Gesten ablösen.
„Frauen, Leben, Freiheit, rettet uns vor unseren Rettern“, so könnte eine Aussage einer dekolonisierten Revolte lauten, die Solidarität webt.
Rakia Mako
Der Beitrag erschien auf Lundi Matin am 27. September 2022 und wurde von Sūnzǐ Bīngfǎ übersetzt.