Gazprom liefert nur 50 oder 20 Prozent der Leitungskapazität. Wichtig aber ist, wie viel Gas der Westen vertraglich gekauft hat.
Viele Medien gaben sich mit der Information zufrieden, dass Russland beziehungsweise der Staatskonzern Gazprom die Gaslieferungen nach Westeuropa auf 50 und jüngstens sogar auf 20 Prozent «des möglichen Umfangs» gedrosselt habe. Kriterium war stets die maximale Gasmenge, die durch die Gasleitungen transportiert werden könnte (gemessen beispielsweise in kWh/d). Viele Zuschauende und Lesende erhielten den Eindruck, Russland habe sich verpflichtet, stets ein technisches Maximum an Erdgas zu exportieren.
Kaum ein Medium stellte die Frage, ob denn Gazprom vertraglich tatsächlich verpflichtet ist, die maximal mögliche Menge an Erdgas an westliche Abnehmer zu verkaufen.
Das ist nicht der Fall.
Es musste auffallen, dass bis vor kurzem weder die deutsche Regierung noch die grossen deutschen Importeure wie Uniper oder RWE den Vorwurf erhoben, Gazprom oder Russland würden Lieferverträge nicht einhalten. Vertragsverletzungen sind sonst stets ein grosses Thema.
Erstmals am 3. August erwähnte Bundeskanzler Olaf Scholz, vor einer reparierten Turbine stehend, eine «Nichteinhaltung der Lieferverträge», für welche keine technischen Gründe geltend gemacht werden könnten. Etliche Medien ergänzten: «Gazprom hatte die Gas-Lieferungen auf inzwischen nur noch 20 Prozent des möglichen Umfangs reduziert und dies mit der fehlenden Turbine begründet.»
Mit diesem Nachsatz erweckten diese Medien den falschen Eindruck, Gazprom sei verpflichtet, die Pipelines voll auszulasten. Diesen Eindruck hatte offensichtlich auch der WDR, der keinen Unterschied machte zwischen «möglichem Umfang» und vertraglichen Verpflichtungen und von «20 Prozent der vereinbarten Menge» redete.
Effektive Vertragsverletzungen
Gazprom verletzte Verträge, weil es an Polen, Bulgarien, Dänemark, Finnland und Holland kein Gas mehr liefert. In den Verträgen ist die Bezahlung in Euro vereinbart. Doch das vom internationalen Devisenverkehr ausgeschlossene Russland verlangte eine Bezahlung in Rubel, was diese Länder nicht akzeptierten. Das hart sanktionierte Russland setzte seine Gasexporte darauf als politisches Druckmittel ein und verweigerte weitere Lieferungen.
Geheimniskrämerei über die vertraglichen Absicherungen
Kein Unternehmen und kein Land ist verpflichtet, mehr Waren zu liefern als vertraglich vereinbart. Falls es beispielsweise in der Schweiz im nächsten Winter zu einer Stromknappheit kommt, können die Schweizer Stromimporteure von Frankreich nicht fordern, über die vertraglich abgesicherten Importe hinaus einfach so viel Strom zu liefern, wie es die Stromnetze erlauben.
Doch ein solcher Anspruch wird zumindest implizit jetzt bei den Gaslieferungen aus Russland erhoben. Entscheidend ist aber, welche Mengen Gas namentlich die grossen deutschen Importeure wie Uniper oder RWE und andere europäische Importeure von der Gazprom für den kommenden Winter vertraglich vereinbart haben.
Noch vor gut zehn Jahren waren langfristige Lieferverträge mit einer Laufzeit von bis zu dreissig Jahren üblich. Beim Auslaufen der einzelnen Verträge wurden sie meist erneuert.
Inzwischen haben viele Lieferverträge nach Angaben von Branchen-Insidern eine Laufzeit von nur noch drei Jahren. Es können ausnahmsweise längere Laufzeiten sein oder öfter auch nur ein Jahr oder nur mehrere Monate. Allerdings bietet Gazprom kurzfristige Lieferungen über die sogenannte Electronic Sales Plattform seit Oktober 2021 nicht mehr an. Alle längerfristigen Verträge können beim Auslaufen von beiden Seiten erneuert oder auch nicht erneuert werden.
In den Verträgen sind üblicherweise tägliche Mindest- und Maximalmengen beispielsweise im Laufe eines Winters vereinbart. Von Tag zu Tag können die Abnehmer daher je nach Bedarf unterschiedliche Mengen beziehen.
Regierungen sollten eigentlich über die vertraglich garantierten Gas-Lieferungen Bescheid wissen
Weil es mehrere grosse Importeure gibt und diese eine unterschiedliche Geschäftspolitik verfolgen, ist es nicht so einfach festzustellen, welche Mengen Gas Gazprom vertraglich nach Westeuropa zu liefern verpflichtet ist.
Eigentlich sollten sich wenigstens die Regierungen einen Überblick darüber verschafft haben. Doch dies ist offensichtlich nicht der Fall. Die privaten Gaskonzerne können – weil systemrelevant – bei Problemen darauf zählen, dass der Staat ihnen hilft: So machte die deutsche Regierung Ende Juli 15 Milliarden Euro locker für Kredite und Kapitalbeteiligungen zugunsten des Energiekonzerns Uniper. Aber wenn es darum geht zu wissen, zu welchen Liefermengen sich Gazprom für den nächsten Winter insgesamt vertraglich verpflichtet hat, fordern weder die Bundesregierung noch der Schweizer Bundesrat Transparenz ein.
Es gelte «höchste Vertraulichkeit», erklärte Andrej Pustisek, Professor für Energiewirtschaft an der Hochschule für Technik in Stuttgart. Von «absoluter Verschwiegenheit» sprach ein Insider eines Schweizer Unternehmens, das mit Gas handelt.
Als auch Deutschlands Wirtschaftsminister Robert Habeck kürzlich erklärte, «Russland bricht Verträge», liess er offen, welche Lieferverträge er meinte und ob Gazprom nur zwei Prozent der vereinbarten Mengen nicht liefert oder fünfzig Prozent.
Infosperber fragte die grossen deutschen Gas-Importeure Uniper und RWE, in welchem Ausmass Gazprom vereinbarte Lieferverträge nicht einhält und welche Möglichkeiten offenstehen, um bei Verletzungen der Lieferverträge Schadenersatz zu fordern.
Eine Antwort kam lediglich von RWE: «Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir zu einzelnen Verträgen keine Auskünfte geben können.» Jedenfalls muss Gazprom dem RWE-Konzern viel weniger Gas liefern als ursprünglich vereinbart, denn die RWE-Sprecherin fügte bei: «Zu Beginn des Krieges hatten wir insgesamt 15 Terawattstunden bis 2023 unter Vertrag. Jetzt haben wir unser finanzielles Engagement auf weniger als 4 Terawattstunden reduziert.»
Auf die Rückfrage, ob Gazprom einige Lieferverträge nicht einhielt, blieb eine Antwort aus. Bei Uniper war gar nichts darüber zu erfahren.
Heikle Beweislage bei Vertragsverletzungen
Sollte Gazprom einer Vertragspartnerin weniger Gas liefern als vereinbart, kann ein schwieriger Rechtsstreit entstehen. Der Grund des Lieferausfalls wird bei der Feststellung von Haftungsansprüchen eine wichtige Rolle spielen. Lieferausfälle aus «technischen» Gründen werden anders bewertet als Lieferausfälle aus «politischen» oder «ökonomischen» Gründen. Deshalb die heftige Auseinandersetzung darüber, ob nun beispielsweise eine revidierte Turbine tatsächlich wegen der Sanktionen nicht früher geliefert werden konnte oder nicht.
Andererseits war es von der EU-Kommission sehr verwegen, als diese am 8. März 2022 mit ihrem Plan «REPowerEU» vorschlug, alternative Gasquellen so stark zu fördern, dass Ende 2022 nur noch ein Drittel so viel Gas aus Russland importiert werden muss wie Ende 2021. Das könnte zu Vertragsverletzungen der westlichen Importeure führen. Denn entweder haben sich europäische Importeure bis Ende 2022 lediglich einen Drittel der früheren Importe vertraglich zugesichert – was fahrlässig wäre – oder die Importeure würden ihre Abnahmeverpflichtungen nicht einhalten und ihrerseits bestehende Verträge verletzen.
Macht eine Seite eine Vertragsverletzung geltend, sind nach Angaben von Professor Andrej Pustisek in der Regel Schiedsgerichtsverfahren vorgesehen, die langwierig sein können. Seit Beginn der Erdgaslieferungen aus der damaligen Sowjetunion nach Europa in den 1970er Jahren wurden die vertraglichen Verpflichtungen (mit nur wenigen Ausnahmen) von allen Seiten immer erfüllt.
Informationsdefizit auch in der Schweiz
In der Schweiz zeigen sich Regierung und Parlament sehr besorgt darüber, ob im kommenden Winterhalbjahr genügend Gas importiert werden kann. Die Schweiz bezieht das russische Erdgas hauptsächlich aus Deutschland.
Wie viel Gasbezüge aus Deutschland, Frankreich und Holland sich Schweizer Importeure – das sind namentlich der Gasverbund Mittelland, Gaznat und Open Energy Platform – für den nächsten Winter vertraglich gesichert haben, weiss der Verband der Schweizerischen Gasindustrie nicht. Der VSG teilte Infosperber mit: «Als Verband sind uns die direkten oder indirekten Handelspartner der Schweizer Gasversorgungsunternehmen nicht bekannt. Ebenfalls nicht bekannt sind uns die Beschaffungsportfolios.»
Offensichtlich weiss es selbst der Bundesrat nicht. Das Bundesamt für Energie verwies Infosperber an die Gasindustrie. Infosperber hakte nach: «Die grossen Importeure geben über ihre Lieferverträge keine Auskunft. Das Departement für Energie UVEK muss doch über die Gesamtheit der vertraglich bereits vereinbarten Importmengen für das nächste Winterhalbjahr Bescheid wissen.» Eine Antwort blieb aus.
Offensichtlich wissen das Departement und der Bundesrat nicht Bescheid. Denn es ist kein Grund ersichtlich, weshalb das UVEK diese Auskunft nicht erteilen könnte.
«Russland liefert weniger Gas als vereinbart»
Am Samstag, 6. August, verbreiteten die SRF-Nachrichten: «Russland liefert Deutschland weniger Gas als vereinbart». Das tönte so, als ob SRF Kenntnis darüber hat, was denn vereinbart ist. Allerdings präzisierte SRF nicht, ob Gazprom 2 Prozent oder 50 Prozent weniger liefert «als vertraglich vereinbart». Deshalb erkundigte sich Infosperber beim SRF, ob denn die Nachrichten- oder Wirtschaftsredaktion Kenntnis darüber haben, wie viel Gas Gazprom laut Lieferverträgen den grossen Abnehmern in Deutschland liefern müsste, und wie viel weniger Gazprom zurzeit liefere.
Doch Fehlanzeige. Darüber weiss auch SRF nicht Bescheid. Die Nachrichten-Redaktionsleitung schrieb Infosperber: «Diese Aussage hätten wir in dieser Absolutheit so nicht machen sollen. Da die Lieferverträge nicht offengelegt werden, sind auch die Mindestliefermengen nicht bekannt.»
Derweil explodieren die Gewinne grosser Erdgas- und Ölkonzerne
Von den stark gestiegenen Gas- und Ölpreisen, welche ärmeren Bevölkerungsgruppen in vielen Ländern enorm zu schaffen machen, profitieren primär die Produzenten, namentlich grosse Energiekonzerne und deren Aktionäre. Im laufenden Jahr könnten grosse Konzerne ihre Nettoeinnahmen verdoppeln, prophezeit die Internationale Energieagentur. Allein die vier grössten Energiekonzerne könnten 240 Milliarden Dollar Gewinn erzielen, wenn man Quartalsangaben von Bloomberg hochrechnet. Einen grossen Teil davon kassieren die Aktionäre. Shell beispielsweise verwendete 50 Prozent des letzten Quartalgewinns und BP rund 40 Prozent für Ausschüttungen und für Rückkäufe eigener Aktien – was die Kurse der an den Börsen verbleibenden Aktien steigen lässt.
Jede Ankündigung von Regierungen, weitere Öl- oder Gasimporte zu unterbinden oder zu reduzieren, treibt die Preise an den Märkten in die Höhe. Professor Andrej Pustisek befürchtet, dass «die hohen und volatilen Preise der Akzeptanz des Energieträgers Erdgas langfristig immens schaden». Bald werde niemand mehr in diesen Energieträger investieren.