Regelmäßige Fackelmärsche in Kiew und anderen Städten der Ukraine als Teil des neuen nationalistischen Errinerungskults, die Heroisierung von ukrainischen Nazi-Kollaborateuren und Kriegsverbrechern sowie die Verbreitung der rechtsextremistischen Ideologie lassen heute mit Sorge auf diesen osteuropäischen Krisenstaat blicken. Die Tendenzen dafür gab es bereits während des sogenannten Euromaidans – einem blutigen Staatsstreich 2014, der der Ex-Sowjetrepublik eigentlich „Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand und EU-Integration“ bescheren sollte. Das Scheitern dieses Vorhabens ist nicht zuletzt durch ukrainische Rechtsextremisten bewirkt worden, die stattdessen ihre eigene Macht ausweiteten.
Bereits bei dem Protest auf dem Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt 2013/14, in dessen Folge die legitime Regierung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch gestürzt worden war, sah und hörte man Anfang an faschistische Losungen: „Ruhm der Ukraine – den Helden Ruhm“, „Ukraine über alles“ – das sind aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges stammende Losungen der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“, die erwiesenermaßen eine faschistische Organisation war.
Ukrainische Ultranationalisten, Rechtsradikale und Neofaschisten fungierten bei den Straßenkämpfen in Kiew als Bollwerk gegen die Sicherheitskräfte. Damit waren die extrem Rechten gewalttechnisch eindeutig die treibende Kraft hinter dem Umsturz, was bei vielen Beobachtern und Experten Unmut auslöste.
Die Staats- und Regierungschefs sowie andere Top-Politiker der westlichen Länder hingegen haben die Involvierung von extrem rechten Gruppierungen in die damaligen Ereignisse in Kiew offiziell weder verurteilt, noch der Tatsache die nötige mediale und politische Beachtung geschenkt. Auch dann nicht, nachdem Vertreter der offen rechtsextremen ukrainischen Partei „Swoboda“ (Freiheit) 2014 laut dem ARD Teil der neuen ukrainischen „Übergangsregierung“ wurden, oder als der Chef des „Rechter Sektors“, einer noch gefährlicheren rechtsradikalen Gruppierung, das Amts des Vizechef des nationalen Sicherheitsrates der Ukraine bekleiden durfte.
Umbruch nach dem „Euromaidan“
Einen verfassungskonformen politischen Aufstieg haben solche Akteure seitdem zwar weder bei Wahlen, noch bei der Arbeit im ukrainischen Parlament verzeichnet – was gern als Hauptargument für die vermeintliche Bedeutungslosigkeit der Rechtsextremisten hinsichtlich der ukrainischen Politik angeführt wird – hatten aber die politischen Geschicke und die Entwicklung der Ukraine seit Euromaidan dennoch mitbestimmt.
Um das Funktionieren der postmaidanen Politik jedoch zu verstehen, muss neben der Verfassung, den Gesetzen oder der politischen Kultur des Landes vor allem die weitreichenden Folgen des „Euromaidan“ in Betracht gezogen werden. „Die Revolution der Würde“, die von ukrainischen Politikern als eines der Schlüsselelemente des Aufbaus der neuen ukrainischen Staatlichkeit propagiert wird, schuf eine (Verfassungs-)Wirklichkeit, in der politische oder wirtschaftliche Ziele zunehmend durch (offene) Gewalt und Kriminalität umgesetzt werden. Dort, wo Gesetze und Rechtsstaatlichkeit „nicht gelten“, ist die ukrainische Realität brutal und ihre Regeln sind einfach zu begreifen: Wer das meiste Gewaltpotential aufbringt, der hat das Sagen.
Dieses Prinzip begriffen vor allem Oligarchen und nutzten es zur Ausweitung ihrer Macht aus, indem sie etwa Schläger aus dem rechtsradikalen Milieu auf die Gehaltsliste setzten. Dadurch entwickelten sich viele der bei den Maidan-Krawallen in Erscheinung getretenen Extremisten zu organisierten gewaltbereiten Gruppierungen, oder sogar zu ausgebildeten und bis an die Zähne bewaffneten Kampfgruppen, die das Gewaltmonopol des Staates untergraben und diesen als Sicherheitsgaranten und Hüter des Gemeinwohls herausfordern.
Rechtsradikale Kräfte in der Übergangsphase politisch zunächst außen vor
Nach dem Euromaidan haben die Rechtsradikalen ihre Ziele nicht vollständig umsetzen können: In der Übergangsphase von der „Revolition“ zu etablierten Machtverhältnissen hatten sie es beispielsweise nicht geschafft, fester Bestandteil einer „legitimen“ ukrainischen Regierung zu werden. Bis auf diverse Posten in der regionalen Politik waren sie auf der Regierungsebene nicht vertreten. Dadurch wurde die politische Agenda der Extremisten zunächst nur teilweise von Kiew übernommen.
Stattdessen fungierten solche gewaltbereiten Gruppierungen primär als Unterdrückungsapparat für die Opposition und andere kritische Stimmen, die den nationalistischen Kurs und/oder die „europäische Integration“ der Ukraine ablehnten. Die Tragödie von Odessa vom 2. Mai 2014, bei der laut der Tageszeitung bei blutigen Zusammenstößen und dem späteren Brand im Gewerkschaftshaus 48 Anti-Maidan-Aktivisten getötet und mehr als 200 verletzt wurden, gilt als das makaberste Beispiel für ein offensichtliches Zusammenwirken zwischen dem Staat und den Rechtsextremisten.
Da in dieser Umbruchspahse solche Gruppierungen sich als Mittel zur Umsetzung von politischen Zielen bei vielen Aktionen bewährt hatten, gab es im Folgenden eine erhöhte Nachfrage nach radikalen Kräften in weiten Teilen der Ukraine. Vor allem seitens der Politik- und der Finanzeliten, die sich, so wie bereits während der gesamten 30 Jahre der ukrainischen Unabhängikeit, weiter auf Kosten des Volkes selbst bedienen wollten.
Rechtsextremisten und die neuen Machtverhältnisse in der Ukraine
Die Machtverhältnisse in der Ukraine hatten sich ab Mitte 2014 wie folgt herausgebildet: Auch weiterhin galt das Staatsoberhaupt formal als die stärkste politische Figur, da es über die Machtorgane Polizei, Militär und Geheimdienst verfügt. Der Ministerpräsident hat ein Einfluss enorm eingebüßt und war in den Hintergrund gerückt. Dem Parlament hingegen fiel eine Schlüsselrolle zu, da es als Legislative im Hinblick auf die anstehenden Reformen viel Einfluss auf die künftige Entwicklung des Landes nehmen konnte. Aufgrund jedoch der durch und durch korrupten politischen Kultur der Ukraine werden die Abgeordneten der „Werchowna Rada“ in der Regel von Oligarchen und anderen Vertretern der Finanzelite beherrscht. Diese wiederum stützten sich nach dem Regierungsumsturz offen auf die neue „reale“ Macht – die rechtsradikalen Gruppierungen. Weshalb sich an diesem Punkt nun die Frage stellt: Wer beherrschte nun eigentlich wen? Die Finanzeliten die Rechtsextremisten, oder eher andersrum?
Formal bei der „Politik“, befindet sich die Macht realpolitisch in den Händen der Finanzelite, die aber ohne die Unterstützung und Zustimmung der Rechten manche Entscheidungen nicht durchsetzen kann. Da helfen weder Armee, noch Polizei oder Geheimdienst, die über das alleinige Gewaltmonopol im Staat de facto nicht mehr verfügen und jede Konfrontation mit dem Aktivisten der rechtsextremen Vereinigungen stattdessen eher zu vermeiden versuchen. Unter anderem deswegen, weil Extremisten viele Beamte und Offiziere eingeschüchtert und die Sicherheitsorgane teilweise unterwandert haben.
Damit bekamen die rechtsradikalen Kräfte freie Hand, sich über die Gesetze und Normen straffrei hinwegzusetzen, um ihre Macht durch Mord, Erpressung, illegale Geschäfte, Schmuggel und andere Formen der organisierten Kriminalität noch weiter auszubauen. Im Grunde ist es egal, wer die Ukraine formal regiert – er muss sich in jedem Fall mit den Extremisten gut stellen. Die ukrainischen Eliten haben dieses Novum schnell begriffen und befolgen die neuen „Regeln“.
Westlichen Staaten, die den Euromaidan von Anfang an befürwortet und unterstützt hatten, und ungeachtet der besagten Zustände die Ukraine für sich weiterhin nutzen und dabei das Gesicht wahren wollen, ist es Recht, wenn international salonfähige Politiker die ukrainische Regierung leiten. Wer im Hintergrund eventuell in Wirklichkeit das Sagen haben könnte, steht offenbar wohl nicht zur Debatte.
Von Alexander Männer