Aus der Haft betrachtet Rosa Luxemburg die Welt, die Kultur und die Menschheit. Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis
Vogelstimmen, Schmetterlinge und menschliche Degradation
Die genannten Briefe verfasste Rosa Luxemburg im Zeitraum von 1916 bis 1918. Zu dieser Zeit war sie zunächst in Berlin, dann in Wronke, später in Breslau interniert; zynisch wurde ihre Gefangenschaft und Isolation „Schutzhaft“ genannt. Faktisch sollte die radikale Politikerin aus der Diskussion ausgeschlossen werden. Luxemburg war abgeschnitten. Büchersendungen und Briefe wurden kontrolliert und unterlagen der Zensur.
Dennoch korrespondierte sie mit Freund*innen und politischen Weggefährt*innen und beteiligte sich auch an der politischen Diskussion mit Texten, die weitaus mehr politische Sprengkraft hatten, als ihre Briefe vermuten lassen. Der hier besprochene Band, der unter dem Titel „Briefe aus dem Gefängnis“ immer wieder veröffentlicht wurde, versammelt Luxemburgs Briefe an Sonja Liebknecht. Sie war die Frau des sich zu dieser Zeit ebenfalls in Gefangenschaft befindlichen Karl Liebknecht, einem engen Vertrauten von Rosa Luxemburg, der wie sie 1919 ermordet wurde.
Wer den Namen Rosa Luxemburg in die Suchmaschinen des Internets eintippt, findet zumeist politische Statements, agitatorische Aufrufe, schneidende Analysen und Kritik der politischen Kontrahent*innen, die nicht selten mit einer Härte vorgetragen werden, dass sie zunächst abschreckend wirken mögen. In den Briefen taucht nun aber eine Rosa Luxemburg auf, die nicht ausschliesslich über den politischen Widerstand und den Kampf schreibt.
Stattdessen tauscht sie sich mit der jüngeren Sonja Liebknecht, um die sie sich sichtlich sorgt, über Literatur, die Familie, Naturbetrachtung, Musik, gemeinsame Erfahrungen und auch Geologie aus. Das „Geschäftliche“ (S. 60) – von Luxemburg selbst in Anführungszeichen gesetzt – bleibt oftmals aussen vor. Es weicht der Beschreibung des eigenen kleinen, selbst angelegten Gartens im Gefängnis in Wronke, der Diskussion von Vogelstimmen, dem Bericht von einem gefundenen und versorgten Schmetterling und der alles umfassenden Sorge um Sonja Liebknecht.
Die Briefe Luxemburgs aus dem Gefängnis transportieren beides: Sie drücken zum einen eine grundlegend positive Beziehung zur Welt aus. Auch dort, wo Rosa Luxemburg eingesperrt ist, findet sie Raum, die Schönheit der Natur zu sehen, sich zu bilden und sogar zu arbeiten. So wird eine Seite der Politikerin sichtbar, die in anderen Texten in den Hintergrund gedrängt wird, obwohl sie – wie die Publikation von Luxemburgs Herbarium belegt – einen grossen Teil ihrer Persönlichkeit ausmacht: die der mitfühlenden Revolutionärin. Rosa Luxemburg romantisiert indes die Natur nicht, obgleich sie diese wertschätzt:
„Sie wissen, ich werde trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Strassenschlacht oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen als den ‚Genossen‘. Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele innerlich bankrotte Politiker, ein Refugium, ein Ausruhen finde. Im Gegenteil, ich finde auch in der Natur auf Schritt und Tritt so viel Grausames, dass ich sehr leide.“ (S. 40)
Ihre Briefe können somit nicht als Verherrlichung der isolierten Haft verstanden werden, welche die kontemplative Naturbetrachtung ermöglicht. Sie sind nicht ausschliesslich positiv und zeigen keineswegs eine unverwundbare Luxemburg, denn sie transportieren zum anderen auch eine realistische, die eigene Verletzbarkeit berücksichtigende Perspektive. Auch Rosa Luxemburg leidet – und dieses Leiden lässt sie beredt werden. So berichtet sie davon, dass auch sie sich im Gefängnis eingesperrt fühlt und ihre eigene Position und ihre eigenen Wahrnehmungen in der Isolation als falsch empfindet:
„Überhaupt gibt es Tage, wo ich die Empfindung habe, alles, was ich tue und sage, sei verkehrt, sogar mein harmloses Geplapper über die Vögel sei ein Verbrechen. Ach, ich weiss gar nichts mehr, ich verstehe nichts, nichts, als dass ich leide.“ (S. 62)
Auch Rosa Luxemburg macht die Isolation zu schaffen. Sie berichtet auch von ihrer Begegnung mit anderen Gefangenen, denen sie ausweicht:
„Und ich hefte krampfhaft meine Blicke beim Wandeln auf die grauen Pflastersteine, um dem Anblick der im Hofe beschäftigten Gefangenen zu entgehen, die mir stets in ihrer diffamierenden Tracht eine Pein sind und unter denen sich immer ein paar finden, bei denen Alter, Geschlecht, individuelle Züge unter dem Stempel der menschlichen Degradation verwischt sind, die aber gerade durch einen schmerzlichen Magnetismus immer wieder meine Blicke anziehen.“ (S. 74)
Die Briefe aus dem Gefängnis sind beides. Sie sind Bericht über das Leben einer widerständigen Frau im Gefängnis, die trotz alledem im Lebensrausch ist, wie die kürzlich verstorbene Luxemburg-Biografin Annelies Laschitza ihr grosses Buch über Luxemburg (2000) betitelte. Zugleich sind sie Reflexion auf die Tendenzen zur Entmenschlichung, die eine Gefangenschaft mit sich bringt. In diesem Spannungsverhältnis bewegen sich die Briefe jederzeit – Luxemburg heute zu lesen bedeutet, die Spannungen nachzuvollziehen, auszuhalten und mit Luxemburg einen ganz persönlichen Einblick in den gar nicht so alltäglichen Alltag im Gefängnis zu erhalten
Und nun? Warum Rosa Luxemburg lesen?
Die im Band versammelten Briefe von Rosa Luxemburg an Sonja Liebknecht vermitteln einen Eindruck der Zeit Luxemburgs im Gefängnis. Obgleich sie schon als Zeitdokument höchst interessant sind, bieten sie zugleich noch viel mehr. Sie weisen darauf hin, wie Luxemburg weitergedacht werden kann und liefern politisch denkenden Menschen und Aktivist*innen Anregungen dafür, die eigene Position zu reflektieren.
Luxemburg spricht sich im Angesicht ihrer eigenen Gefangenschaft für eine gelassene Haltung aus: „Man muss alles im gesellschaftlichen Geschehen wie im Privatleben nehmen: ruhig, grosszügig und mit einem milden Lächeln.“ (S. 90f.) Freilich bedeutet dies nicht, eine distanzierte Beziehung zur Welt einzunehmen. Denn aus der Beziehung zur Welt, die sowohl in Luxemburgs detailreicher Beschreibung der Natur als auch in den Berichten zu ihren Lesefrüchten und den Erlebnissen im Gefängnis sichtbar wird, können Menschen sich schlicht nicht lösen.
Die Beziehung ist vorhanden und es gilt sie zu bejahen und zu verändern. Abgesehen von altbackenen Interpretationen konservativer Vertreter der politischen Theorie verschaffen sich aktuell zahlreiche feministische und postkoloniale Stimmen mit deutlichem Bezug auf Luxemburg Gehör. So wird in Dana Mills (2020) neuem Buch zu Rosa Luxemburg ein facettenreiches Bild gezeichnet, das Luxemburg als widersprüchliche und zugleich mächtige Referenz für politische Kämpfe im Globalen Süden ausweist. Bestätigt wird diese Aktualität auch durch Versuche, Luxemburgs Überlegungen für die postkoloniale Theoriebildung anschlussfähig zu machen. In jedem Fall erscheint es überkommen, ihre theoretischen Überlegungen als unsystematisch, einseitig und wenig relevant zu markieren.
Rosa Luxemburg, die am 15. Januar 1919 ermordet wurde, hat Leser*innen und Aktivist*innen noch genau so viel zu sagen wie vor nun schon über hundert Jahren. Die Frage ist, was wir aus Luxemburgs Werk machen und wie es uns inspirieren kann. Dass definitiv viele weitere Bedeutungsfragmente bei Luxemburg, angeregt durch die heutigen politischen Erfahrungen, erschlossen werden können, sollte klar sein. Luxemburg lesen ist ein Erlebnis. Ihre Texte regen zum Widerspruch an, sind gleichsam aber auch zugänglich und in den Briefen menschlich und persönlich. Sie können so als Anregung dienen, auch im Angesicht der überwältigenden Komplexität der Welt das Gute zu sehen, das sich im Schlechten verbirgt. Das ist spannungshaft, aber was ist das schon nicht.
Rosa Luxemburg: Briefe aus dem Gefängnis. Karl Dietz Verlag, Berlin. 136 Seiten, ca. SFr 15.00, ISBN 978-3-320-02359-1