Ludwig A. Minelli für die Online-Zeitung INFOsperber
Red. Ausgerechnet am Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 2021, hatte der High Court in London als Berufungsinstanz entschieden, dass Julian Assange an die USA ausgeliefert werden dürfe. Eine juristische Nachlese von Ludwig A. Minelli. Minelli ist Rechtsanwalt und Generalsekretär der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention (SGEMKO). Der Beitrag erschien in deren Zeitschrift «Mensch und Recht».
Der High Court in London hatte ein Urteil der unteren Instanz aufgehoben. Diese hatte eine Auslieferung verweigert, und zwar einerseits aufgrund des Gesundheitszustandes von Julian Assange, andererseits aber auch, weil die Haftbedingungen, welche ihn in den USA erwarten würden, von europäischer Warte aus als unmenschlich qualifiziert werden müssen.
Damit setzt das Vereinigte Königreich eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen fort, an denen westliche Staaten je beteiligt waren. Und man würde sich auch nicht wundern, wenn Grossbritannien mit einer raschen Auslieferung Assanges an die USA den Menschenrechtsschutz unterlaufen würde, welchen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), an die auch das Vereinigte Königreich gebunden ist, garantiert. Denn wo massive staatliche Machtinteressen bedroht sind – das zeigt die Geschichte immer wieder – hat Recht einen schweren Stand. Es erodiert.
Am Anfang ein ruchloser Massenmord
Am 12. Juli 2007 kreisen zwei amerikanische Armeehubschrauber über Bagdad. Unten auf der Strasse stehen etwa zwanzig Männer in mehreren kleinen Gruppen friedlich beieinander. Sie sind zivil gekleidet und tragen keine Waffen. US-Soldaten in den Hubschraubern glauben jedoch, Kämpfer gesehen zu haben. Mit mehreren Salven aus den 20-mm-Bordkanonen mähen sie diese in den Tod. Andere werden verletzt. Unter den Toten befinden sich zwei Fotografen, die für die Nachrichtenagentur Reuters aus dem Irak berichteten.
Einige Zeit später wird am Boden versucht, Verwundete mit einem Minibus zu bergen und in ein Krankenhaus zu fahren. Doch aus den Hubschraubern werden auch die dabei beteiligten Menschen niedergemäht und der Bus zerstört.
Diese Szenen, von bordeigenen Kameras der Hubschrauber aufgenommen, präsentierte der Australier Julian Assange am 5. April 2010 im National Press Club in Washington und machte sie so einer grossen Öffentlichkeit zugänglich. Die Aufnahmen, selbstverständlich militärisch streng geheim, sind auf unbekanntem Wege vorher der von Assange gegründeten Enthüllungsplattform Wikileaks zugespielt worden. Höchstwahrscheinlich haben Unbekannte in der US-Administration diese Aufnahmen an Wikileaks weitergeleitet. Wikileaks stellt allen, die derart brisantes Material veröffentlichen wollen, eine besondere Technologie der Datenübertragung zur Verfügung. Damit kann man verhindern, herauszufinden, wer Wikileaks Material zugänglich gemacht hat. Auf diese Weise können Whistleblower geheime Tatsachen von öffentlichem Interesse ans Tageslicht hieven.
Eine Reihe von Kriegsverbrechen
Die Aufnahmen zeigten somit eine Reihe abscheulicher amerikanischer Kriegsverbrechen, ruchlos begangen von Kampfhubschrauberbesatzungen. Nach Kriegsvölkerrecht wäre es notwendig gewesen, dass die US-Regierung diese Vorgänge durch ein zuständiges Gericht zumindest untersuchen lässt. Doch solches ist bis zum heutigen Tage nicht erfolgt.
Seither ist Julian Assange – der diese Aufnahmen nicht etwa in einer Regierungsbehörde der USA gestohlen, sondern diese bloss veröffentlicht hat, nachdem sie in Wikileaks vorhanden waren – einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt, an der sich die Regierungen der USA, Grossbritanniens, Schwedens und seit einiger Zeit auch Ecuadors beteiligen.
Ein mutiger Schweizer
Der Schweizer Rechtsanwalt Nils Melzer, Professor für internationales Recht, der in Glasgow und auch in Genf lehrt und der 2016 vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt worden ist, veröffentlichte vor einiger Zeit das Buch «Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung» (deutsch im Piper Verlag). Darin zeigt er bis in die feinsten Einzelheiten, welch erbärmliches Spiel nicht nur die Regierungen, sondern auch die Justiz vor allem Grossbritanniens und Schwedens in dieser Sache spielten: Sie haben sich in absoluter Vasallentreue zur Regierung der USA an dieser Verfolgung beteiligt.
Das gleichzeitig auch in Englisch und Schwedisch erschienene mutige Buch liest sich wie ein Thriller, lässt einen, der an den Rechtsstaat glaubt, aber auch heftig erschrecken: Wie sind derartige Justizverbrechen in Staaten des so viel gelobten demokratischen Westens denn überhaupt möglich? Wie schaffen es Regierungen, eine sonst doch so gelobte Justiz – wie jene Englands oder Schwedens – zur Kollaboration mit einer verbrecherischen Clique im Staat zu bewegen?
Und weshalb schreien die Medien in den betroffenen Staaten – angeblich die «vierte Gewalt», welche die Regierung kontrollieren sollte – nicht auf? Ist es nicht einigermassen erstaunlich, dass ausgerechnet Grossbritannien und Schweden von einem unabhängigen UNO-Berichterstatter über Folter des Einsatzes dieses in einer anständigen Justiz unzulässigen Mittels beschuldigt und dass die übrigen demokratischen Regierungen – insbesondere auch jene Deutschlands und der Schweiz – in ganz Europa dazu schweigen? Merken sie nicht, dass sie sich damit ebenfalls schwere Schuld aufladen?
Ziel: Abschreckung
Ziel des verbrecherischen Verhaltens Schwedens, Grossbritanniens, der USA und Ecuadors und der schweigenden Regierungen ist zweifellos die Abschreckung: Wer es je wieder wagen sollte, geheimste dunkle Tatsachen von Regierungen ans Tageslicht zu bringen, soll wissen, welch bedauerliches Schicksal ihm anschliessend beschieden sein dürfte. Wo sich Macht, die sich endgültig als böse gezeigt hat, bedroht fühlt, gilt wohl kein Recht und damit auch keine Menschenrechtskonvention und kein Völkerrecht mehr. Nur noch nackte Macht.
Menschenrechtsheuchler
So sind denn westliche Staatsmänner und -frauen bei Besuchen in China in ihren Gesprächen mit den dortigen Politikern nur noch blosse Menschenrechtsheuchler: Wie soll der chinesische Staatspräsident auf Lebenszeit, Xi Jinping, westliche Vorhaltungen wegen des Wegsperrens von Millionen von Uiguren und der deshalb anzuklagenden Verletzung von Menschenrechten, etwa Ausführungen des schweizerischen Aussenministers Ignazio Cassis, ernst nehmen, wenn er weiss, dass die Schweiz sich bislang weder in London noch in Stockholm, geschweige denn in Washington, zu Worte gemeldet hat, um den Umgang dieser Staaten mit Julian Assange als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu bezeichnen? Wie kann der demokratische Westen noch totalitäre Entwicklungen in Ungarn oder Polen kritisieren?
Derartige diplomatische Vorstellungen [wie etwa in China] werden wohl mittlerweile so empfunden, wie sie von ihren Urhebern auch verstanden werden: als populistisch notwendige Formeln, um heimische Klientel zufrieden zu stellen, jedoch keineswegs ernst gemeint und ernst genommen. Diplomatisches Geplappere, mit dem Sektglas in der Hand, damit die heimischen Gazetten verkünden können, ihr Aussenminister habe es denen doch wieder einmal gesagt. Die Inszenierung als Pflichtübung für die Kulisse; «bitte nicht böse werden, wir meinen es ja nicht ernst». Nicht an ihren Worten, sondern am Unterlassen bestimmter Taten sollt ihr sie erkennen und bewerten!