Das Jubiläum der bekannten «Grenzen des Wachstums» ist eher missraten. Ein Nachtrag zu «Degrowth» und Gerechtigkeit.
Hans Steiger für die Online-Zeitung INFOsperber
Mit dem 50. Jahrestag der Publikation des ersten Berichts des Club of Rome flammte im Frühling die alte Wachstumsdebatte wieder kurz auf. Meist rechthaberisch geführt, unergiebig, ohne den überfälligen Blick auf global gerechte «Degrowth»-Alternativen. Es ist geradezu absurd, dass in unseren Breiten ein halbes Jahrhundert nach «Grenzen des Wachstums» und einer Kaskade katastrophaler ökologischer Berichte jede Delle bei den ökonomischen Steigerungsraten als negativ, ja dramatisch wahrgenommen wird. Sofort stützen, wieder ankurbeln, da scheinen sich Politik wie Medien einig. Darum müssen wir diese im Kern irrationale Diskussion weiter führen: Expansion ohne Ende geht nicht.
Weg vom kapitalistischen Zwang
Ein gut aufgebautes Argumentarium gegen die Wachstumsideologie liefert Jason Hickel mit «Weniger ist mehr». Dass sich der Titel auf dem Cover auch als «Mehr ist weniger» lesen lässt, passt zum Untertitel: «Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind». Forschungsschwerpunkte des 1982 in Swasiland geborenen, heute an der London School of Economics lehrenden Anthropologen sind ökologische Ökonomie sowie globale Ungleichheiten. Die ideale Basis für eine sozialökologische Perspektive.
Nach drei eher deprimierenden Krisenanalysen, deren Kern ich in einer vorhergehenden Rezension zu vermitteln versuchte, war diese Lektüre eine Wohltat. Obschon die Lage ähnlich dramatisch eingeschätzt wird, auch hier alle zentralen Gefahren benannt sind. Dies ohne Hoffnung, «die Technologie werde uns retten». Das sei nur eine beruhigende Phantasievorstellung, an die er selber lange geglaubt habe. Umso überzeugender seine Relativierung derartiger Hilfsmittel: Sie sind zwar wichtig, reichen aber nicht, sie können im von Wachstumszwängen beherrschten kapitalistischen Wirtschaftssystem sogar das Zerstörungspotential erhöhen. Voraussetzung für einen «Green New Deal», der diesen Namen verdient, ist «Degrowth», zu umschreiben als Wachstumsrücknahme durch eine Verringerung von Konsum und Produktion. Und da der Deal zudem gerecht sein muss, haben wir uns im globalen Norden und Westen auf ein spürbares Weniger einzustellen. Für die meisten wird das unter dem Strich kein Verlust, sondern ein Gewinn an Freiheit und Lebensqualität sein. Nachdem sich der grüne Deal im deutschen Sprachraum als Begriff eingebürgert hat, gilt es jetzt, ihn mit Degrowth als sinnvollem Inhalt zu füllen.
Geheimnisse des guten Lebens
Dass der aktuelle Trend verkehrt ist, wissen die meisten. Nicht nur wegen der nackten Fakten, die im Buch mit Grafiken anschaulich präsentiert sind. Die in der «Euphorie angesichts der Globalisierung des Konsumismus» rasch verdrängte Botschaft von den Grenzen des ökonomischen Wachstums gilt nach wie vor, der exponentiellen Dynamik in den seitdem vergangenen Jahrzehnten zum Trotz. Hinzu kam noch die ökologische Verschärfung. Sich häufende Krisen erschütterten auch in unseren Breiten das Gefühl, auf der sicheren Seite zu sein. Umfragen bestätigen allgemeines Unbehagen. Weltweit scheint eine Mehrheit zu finden, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt. Wäre da irgendwo Besseres in Sicht … Also mündet der Analyseteil in die Frage: «Warum dann nicht einfach eine vollkommen andere Art von Wirtschaft entwerfen?»
Bei seiner anschliessenden, einfach und vernünftig klingenden Skizze, die das «Weniger ist mehr» als eines der zentralen «Geheimnisse des guten Lebens» begründet, greift der Anthropologe auch auf sein ursprüngliches Fachgebiet zurück. Menschen haben in der Vergangenheit anders, aber oft nicht schlecht gelebt. Nicht wenige, wenn auch relativ kleine, zunehmend bedrängte Gemeinschaften in aller Welt haben zum Beispiel bis in unsere Zeit eine naturnähere Kultur bewahrt. Zudem finden sich überall neue Ansätze und Initiativen, die Auswege aus der Sackgasse erproben. Es gibt da oft erstaunliche Querbezüge: Erkenntnisse der Wissenschaft erlauben etwa Einblicke in umfassende ökologische Netzwerke, die überlieferte Weisheiten des «primitiven» Animismus immer vernünftiger erscheinen lassen. Wie wird das unsere Weltanschauung und Haltungen verändern?
Damit sei angetippt, wie weit und tief diese Ermutigung reicht. Müssiggang ist keine Sünde und Produktivität keine Tugend, auch wenn dies eine der herrschenden Klasse nahe Kirche so lehrte. Auch politische Schlussfolgerungen muten oft radikal an. Umso verblüffender der werbende Hinweis auf dem hinteren Umschlagdeckel ganz unten: «Buch des Jahres der Financial Times». Ausgerechnet! Bewegt sich selbst in der Welt des Geldes mehr, als wir am anderen Ende des Spektrums glauben?
Prominenz mit Pathos gepaart
Auf dem nächsten Buch prangte oben rechts einer dieser penetranten roten Kleber, die mich inzwischen eher schrecken als locken: «SPIEGEL Bestseller-Autoren». Franz Alt und Ernst Ulrich von Weizsäcker wollen fünfzig Jahre nach Erscheinen des ersten Club of Rome-Berichtes bilanzieren. «Der Planet ist geplündert. Was wir jetzt tun müssen.» Wer neue Einsichten erwartet, wird enttäuscht sein. Alt, nun auch über 80, als Publizist oft tatsächlich Pionier nicht nur punkto Ökologie, nutzt den Anlass zu einer Tour quer durch alles, was ihn gerade beschäftigt, von der universalen «Menschenkatastrophe» bis zur deutschen Parteipolitik. Wenig weckt Widerspruch in diesem Diskurs über die Welt und Gott, dem er bezüglich Bewahrung der Schöpfung stets eine besondere Bedeutung beigemessen hat. Genügt das? Der angehängte Blick in «die Welt im Jahr 2072» bringt «geistige Kipppunkte» ins Spiel, doch die «Angebote des Überlebens» bleiben dürftig und die eingestreuten Fotos machen das Ganze zur peinlichen Selbstinszenierung: Alt mit Merkel, Gorbi, dem Dalai-Lama, auf seinem Solardach, beim Klimastreik posierend …
Und sein Co-Autor? Weizsäcker steuert eigentlich nur ein längliches Nachwort bei, in dem der Alles-immer-besser-Wisser gönnerhaft feststellt, das Team um Donella und Dennis hätte 1972 mit «Die Grenzen des Wachstums» das Produkt einer «Fleissarbeit» des Massachusetts Institute of Technology abgeliefert. Mit dem «Einfachmodell für eine sehr komplexe Nachricht» sei damals viel Aufmerksamkeit, aber auch berechtigte Kritik provoziert worden. Interessiert hatte mich vor allem, was der eifrige Propagandist eines «Faktor vier», welcher bei gesteigerter Ressourcenproduktivität doppelten Wohlstand und halbierten Naturverbrauch verhiess, im Rückblick von seinem «grünen» Wachstum hält. Er räumt ein, dass Effizienzgewinne von zusätzlichem Konsum überrollt wurden. So hätten die Skeptiker «auf indirekte Weise» recht bekommen, doch «den Nationen der Welt und ihren Bürgerinnen und Bürgern» sei die Entwicklung «wie ein Geschenk des Himmels» vorgekommen. Einsicht klingt anders.
Der heutige «Ehrenpräsident» des Club of Rome legt noch ein eigenes Jubiläumsbuch vor: «So reicht das nicht!» Darin habe ich nur kurz digital geblättert. Er sei um ein eher schmales «Debattenbuch» zum «Grossthema Klima» gebeten worden. Und doch liefert Weizsäcker laut Untertitel fast alles: «Aussenpolitik, neue Ökonomie, neue Aufklärung – Was die Klimakrise jetzt wirklich braucht.» Auf der ersten Seite teilt die Überschrift mit, dass «Putins Angriffskrieg verbrecherisch» ist, auf der zweiten: «Die Klimakrise ist echt gefährlich.» Dies zum inzwischen immerhin sechsten IPCC-Sachstandsbericht. Im einleitenden Interview unter prominenten Freunden wird der Autor als Vorreiter gefeiert, ein «Silberrücken» und «Quell der Inspiration für die Umweltbewegung weltweit». Optimistisch sei er nach wie vor. Er setze auf Gedanken, die langfristig Wirkungen entfalten: «Hoffnung macht mir eine neue Generation, die merkt, dass sie angeschwindelt worden ist. Und eine neue Art von Investoren» …
Aus einer bunten anderen Welt
Ja, die Weisheit alter weiss(haarig)er Männer allein bringt uns sicher nicht weiter. Drum zum Schluss noch eine anders geartete Schrift: «Eine Welt – ein Klima», erschienen als Band 10 der Studien zur globalen Gerechtigkeit im Unrast-Verlag, welcher in Münster seit den 1990er Jahren linksorientierte «Bücher der Kritik» vertreibt und punkto soziale Bewegungen immer wohltuend offen am Puls der Zeit bleibt. «Dieses kleine Buch ist eine grosse Sache», schreibt Ari Lewis von der kanadischen Gruppe «The Leap», aus deren Umfeld die nicht nur farblich frohen Illustrationen von Molly Crabapple stammen. Sie passen zur inhaltlich bunten Sammlung kurzer Texte aus verschiedenen Weltecken. Wer die Bilder belebt sehen und so einen ersten Eindruck der hier vermittelten Vision gewinnen will, wird bei Youtube mit der Suchanfrage «The Years of Repair» fündig.
Der vom weltweiten Klimastreik befeuerte Protest und die mit einem Green New Deal verknüpfte Aufbruchstimmung eröffne tatsächlich neue globale Perspektiven, falls darin das Element der Gerechtigkeit gestärkt und die Parole vom «System Change» mit Inhalt gefüllt wird, betont das englische Redaktionsteam. Doch ohne die Anerkennung einer wechselseitigen Abhängigkeit – bei der Klimakrise wie bei deren Eindämmung – besteht die Gefahr, «in einem grüngewaschenen Kolonialismus» zu landen. Analysen zu diesem Aspekt sind darum zentral und es kommen dazu Stimmen aus dem globalen Süden zu Wort, die sonst besonders im deutschsprachigen Raum wenig Gehör finden. Leute aus Ländern mit starker Kolonialvergangenheit sehen die Verantwortung deutlicher, welche daraus erwächst. Von internationalen Konzernen diktierte Investitionsabkommen, die wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung versprechen, erweisen sich als besonders gefährliche Instrumente, aber auch Naturschutzmassnahmen und Klimakompensation bedeuten für die Menschen vor Ort oft vor allem Zerstörung von Lebensraum und sind Landraub. Meist befassen sich die Schreibenden wissenschaftlich oder als Aktive in einer zivilgesellschaftlichen Gruppierung mit dem Themenkomplex. Und so trifft meist zu, was einleitend als eines der editorischen Ziele angegeben wird: dass hier «Internationalismus» und Solidarität nicht «abstrakte Plattitüden» bleiben.
Corona und Klima in Verbindung
Wiederholt fliessen die frischen Erfahrungen mit Corona ein. Beispielsweise in Indien: Dort wurden am 24. März 2020 mehr als 1,3 Milliarden Menschen in einen Lockdown geschickt. Wie anderswo in der Welt konnten sich nur diejenigen in die Sicherheit ihres Zuhauses zurückziehen, die Ersparnisse oder reguläre Arbeitsverhältnisse hatten. Jene vielen Millionen, die mit sogenannter Wanderarbeit in Grossstädten «von der Hand in den Mund leben müssen», hatten sich meist ohne Unterstützung durchzuschlagen, oft Hunderte von Kilometern in ihre Heimatdörfer zurückzulegen – in dieselben Dörfer, die einige zuvor aufgrund der verheerenden Folgen des Klimawandels verlassen mussten. Viele überlebten diese Heimreise nicht».
In einem Kapitel über «klimabedingte Migration» wird grundsätzlich nach Visionen zur Lösung dieses rund um den Globus für viele Bevölkerungsgruppen akuten Problems gefragt. Die starke Formel dazu lautet, «das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen» müssten gleichzeitig angegangen werden. Zwar haben die sozialen, ökologischen und politischen Schutzmechanismen, um ein würdevolles Leben in der Heimat zu sichern, die Priorität. Doch wo dies nicht gewährleistet ist, müssen auch Fluchtwege geöffnet werden. Derzeit, so wird etwa mit Bezug auf Studien zur Situation in Malawi festgestellt, scheine der Klimawandel eher bestehende Migrationsbarrieren zu verstärken. Das gilt ebenso für die Pazifikregion. Ein in Fidschi für Oxfam tätiger Berater will denn auch die betriebene «Entwicklungspolitik neu denken». Wieder werden Corona-Massnahmen und kommende Klima-Herausforderungen in Verbindung gebracht. Bei jeder Entscheidung, jedem Projekt sei zu fragen, wer daran verdiene, ob es dem Wohlergehen der gesamten Bevölkerung und deren Umwelt diene. Für diese Umorientierung müssten sie auch ihre «indigenen Werte und Prinzipien wieder neu erlernen», wegkommen von der Förderung von Wettbewerb, Individualismus und materialistischem Wohlstandsdenken. Womit wir wieder bei der Weisheit des «Weniger ist mehr» wären.
Dieser Beitrag erscheint auch in der «P.S.»-Sommer-Buchbeilage.
Jason Hickel: Weniger ist mehr. Oekom, München 2022, 348 Seiten, Fr. 35.90
Franz Alt / Ernst Ulrich von Weizsäcker: Der Planet ist geplündert. Hirzel, Stuttgart 2022, 208 Seiten, Fr. 32.90
Ernst Ulrich von Weizsäcker: So reicht das nicht! Bonifatius, Paderborn 2022, 160 Seiten, Fr. 28.90
Eine Welt – ein Klima. Globale Perspektiven auf einen gerechten Green New Deal. Unrast, Münster 2022, 184 Seiten, Fr. 23.90