Die letzten Soldaten der ISAF haben das Land verlassen. Die Übergabe der Militärmacht an die Taliban war von beiden Seiten stümperhaft vorbereitet. Sie war bis zur letzten Stunde von Selbstmordattentaten und bewaffneten Drohnen begleitet. Flüchtlinge harrten auf dem Flugplatz in der Hoffnung, das Land verlassen zu können, bis zur letzten Stunde.
Die Bevölkerung Afghanistans und die Weltgemeinschaft warten auf Antworten auf zwei große Fragen, auch mit der Hilfe diplomatischer Verhandlungen: Wie werden die politischen Bedingungen in den nächsten Jahren in Afghanistan sein und wann werden menschenwürdige Lebensverhältnisse in das gebeutelte Land einziehen? Zweitens, was geschieht mit den vorhandenen militärisch – industriellen Kapazitäten der NATO in der nahen Zukunft nach den beunruhigenden Statements des Präsidenten Biden in Richtung China, Russland und Iran?
Die Hoffnung ist vorhanden, dass die Antworten und Lösungen von Vernunft, sowie von einer humanen Verantwortung getragen werden. Die unklare Situation in Afghanistan wird begleitet von einer Bedrohung der Menschheit durch das Klimageschehen.
Der erste Fragenkomplex umfasst die politische Gestaltung Afghanistans für seine 38 Millionen Einwohner. Die bisherigen Versuche à la USA und EU, demokratische Verhältnisse von außen und auch noch militärisch hineinzutragen, sind gescheitert. Zudem bleiben die verbrecherischen Untaten vom 11. September 2001 als Kriegsursache nach 20 Jahren Krieg juristisch unaufgeklärt. Die Kriegskosten von 2 Billionen USD, die letztlich über die Staatshaushalte der ISAF Länder gelaufen sind, bleiben ohne Sinn, wenn die Gewinne der Unternehmen und Banken nicht beachtet werden.
Afghanistan braucht eine politische und eine wirtschaftliche Neuordnung.
Die künftigen politischen Bedingungen kann nur von den Afghanen selbst bestimmt werden. Es stehen praxiserprobte Erfahrungen der Weltgemeinschaft zur Auswahl durch afghanische Politiker zur Verfügung. Es sind Erfahrungen, die ihre Billigung von der UNO erhalten haben. Es sind Modelle der beratenden, partizipativen Demokratie, die unter anderen Bedingungen in Russland, China und weiteren sozialistischen Ländern ihre Anfangsjahre erfolgreich gemeistert haben. Sie stützen sich auf staatliche Strukturen einer legislativen, exekutiven und judikativen Republik. Eine Nationale Front aus mehreren Parteien arbeitet in den Modellen als beratendes, demokratisches Gremium, das von der inhaltlichen Anlage her ähnliche Funktionen ausfüllt, wie die Loya Djirga Afghanistans.
Mit Modellen der beratenden, partizipativen Demokratie wurden in den Beispielländern Hunger und Arbeitslosigkeit verbannt und funktionierende Bildungssysteme entwickelt. Die Wissenschaften erreichten einen hohen Stand. Die Volkswirtschaften deckten den Grundbedarf ihrer Gesellschaften ausreichend ab.
Der wirtschaftliche Aufbau Afghanistans wird langwieriger verlaufen und der Anschluss an den Weltmarkt vorerst in einem bescheidenen Umfang erfolgen können. Die Befriedigung der Grundbedürfnisse der afghanischen Bürger aber stehen im Mittelpunkt der Aufgaben. Sie leben in einer vom Internet beherrschten Welt, in der zwar unterschiedliche, aber in der Regel höhere Lebensstandards herrschen. So ist nicht verwunderlich, dass das westliche Europa meist Zielgebiet ihrer momentanen Fluchtwünsche ist.
Die Staatsverschuldung ist in den 20 Kriegsjahren bedeutend gestiegen. Ohne neues Geld aber kommt die Wirtschaft nicht voran. Die Landwirtschaft braucht eine Wiederherstellung und Erweiterung ihrer Bewässerungssysteme. Das Handwerk, die Klein- und mittelständische Industrie benötigen Investitionsmittel, wie auch die Energieerzeugung sicherzustellen ist. Neue Arbeitsplätze werden landesweit zum Abbau der Arbeitslosigkeit gebraucht. Mit Lohneinkommen verbessern die afghanischen Familien ihren Lebensstandard und der Staatshaushalt erhöht seine noch zu geringen Einnahmen.
Neue Kredite mit Bedingungen des Internationalen Währungsfonds lassen kaum Entwicklungsspielräume zu. Das Land ist für die nächsten Jahre auf Entwicklungshilfe angewiesen, auf Förderkredite zu Bedingungen der UNO, mit niedrigen Zinsen und rückzahlungsfreien Anfangsjahren, wie sie anderen Entwicklungsländern Afrikas und Mittelamerikas gewährt werden.
Der Generalsekretär der UNO hat für Ende September des Jahres zu einer Geberkonferenz nach Genf eingeladen. Das gibt Hoffnung und zeugt von internationaler Solidarität und Verantwortung. Millionen Afghanen sind auf Lebensmittellieferungen angewiesen.
Hilfreich für die afghanische Wirtschaftsentwicklung könnte die Verwertung der chinesischen Erfahrungen im Umgang mit den verschiedenen Formen des produktiven Eigentums sein, mit dem Ziel, die eigene Akkumulation zu stärken. Sicher bringt die Anbindung Afghanistans an das chinesische internationale Projekt der Neuen Seidenstraße als Transitland wirtschaftlichen Zuwachs. Zudem gewährt China den Anrainerstaaten der Trasse Kredite zu Win-win-Bedingungen.
Von den USA ist künftig Vernunft im Umgang mit der kommenden Regierung Afghanistans erwartet. Vor allem aber keine Einmischung in einen möglichen Bürgerkrieg. Seine Militärmacht befindet sich im Stand-by-Modus. Aus dem langen Geschichtsverlauf sind Zweifel angesagt. Schon Goethe sah potenzielle Gefahren in dieser sich entwickelnden und ambivalenten Gesellschaftsordnung. Er ließ Mephisto ausrufen: „Krieg, Handel, Piraterie, Dreieinigkeit sind nicht zu trennen.“ (Faust, 2. Teil, 5. Akt).
Die Welt braucht für die Zukunft die geeinte wissenschaftliche und wirtschaftliche Kraft, um die drohende Klimakatastrophe klein zu halten oder zu vermeiden.