Wissen Sie, wer Michail Gorbatschow ist? Der Name ist sicher all jenen geläufig, die sich für europäische Geschichte, internationale Politik und das Ost-West-Verhältnis interessieren. Und vielleicht weiß auch noch der eine oder andere, dass der ehemalige Staatspräsident der Sowjetunion, der quasi im Handstreich den Kalten Krieg beendete und vom Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (1) wohl in Anspielung auf Napoleon als „Held des Rückzugs“ bezeichnet wurde, im März seinen 90. Geburtstag feierte. In der öffentlichen Wahrnehmung und in der politischen Sphäre scheint „Gorbi“ samt seiner Ideen allerdings schon vergessen zu sein (2).

Träume und Fehleinschätzungen

Das Gorbatschow ein gern gesehener Gast im deutschen Fernsehen und ein Liebling der Gazetten war, überrascht kaum. Der Rückzug einer Weltmacht in dieser drastischen Art und Weise ist vermutlich einzigartig in der Geschichte.

Gorbatschow hatte von einem europäischen Haus geträumt, welches er gemeinsam mit den Partnern aus dem Westen aufbauen wollte. Er übersah, dass sich die vermeintlichen Partner als Sieger fühlten und die Abwicklung der Sowjetunion quasi zu deren Programm gehörte (3). Gorbatschow fiel später in Ungnade. Er trat öffentlich gegen die NATO-Osterweiterung ein, verteidigte die Annexion der Krim und schließlich auch das Eingreifen Russlands in der Ukraine. Damit war es mit der Wertschätzung im Westen vorbei. „Gorbi“ verschwand in der Versenkung.

Der Weg in den lauwarmen Krieg

Das politische Agieren von Michail Gorbatschow bleibt ein bedeutsamer Baustein auf dem Weg zum lauwarmen Krieg, der sich gegenwärtig vor aller Augen ausbreitet. Welcher Krieg? Diese Frage soll im Podcast aufgelöst werden. Gorbatschow hatte propagiert, dass das Wettrüsten keinen Sieger hervorbringen kann, dafür aber die Gefahr eines Weltkrieges. Er sah in seinem Handeln, nämlich Aufrüstung, Provokation und gegenseitige Bedrohung zu beenden, nicht nur einen gesellschaftspolitischen Fortschritt, sondern die vielleicht einzige Chance, um eine reale Konfrontation auf dem Schlachtfeld zu verhindern.

Der Westen interpretierte den Rückzug vom militärischen Parkett als Schwäche des ideologischen Gegners und schrieb seiner Rüstungsdiplomatie den Erfolg zu: Man hatte den Feind im Osten angeblich totgerüstet. Dabei war die UdSSR nicht von der Landkarte verschwunden. Insofern gab es aus westlicher Sicht noch eine Aufgabe zu erledigen: die Degradierung des später gebildeten Russlands zu einem willfährigen Untertan.

Boris Jelzin, von 1991 bis 1999 der erste Präsident Russlands, kam für den Westen nicht ungelegen. Unter seiner Präsidentschaft wurde das Staatseigentum privatisiert, die postsowjetische Oligarchie begründet und Russland in die Zahlungsunfähigkeit geführt. Als Jelzin am 31. Dezember 1999 von seinem Amt zurücktrat und die Regierungsgeschäfte an den damaligen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Wladimir Putin übergab, war Russland komplett abgewirtschaftet und als Konkurrent des Westens praktisch ausgeschaltet.

Die Ernüchterung nach dem Beifall

Von einem Miteinander oder echtem Interesse an einer umfassenden Kooperation auf Augenhöhe war damals wie heute im Westen wenig zu spüren. Und dennoch formulierte sogar Putin, seit Mai 2000 Präsident der Russischen Föderation, bemerkenswerte Gemeinschaftsangebote. So etwa 2001 bei seinem Auftritt im Deutschen Bundestag (4):

„Wir leben weiterhin im alten Wertesystem. Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen. (…) Was fehlt heute, um zu einer effektiven Zusammenarbeit zu gelangen? Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen. (…) Noch vor kurzem schien es so, als würde auf dem Kontinent bald ein richtiges gemeinsames Haus entstehen, in welchem Europäer nicht in östliche und westliche, in nördliche und südliche geteilt werden. Solche Trennungslinien bleiben aber erhalten, und zwar deswegen, weil wir uns bis jetzt noch nicht endgültig von vielen Stereotypen und ideologischen Klischees des Kalten Krieges befreit haben. Heute müssen wir mit Bestimmtheit und endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei.“ (Beifall)

Doch auf die Standing Ovations im Bundestag folgte die Ernüchterung. Der Wunsch, als gleichberechtigter Partner anerkannt zu werden, wurde nicht erfüllt. Aus westlicher Sicht blieb Russland ein abzuwickelnder Fall. Rund drei Monate nach der Rede von Putin kündigten die USA den Rücktritt vom ABM-Vertrag an (5). Russland war damit als kommender Hauptfeind schon positioniert.


Quellen und Anmerkungen

(1) Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929) ist Dichter, Schriftsteller, Übersetzer, Redakteur und Herausgeber. Er publizierte unter zahlreichen Pseudonymen (zum Beispiel Andreas Thalmayr, Linda Quilt, Elisabeth Ambras, Giorgio Pellizzi). Enzensberger, der 1967 den Gründungsaufruf für den Republikanischen Club in West-Berlin (verfügbar auf http://www.glasnost.de/hist/apo/rc1.html; abgerufen am 28.10.2021) unterschrieb, wird als eine Orientierungsfigur der damaligen Studentenbewegung angesehen.

(2) Michail Sergejewitsch Gorbatschow war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. Neue Akzente in der sowjetischen Politik setzte er mit Glasnost und Perestroika. Gorbatschow, der durch Abrüstungsverhandlungen mit den USA das Ende des Kalten Krieges einleitete, erhielt 1990 den Friedensnobelpreis. Seine Politik wurde durch die Schlagworte Glasnost (Offenheit der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung) und Perestroika (Umbau und Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der UdSSR) bekannt.

(3) Reiner Wein (22.3.2021): Russland und der Westen: Das gegenseitige Unverständnis. Verfügbar auf https://neue-debatte.com/2021/03/22/russland-und-der-westen-das-gegenseitige-unverstaendnis.

(4) Deutscher Bundestag: Wortprotokoll der Rede Wladimir Putins im Deutschen Bundestag am 25.09.2001. Auf https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966 (abgerufen am 28.10.2021).

(5) Der Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen, bekannt als ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missiles), war ein Rüstungskontrollvertrag zwischen den USA und der Sowjetunion. Er wurde am 28. Mai 1972 mit unbefristeter Gültigkeit abgeschlossen und war einer der beiden Teile der SALT-I-Vereinbarung. Am 13. Juni 2002 traten die USA einseitig vom Vertrag zurück, nachdem sie, wie vertraglich festgelegt, sechs Monate zuvor eine Absichtserklärung abgegeben hatten, in der sie Russland, dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion, den Rücktritt ankündigten.

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