Da das Handelsblatt den offenen Brief von Tsipras an die Deutschen vom 13. Januar diesen Jahres lediglich in der Printausgabe veröffentlichte und uns der Brief auf englisch erreichte, übersetzten wir den Brief, den man auf englisch auf der Seite von Syriza findet, um ihn einer weiteren deutschen Leserschaft zugänglich zu machen.
Liebe Leser des Handelsblattes,
die Mehrheit von Ihnen wird sich bereits jetzt eine Meinung darüber gebildet haben, was sie in diesem Artikel lesen wird. Das ist mir bewusst. Ich wage es dennoch, sie darum zu bitten, sich den folgenden Zeilen möglichst vorurteilsfrei zu widmen. Denn Vorurteile sind, vor allem in Zeiten der Wirtschaftskrise, keine guten Berater, sie schüren Intoleranz, Nationalismus, Rückwärtsgewandheit, ja sogar Gewalt.
Der griechische Staat ist seit 2010 nicht mehr dazu in der Lage, seine Schulden zurückzuzahlen. Unglücklicherweise beschloss man auf offizieller europäischer Seite, so zu tun, als könne man diesem Problem mittels des größten in der Menschheitsgeschichte je gewährten Kredites und der strikten Durchsetzung eines finanz- und strukturpolitischen Anpassungsprogramms Herr werden. Und das, obwohl dies mit mathematischer Gewissheit das Zusammenschrumpfen des Inlandseinkommens zur Folge haben musste, aus welchem die Abzahlung neuer wie alter Kredite finanziert wird. Man ging das Problem an, als handle es sich beim drohenden Staatsbankrott um einen Liquiditätsengpass.
Anders ausgedrückt: Man machte sich die Logik eines Bankers zu eigen, der, statt sich einzugestehen, dass sein an eine bankrotte Firma ausgezahlter Kredit „geplatzt“ ist, dieser einfach weitere Geldsummen verleiht und sich vormacht, die Kredite würden abbezahlt, wenn man die unabwendbare Pleite nur immer weiter hinauszögere. Es hätte nicht mehr als gesunden Menschenverstand gebraucht, um zu erkennen, dass das konsequente Festhalten am „Extend and Pretend“-Dogma (Aufschieben und Vorgaukeln) für mein Land in einer Tragödie enden würde. Dass, statt Griechenland zu stabilisieren, Europa die Umstände für eine sich selbst verstärkende Krise schuf, die nicht weniger als die Grundfesten Europas selbst bedroht.
Die im Mai 2010 verabschiedete Kreditvereinbarung wurde von meiner Partei und mir entschieden abgelehnt. Nicht weil wir glaubten, Deutschland und unsere anderen Partner hätten uns nicht genügend Geld zur Verfügung gestellt, sondern weil wir der Auffassung waren, dass sie uns viel viel mehr gaben, als sie sollten, und unsere Regierung akzeptierte viel viel mehr, als sie berechtigt gewesen wären anzunehmen. Geld, das weder der griechischen Bevölkerung zugute kommen würden, da es nur dazu bestimmt war, in das schwarze Loch unhaltbarer Schulden geworfen zu werden, noch das Anwachsen der Staatschulden würde verhindern können, zu Lasten der griechischen und deutschen Steuerzahler.
In der Tat haben sich, bereits nach einem Jahr nach 2011 unsere Einschätzung als richtig erwiesen. Die Kombination aus Neuaufnahme enormer Kreditsummen und massiven Kürzungen hatte es nicht nur nicht vermocht, die Schuldenproblematik zu zähmen, sondern darüber hinaus auch die Schwächsten unserer Gesellschaft hart getroffen. Gewissenhafte Arbeitnehmer waren arbeits- und obdachlos geworden und fühlten sich vor allem ihrer Würde beraubt. Die massiven Einkommensverluste trieben Tausende Unternehmen in den Ruin und verhalfen den Verbliebenen dazu, sich als Oligopole zu etablieren und an Stärke zu gewinnen. So fielen die Preise langsamer als die Löhne, während die Schulden ihren unaufhaltsamen Anstieg nehmen. In diesem Szenario, beschleunigte sich das Defizit an Hoffnung unkontrollierbar und, bevor wir es erkannten, war das „Schlangenei“ ausgebrütet – das Ergebnis war, dass Neonazis in unseren Nachbarschaften zu patrouillieren begannen, um ihre Botschaft des Hasses zu verbreiten.
Trotz des fulminanten Scheiterns dieser Strategie hält man bis zum heutigen Tag an der erwähnten Logik der Verlängerung und Täuschung fest. Mit der im Jahr 2012 getroffenen Kreditvereinbarung lud man eine noch größere Schuldenlast auf die ohnehin schon schwachen Schultern Griechenlands und löste eine neue Rezession aus, während die Gelder unserer Partner in die Finanzierung eines Systems persönlicher Bereicherung und Vorteilsnahme verwendet wurden und der damals vorgenommene Haircut vornehmlich die Einlagen der Sozialversicherungs- und Rentenkassen beschnitt.
In der letzten Zeit hört man Beobachter von einer Stabilisierung Griechenlands sprechen, sogar von Wachstum ist die Rede und davon, dass die verfolgte Politik nun Früchte trage. Dabei handelt es sich um eine willkürliche Verzerrung der Tatsachen, welche einer genaueren Analyse nicht standhalten kann. So markiert der jüngste Anstieg des realen Nationaleinkommens um 0,7% nicht etwa das Ende der Rezession, sondern deren Fortsetzung, da im selben Zeitraum die Inflation bei minus 1,8% lag. Das heisst, dass der 0,7% Anstieg des realen Bruttoinlandproduktes einem negativen Wachstum des nominelle Bruttoinlandproduktes geschuldet ist. Mit anderen Worten, alles was passiert ist, ist, dass die Preise schneller gefallen sind als die Löhne. Nicht gerade ein Grund, um das Ende einer sechs Jahre währenden Rezession zu verkünden!
Erlauben Sie mir, dass dieser traurige Versuch, eine neue Version von „griechischer Statistik“ heranzuziehen, um anzukündigen, die griechische Krise sei vorüber, eine Beleidigung darstellt für alle Europäer, welche, nach all dem, die Wahrheit über Griechenland und Europa verdienen.
Die Wahrheit ist, dass die Staatsschulden Griechenlands nicht zurückgezahlt werden können, solange die griechische Volkswirtschaft ständigen fiskalischen Ertränkungsversuchen ausgesetzt ist (fiscal waterboarding). Das Beharren auf diese ausweglose und menschenverachtende Politik und das Leugnen mathematischer Tatsachen kostet den deutschen Steuerzahler Unmengen an Geld und das griechische Volk seine Würde. Und führt, noch viel schlimmer, dazu, dass sich Griechen gegen Deutsche und Deutsche gegen Griechen wenden und so dem Ideal eines demokratischen und geeinten Europa tiefe Schäden zufügen.
Deutschland, und vor allem die hart arbeitenden deutschen Steuerzahler haben von einer SYRIZA-Regierung nicht das geringste zu befürchten. Ganz im Gegenteil. Unser Ziel ist es nicht, auf Konfrontation mit unseren Partnern zu gehen, noch mehr Kredite oder einen Freibrief für neue Defizite zu erhalten. Unsere Ziele sind die Stabilisierung des Landes, das Erreichen eines ausgeglichenen Primärhaushaltes und die Beendigung dieses Aderlasses, den deutsche und griechische Steuerzahler dank dieser absolut unangemessenen Kreditvereinbarung über sich haben ergehen lassen müssen. Wir fordern ein Ende des „Extend and Pretend“–Dogmas, und zwar nicht zu Lasten der Bürger Deutschlands, sondern zu unser aller Vorteil.
Liebe Leser, ich weiß, dass hinter der Forderung nach genauester Durchsetzung dessen, was vereinbart wurde, die Befürchtung steht, die Griechen könnten, wenn man es ihnen erlaube, einfach weitermachen wie bisher. Ich habe großes Verständnis für diese Sorge, aber möchte klarstellen, dass es nicht SYRIZA war, die dieses System der Kleptokratie geschaffen hat, sondern eben jene, die heute allzu sehr auf die Einhaltung des Vereinbarten und die Fortführung des Reformprogramms pochen. Selbstverständlich nur, wenn dabei nicht ihre eigenen Privilegien in Gefahr geraten. Wir sind bereit und willens, weitreichende Reform zusammen mit unseren Europäischen Partnern mit dem Mandat unserer Wähler einzuführen.
Unser Ziel ist ein Europäischer New Deal, bei welchem unsere Bürger atmen, etwas neu aufbauen und in Würde leben können.
Am 25. Januar wird in Griechenland eine neue Chance für ganz Europa geboren. Mögen wir sie nicht ungenutzt lassen.