Berlin 22.10. 2022. „Solidarischer Herbst“ Versuch einer solidarisch kritischen Nachbetrachtung!
Ein breites Bündnis von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Umweltaktivisten haben zum „solidarischen Herbst“ aufgerufen. Motto „Solidarisch durch die Krise – soziale Sicherheit schaffen und fossile Abhängigkeiten beenden“. Konkret fordert das Bündnis einen „Schutzschirm für Daseinsvorsorge“ mit unter anderem gezielten Hilfen für Menschen mit wenig Geld und einen Mietenstopp sowie den Ausbau Erneuerbarer Energien. Zur Finanzierung sollen Übergewinne von Unternehmen in der Krise abgeschöpft, große Vermögen besteuert und die Schuldenbremse erneut ausgesetzt werden. Nicht zuletzt forderten Gewerkschafter Tarifabschlüsse in voller Höhe der Inflation. Viele Teilnehmer setzten eigene Akzente. Soziale Sicherheit und Energiewende, aber auch Frieden gibt es nicht geschenkt. Die sogenannte Zeitenswende mit ihrem Militarisierungskurs würgt alle sozialen, bildungs-, gesundheitspolitischen und ökologischen Projekte ab.
Eindringliche Appelle für einen sozialen Schutzschirm und die Umsetzung der Energiewende
Haupttenor der offiziellen Redner. Eindringliche Appelle an Bundesregierung und Unternehmer. Um in der Krise zu überleben, müssten endlich die Hilfen in ausreichendem Maß gerecht und gezielt an die wirklich Bedürftigen verteilt werden. Die Vermögenden und Krisengewinnler müssten endlich zur Kasse gebeten werden. Eindringlich beschworen wird auch, dass die Energiewende nicht wieder zu kurz kommen dürfe. Der ökologische Kollaps werde sonst (so Ulrich Schneider, Bundesgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes) zum noch größeren sozialen Kollaps werden. Gefordert wird auch ein Sondervermögen für die Energiewende.
Ein Mann von der Gewerkschaftsbasis redet Klartext
Echte Proteststimmung und Beifall entfachte der Verdi Gewerkschafter Michael Erdmann, der für seine Kollegen vom BSR (Berliner Stadtreinigung) in Richtung Arbeitgeber und Regierung Tacheles sprach. Für die Regierenden stellte er klar, dass die Inflation zu mehreren 100 Milliarden Steuermehreinnahmen führten, die den Arbeitenden gefälligst zurückzugeben sind! Viele Unternehmen fahren seit Corona von Krise zu Krise Sondergewinne ein. „Die Rüstungskonzerne machen sich mit dem Krieg die Taschen voll.“ Und „Alles ist teurer geworden, sag mal, wollen die uns für blöd verkaufen, wie dumm oder arrogant muss die Regierung sein, dass die uns nichts von den Milliarden abgeben?“ Den Arbeitgebern, die sich gegen die Verdi Forderung nach einer Erhöhung der Tarife um zehn Prozent mit allen Mitteln stemmen, rief Erdmann über das Mikrofon zu: „Haben die nicht mehr alle Latten im Zaun? Wir haben zehn Prozent Inflation“, das sei bei voller Durchsetzung der 10 Prozent doch nicht mehr als “ eine Nullrunde.“
Hier der Videomitschnitt der ganzen Rede:
Reallohnerhalt sockelwirksam!
Das offensive selbstbewusste Auftreten des Mannes von der Gewerkschaftsbasis kam bei einem Großteil der Zuhörer vor der Bühne super gut an. Machte er doch klar, dass bei der Inflation das Geld nicht einfach verschwindet, sondern von uns in die Taschen nationaler oder internationaler Konzerne wandert bzw. auch der Staat einen erklecklichen Teil mehr einstreicht. Es geht nicht um Almosen oder um Bittstellung, sondern darum, dass wir uns einen Teil der von uns erarbeiteten Werte zurückholen. Es reicht nicht allein Preise runter, Löhne rauf und staatliche Abfederung zu fordern. Die Löhne müssen sockelwirksam rauf, mindestens in Höhe der Inflation, wie der Mann vom BSR deutlich machte. Hohe Anteile von Einmalzahlungen wie beim IG Chemie Abschluss sind eine süße Droge für den Augenblick, retten aber letztendlich nicht vor dem Abstieg.
Militarisierungs- und Konfrontationskurs sind ein Angriff auf die sozialen Verhältnisse
„Weit über 6 Millionen Kolleg*innen aus der Metallindustrie, dem Öffentlichen Dienst usw. mobilisieren sich im Tarifkampf für inflationssichere Tarifverträge“, heisst es in einem Flyer unabhängiger Gewerkschafter von „Soziale Politik & Demokratie“ und weiter wird gefordert: „Nein zu den Milliarden für den Krieg! Nein zur Preisexplosion und Verteuerung des Lebens! Für die Verteidigung des Reallohns! Für mehr Personal!“
Das stößt auf breite Zustimmung. Hier unten vor der Bühne werden von vielen etwas andere Akzente als „da oben“ gesetzt. Aktivisten der IG Metall setzen mit dem Transparent „Schluss mit dem Krieg – die Waffen nieder“ bewusst ein Signal. Die Resonanz ist riesig! Soziale Notlage und Abdriften in die Verarmung lassen sich nicht vom Militarisierungs- und Konfrontationskurs der Bundesregierung trennen. Die Politik der sogenannten Zeitenwende schnürt unweigerlich alle Spielräume für soziale, bildungs-, gesundheitspolitische und ökologische Projekte ein. Das bringen Demonstranten fast überall auf vielfältigste Weise zum Ausdruck.
Geschenkt wird uns nichts. Kämpfen heißt solidarisieren!
Mit einer konzertierten Aktion „gemeinsam durch den Winter“. Die Realität sieht anders aus. Nicht nur im Öffentlichen Dienst. In der Tarifrunde Metall zeigte die Kapitalseite mit einer „Null“ als Angebot beharrlich über zwei Verhandlungsrunden hinweg die Zähne. In der Praxis bedeutet dieses „Angebot“ real Minus 10 Prozent! Nur Massenproteste und nachhaltige Streiks in den Betrieben, die wirklich weh tun, werden zu einer Reallohnsicherung führen. Geschenkt wird nichts. Keine Reallohnabsicherung, keine soziale Absicherung, keine Energiewende. In den Metallbetrieben brodelt es. Nicht kämpfen wollen gegen den Regierungskurs und die Kapitalinteressen, das heißt nicht solidarisch sein mit den Kollegen im eigenen Betrieb und anderen Branchen, mit Benachteiligten in unserer Gesellschaft, mit den Opfern nicht enden wollender Kriege, mit den Hungernden weltweit. Nicht kämpfen wollen heißt, sich abfinden mit dem Abstieg auf Raten in die Armut, mit dem Abschied vom weltweiten 1,5 Klimaziel und mit dem Damoklesschwert einer Kriegskatastrophe.
Breites Spektrum an Beteiligung. Bei der Mobilisierung ist noch viel Luft nach oben!
Nach unseren Beobachtungen stellten die initiierenden Organisationen (Gewerkschaften Verdi, GEW, BUND, Campact etc.) knapp 50 % der Demonstranten. Die andere gute Hälfte der Teilnehmer kam aus den diversen sozialen Bündnissen und linken Gruppen, die momentan den Protest auf Berlins Straßen kontinuierlich organisieren und sich dabei immer mehr zusammenschließen, darunter auch Aktivisten anderer Gewerkschaften wie IG Metall, Bau etc… Mit dabei auch Vereinigungen wie die „Omas gegen Rechts“.
Cristoph Bautz von Campact im Vorfeld:“…diesen Samstag ist es soweit: Wir holen uns die Straße zurück! Bisher machen vor allem Rechte Schlagzeilen mit ihren Märschen, jetzt wollen wir das drehen: mit großen Demos in sechs Städten für solidarische Politik in der Krise.“
Dieses Ziel wurde trotz der großen finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten der Organisatoren, ausgestattet mit reichlich „linker“ bzw. „links-liberaler“ Politprominenz, deutlich verfehlt. Die Schlagzeilen waren entsprechend. In Berlin waren es statt der angekündigten 20.000 Teilnehmer gerade mal 6.000 laut Veranstalter, laut Polizei 2800. Realistisch dürften es, gestützt auf unsere Kameraerfassung, etwa knapp 4.000 gewesen sein. Damit hat sich die Veranstaltung kaum deutlich von der Summe der bisherigen sozialen linken Proteste („Heizung , Brot und Frieden“ , „Hände weg vom Wedding“ etc.) abgehoben. Bei den Gewerkschaften wurde -abgesehen von der GEW nach unseren Beobachtungen- sehr wenig „Basis“ gesichtet. Um Mensch hinter dem Ofen hervorzulocken, braucht es mehr Biss. Ausklammern oder auch nur zahnlose Kritik am neuen Militarisierungs- und Konfrontationskurs reichen nicht. Ebenso wenig die Beschränkung, auf Regierung und Kapitalistenverbände nur einreden zu wollen. Schon gar nicht gut, wenn von einigen -zum Glück nur von wenigen- sogar das Kuscheln mit der eigenen Bourgeoisie zur Voraussetzung für antifaschistischen Protest gemacht wird. Anders als auf vorangegangenen Veranstaltungen der linken Berliner Bewegungen kamen auch migrantische und internationalistische Stimmen (abgesehen von der aktuell staatsobligatorischen ukrainischen Rede) kaum zu Wort. So wird man letztendlich den Rechten weder Widerstand noch Straße nehmen können.
Für Berlin gilt es jetzt die vielen guten Ansätze weiter zu bündeln. In nächster Zeit kommt es nicht zuletzt auf die Belegschaften in den Betrieben an. Lassen sie sich über den Tisch ziehen? Es gibt erkennbare Signale, dass jetzt nach Jahren des Stillhaltens vielen der Kragen platzen könnte. Ende des Monats beginnt in der Metalltarifrunde die erste heisse Phase!