Diejenigen, die Ende November zur Wahl gingen, taten dies in der Überzeugung, dass sie erneut zu den Urnen gehen müssten, um zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen zu entscheiden. Die Umfragen, und nicht die Volksdemonstrationen hatten über die Namen entschieden, die wahrscheinlich in die nächste Abstimmung kommen würden, und die Presse und die öffentliche Meinung waren mit diesen Prognosen zufrieden, die in Chile bekanntlich nicht sehr genau sind. Praktisch zu Beginn dieses kurzen Wettbewerbs wurden einige der Kandidaten als selbstverständlich angesehen und diejenigen, denen kaum Chancen eingeräumt wurden, wurden ins Abseits geschoben.
Die Bürger erfuhren beinahe in letzter Minute, dass die Kandidaten über Regierungsprogramme verfügten, und es waren bestimmt nicht diese Ideen, die die Wähler motivierten. Es war ein Wahlkampf, der sich eher auf Namen als auf Parteien oder Ideologien konzentrierte. Die Kandidaten erzeugten auch keine Volkspopularität wie bei anderen Wettbewerben in der Vergangenheit, so dass viele meinten, sie sollten für denjenigen stimmen, der am wenigsten schlecht aussah. Dies ist voll und ganz durch die enorme Diskreditierung der Politik und durch die mangelnde Glaubwürdigkeit ihrer Parteien und Anführer zu erklären.
Die Stimmenthaltungen (52%) waren also erneut hoch für ein Land, das sich auf seine Demokratie und den hohen Gemeinsinn seiner Bevölkerung etwas einbildet, was in jedem Fall darauf hinweist, dass der nächste Präsident nicht die effektive Unterstützung von mehr als 25 oder 30% der wahlberechtigten Chilenen erhalten wird. Wir werden eine Minderheitsregierung haben mit einem Parlament, das nicht sehr nachgiebig sein wird und mit einer riesigen Menge an sozialen Erwartungen, die höchst wahrscheinlich wieder soziale Proteste entzünden werden. Erschwerend kommt hinzu, dass die Pandemie keineswegs unter Kontrolle ist, dass die Steuergelder einfach nicht ausreichen, um alle noch offenen Forderungen zu erfüllen, und dass die Legislative sich schwer tun wird, allen Vorschlägen der Exekutive zuzustimmen.
Alle Kandidaten wurden gewarnt, dass sie es im Falle eines Sieges schwer haben würden, zu regieren. Genauso, wie es für sie zu schwierig wäre, sich mit den Konflikten in verschiedenen Teilen des Landes, insbesondere in Araucania, auseinanderzusetzen. Dass das Phänomen der Gewalt und Kriminalität, durch das das Land wirklich geplagt ist, kaum entschärft werden kann, ohne die Möglichkeit, wirksame Fortschritte bei der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichheit zu erzielen, Begriffe, die von Mund zu Mund in allen Reden von der extrem Rechten bis zur extrem Linken aufgestellt wurden. Ohne einen dringend erforderlichen Beschluss, die Einkommen von Arbeitern und Familien drastisch zu verbessern. Ohne Entscheidung der neuen Behörden, den missbräuchlichen AFP zu beenden, das Rentenniveau drastisch anzuheben und zu verhindern, dass die Gesundheitsversorgung zum lukrativen Geschäft der Isaprés wird, um die Medizin – und Krankenhausversorgung für das ganze Land sicherzustellen. Mit anderen Worten, was in den letzten drei Jahrzehnten auf breiter Ebene versprochen wurde, ohne jeden Fortschritt und unter erschwerenden Umständen, dass zur Linderung der Krise die knappen Mittel der künftigen Rentner angezapft werden müssten, was ihre Erwartungen an einen würdigen Ruhestand noch unsicherer macht.
Mit einer bekannten Ausnahme hat kein Kandidat versprochen, die Verteidigungsausgaben ernsthaft zu prüfen, was für eine krasse Ungleichheit zwischen uniformierten und zivilen Mitarbeitern Anlass gibt. Es war nicht einmal die Rede von der Reduzierung der Waffenkäufe, ebenso wenig wurden die zahllosen Korruptionsfälle bei Beamten und Polizisten erwähnt. Auch diesmal wurde nicht versprochen, die Mehrwertsteuer auf Bücher abzuschaffen, eine langjährige Forderung, über die sich alle Regierungen hinwegsetzten. Deshalb schien sich die Debatte über das Schicksal des Landes zuweilen auf die Möglichkeit zu beschränken, ein neues und toleranteres Abtreibungsgesetz zu verabschieden, gleichgeschlechtliche Beziehungen rechtlich mehr anzuerkennen, sowie andere Themen zu behandeln, die, obwohl wichtig, nicht wirklich auf der Tagesordnung einer Bevölkerung stehen, die so viel sozioökonomische Entbehrung durchmacht und nun große Angst vor der Inflation hat, die sich bemerkbar macht und in naher Zukunft zu sozialen Unruhen führen könnte.
Es hieß, dass das Land stark polarisiert sei und die Gefahr bestehe, zwischen einem Nationalsozialisten und einem Marxisten-Leninisten zu wählen, in dem Maße, dass es den Kandidaten der Mitte nicht gelinge, moderat in Erscheinung zu treten und diejenigen Chilenen für sich zu gewinnen, die noch immer von der Pinochet-Diktatur und über das was man ihnen über den Horror in Venezuela, Nicaragua und Kuba erzählt hat, schockiert seien. Wofür die vom System abhängige Presse durch ihre unwissenden und uninformierten Analysten sowie durch die TV-Moderatoren selbst lügt und übertreibt. Sicher ist, dass alle Kandidaten, jenseits ihrer „Gemeinplätze“ und konkreter und demagogischer Vorhaben, mit einer bekannten Ausnahme, bei den großen Geschäftsleuten ad-limina-Besuche machten, und hinter der Kamera sogar verdächtige bilaterale Gespräche mit ihnen führten, die von der Presse nicht bemerkt wurden. Einige knieten vor den Geschäftsleuten und andere in der Hoffnung, sie für soziale Notlagen des Landes zu sensibilisieren, vor allem, um Mittel zur Finanzierung ihrer Kampagnen zu erhalten. Es war nicht die Rede von Enteignung oder einer gerechten Besteuerung, die nun zwingend erforderlich ist. Und sie wurden nur halbherzig getadelt für ihre heimlichen Absprachen und Steuerhinterziehungen oder Steuerflucht. Noch weniger wurden sie aufgerufen, die Gewerkschaftsbewegung zu stärken.
Es gab sogar Kandidaten, die sich in der Vergangenheit gegen die Vorschriften des Marktes ausgesprochen haben, die sich aber dieses Mal unantastbar still verhielten, und in den Stunden vor der Wahl entschied die Regierung, eine öffentliche Ausschreibung fallen zu lassen, die ein chinesischer und ein deutscher Konzern für die Herstellung unserer Personalausweise und Pässe gewonnen hatten. Nichts weiter als die Vereinigten Staaten zufrieden zu stellen, eine Macht, die mit Sicherheit verärgert war und von der man Repressalien befürchtete angesichts eines souveränen Aktes Chiles. All das trotz der Tatsache, dass die asiatische Nation unser wichtigster Handelspartner ist.
Zu den obigen Ausführungen sei noch hinzugefügt, dass sogar der Ausdruck „Neoliberalismus“ aus den Reden und Präsidentschaftsdebatten verschwunden ist, mit Ausnahme eines Kandidaten, der es wagte, alles Mögliche zu sagen, weil er wusste, dass er keine Chance hatte, La Moneda zu erreichen.
Es wird nun eine zweite Runde geben, bei der sich die Befürchtungen verschärften, die Disqualifizierungen zunehmen werden und die Kandidaten – Kast und Boric – alles Mögliche tun werden, um die Unterstützung der Verlierer zu gewinnen, die zusammen mehr Stimmen erhalten haben als jeder ihrer Gegner im zweiten Wahlgang. Man wird uns von der Gefahr berichten, die der Sieg des Gegners darstellte, und man wird uns in die Zeit von Pinochet und des kalten Krieges zurückversetzen, während die riesige Mehrheit der Wähler diese Zeiten nicht durchlebten und in einigen Fällen es nur vom Hörensagen wissen, was vor so vielen Jahrzehnten geschah.
Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass der neue Präsident wirklich wie versprochen eine „neue Ära“ einleiten kann und, abgesehen von den üblichen Aktien- und Dollarkursschwankungen, deutet alles darauf hin, dass das Land weiterhin von der politischen Klasse regiert wird, während der unantastbare Markt unabhängig bleibt. Während die Machthaber und die Militärkaste oder die Prätorianergarde unterstützt werden. Aber nun wird durch die Elite ein Verhandlungsprozess verhängt, der einige der guten Vorhaben mit dem Ellenbogen auslöschen könnte.
Was in der verfassungsgebenden Versammlung geschehen wird, ist ein anderes Thema, wenn man darauf vertrauen möchte, dass sie trotz ihrer begrenzten Repräsentativität weiterhin in der Lage sein wird, angesichts einer neuen und ermächtigten Regierung und Parlament, frei zu agieren. Nach einer Wahl, die wie üblich, in hohem Maße von der Wahlpropaganda, der Befangenheit der mächtigen Medien und, man muss sagen, von einem Land bestimmt wurde, das bezüglich einer Demokratie, die seine Probleme nicht löst, sehr unmotiviert ist. Mit Sicherheit nimmt die Ungleichheit von einer Regierung zur nächsten zu. Jeden Tag mehr davon überzeugt, dass es die Straße und nicht die Wählerstimme ist, die ihre weiten Prachtstraßen öffnen kann.
Das ist es, warum die große Mehrheit, die die unabhängige Kandidatin Fabiola Campillay, eine der schlimmsten Opfer durch Piñera Unterdrückung, erzielt hat, so ermutigend ist.
Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Doris Fischer vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!