Weiterhin Anschläge, Korruption, Drogen und Frauendiskriminierung – nach 20 Jahren und Kosten von über einer Billion Dollar.

Urs P. Gasche für die Online-Zeitung INFOsperber

Nach 17 Jahren Krieg hatte der US-Oberkommandierende General John W. Nicholson Jr. vor drei Jahren erklärt, die Regierung in Kabul bleibe «in absehbarer Zukunft» von ausländischer Hilfe «völlig abhängig». Ein autonomes Handeln der afghanischen Regierung in Kabul sei nicht absehbar und ein Ende der Kriegshandlungen sei «nicht in Sicht».

Drei Jahre später ist die Lage unverändert desaströs. Unter dem Titel «Die USA lassen Afghanistan im Stich» berichtete die NZZ am 15. April 2021: «Die Zahl der zivilen Opfer steigt jeden Monat.» Über die Hälfte der Landfläche werde von den Taliban kontrolliert. Zeitungen des Tamedia-Konzerns titelten «Biden beschenkt die Taliban und al-Kaida». Doch ein Blick auf die Geschichte macht den Abzug aus Afghanistan nachvollziehbar.

Die Nato unter US-Führung will ihre Truppen bis zum 11. September 2021 vollständig abziehen. Gegenwärtig sind gemäss mehreren Quellen in Afghanistan noch rund 2500 US-Soldaten und 6300 Militärangehörige aus anderen Nato-Staaten stationiert. Dazu kommen noch US-Spezialeinheiten und private Söldnertruppen, deren Zahlen selten bekannt werden.

Flüchtlinge Afghanistan EU
Herkunft der Asylsuchenden in EU-Staaten im Jahr 2020. Afghanistan ist bereits seit 2015 das zweitwichtigste Herkunftsland von Flüchtlingen in Europa. Quelle: Schengen Visa Information. © schengenvisainfo

Wegen des Kriegs musste eine halbe Million der rund 35 Millionen Einwohner ihre angestammten Orte innerhalb des Landes verlassen. Viele weitere verliessen das Land Richtung Europa. Auch letztes Jahr kamen Asylsuchende in EU-Staaten am zweitmeisten aus Afghanistan (siehe Grafik). Die USA sind von den Flüchtlingen kaum betroffen.
Über die Hälfte der Bevölkerung lebt heute von weniger als 5,5 Dollar pro Tag. Laut Welthunger-Index sind 30 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Wegen Armut, Gewalt und Umsiedlungen besuchen höchstens zwei Drittel aller Kinder eine Schule. Nach dem neusten Bericht der US-Kontrollbehörde vom Januar 2021 über die Verwendung der US-Gelder ist Afghanistan immer noch der grösste Opium-Produzent der Welt.

Nach Angaben des Pentagons kostete allein der Krieg die US-Steuerzahlenden jedes Jahr 45 Milliarden Dollar. Dazu kommen die Kosten der anderen Nato-Staaten. Seit Kriegsbeginn haben sich diese Kriegsausgaben auf weit über eine Billion Dollar summiert. Dazu kamen nochmals über eine Billion Dollar, die Afghanistan von etwa siebzig Staaten, internationalen Organisationen und tausende von Hilfsorganisationen an «Entwicklungshilfe» erhielt.1 Statt Krieg zu führen, hätte man mit diesen Summen jedem Einwohner rund 60’000 Dollar auszahlen können. Mit einem solchen Geschenk des Himmels hätten sich weniger Männer von den Taliban oder Al-Kaidn a rekrutieren lassen und der Konsum hätte die Wirtschaft angekurbelt.

Hunderte Milliarden zum Aufbau einer Regierungsarmee

Seit 16 Jahren habe das US-Militär versucht, eine professionelle afghanische Armee aufzubauen, sagte der pensionierte General Karl W. Eikenberry, der die Nato-Streitkräfte in Afghanistan geführt hatte und dann US-Botschafter in Kabul wurde. «Wir glaubten immer, die Spitzen der afghanischen Armee wollten ebenfalls in erster Linie die Aufständischen bekämpfen. Doch häufig ist dies nicht der Fall.» Für viele seien Vorteile für den Familien-Clan und die eigene ethnische Gruppe ebenso wichtig gewesen, erklärte Eikenberry der «New York Times». Auch wollten einige Armeeführer ihre Personalbestände in Kämpfen nicht verlieren, weil diese ihnen auch zu Einkommen verhelfen.

Für den zivilen Aufbau zahlten Nato-Staaten jedes Jahr fast vier Milliarden Dollar. Eine Geberkonferenz in Genf hat im November 2020 für die Jahre bis 2024 noch gut drei Milliarden jährlich zugesagt. Dies sei «das absolute Minimum», um einen Zusammenbruch der staatlichen Institutionen zu vermeiden, erklärte die Weltbank (Quelle: Sigar-Report Januar 2021).

Neben den Einnahmen aus dem Drogenhandel wurden die Nato-Truppen und die vielen NGOs zu einer der wichtigsten Einnahmequellen, von der allerdings fast nur die Eliten in Kabul und anderen Städten profitierten. Das führte dazu, dass die afghanische Mittelklasse ein Interesse daran hat, dass der Krieg weitergeht.

Interessen von Pakistan, Russland und Iran

Die geografische Lage Afghanistans – mit langen Grenzen zu Pakistan, dem Iran sowie mit etwas weniger langen Grenzen zu Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan sowie einem kleinen Abschnitt auch zu China – führt dazu, dass nicht nur die USA und die Nato daran interessiert sind, wer und wie in Kabul regiert und wie, sondern auch diese Nachbarländer.

  • Russland und der Iran wollen eine ständige Präsenz der Nato in Afghanistan verhindern.
  • Pakistan unterstützt alle Kräfte, die anti-indisch eingestellt sind, darunter afghanische Talibans.
  • Ein strategisches Ziel Chinas ist der Ausbau einer neuen Seidenstrasse, deren eine Variante den Norden Afghanistans berührt.

Es locken riesige Rohstoff-Vorkommen

Interessiert sind die USA, China, Russland und weitere ausländische Mächte insbesondere an der Ausbeutung riesiger Rohstoffreserven.

  • Ausländische Konzerne und Regierungen sind nicht nur an grossen Erdgas- und Erdölfeldern interessiert, sondern insbesondere an den enormen Mengen von Lithium und Seltenen Erden. Siehe Infosperber vom 23.8.2017: «In Afghanistan locken riesige Rohstofflager».

Die internationale Nachfrage nach Lithium nimmt enorm zu. Lithium braucht es insbesondere für kleine und grosse Lithium-Ionen-Batterien und -Akkus. Ohne diese gäbe es heute weder Laptops, Smartphones noch Elektroautos. In fast allen der milliardenfach existierenden modernen Mobilgeräte, vom Akkuschrauber bis zum Flugzeug kommen solche Batterien zum Einsatz. Die «New York Times» zitierte bereits im Jahr 2010 aus einem Bericht des US-Verteidigungsministeriums, laut dem Afghanistan zum «Saudi-Arabien für Lithium» werden könne. Ausländische Mächte werden sich in Afghanistan weiterhin einmischen.

Warnende Stimmen: Es geht nicht um Terrorismus

Bereits kurz nach dem US-Angriff auf Afghanistan im Rahmen des «Kriegs gegen den Terror» nach 9/11 warnte Kolumnist William Pfaff in der «International Herald Tribune» im Oktober 2001: «Statt des Terrorismus wird nun Afghanistan attackiert, denn Afghanistan ist militärisch angreifbar, nicht der Terrorismus.» Der Terrorismus werde nicht durch ein Land verkörpert: «Der Terrorismus ist nur eine aggressive politische Aktionsform, mit politischen Motiven und Zielen, die in der Geschichte immer wieder vorkommt.»
Anstatt politische Lösungen zu suchen, setze man zunehmend auf brutale Gewalt und stütze sich auf Verbündete, die sich gerade anböten, auch wenn dadurch in Afghanistan chaotische Verhältnisse zu entstehen drohten und der Krieg gegen den Terrorismus im Sande verlaufe. «Die Ursachen für Terrorismus bleiben bestehen, denn sie sind politischer Natur», meinte Pfaff schliesslich. «Afghanistan und die Afghanen stellen keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten dar, aber sie sind es, die die ganze Wucht des amerikanischen Zorns (nach 9/11) zu spüren bekommen. Die Prioritäten der US-Regierung sind auf den Kopf gestellt.»

Zur Erinnerung: Zwischen 1979 und 1989 hatte die CIA für drei Milliarden Dollar Waffen an verschiedene Mujahedin-Gruppierungen geliefert (für den Kampf gegen die russischen Besatzer), aus denen auch die Taliban hervorgingen. Nato-Staaten wie Deutschland hatten die Mujahedin via Pakistan mit «weichem» Material wie Gasmasken, Nachtsichtgeräten, Zelten usw. versorgt. (Quelle: NZZ vom 28.7.2011)

Hillary Clinton: «Wir hatten unsere Gegner von heute finanziert»

«Wir ernten heute [in Afghanistan], was wir gesät haben», erklärte Hillary Clinton als US-Aussenministerin im Jahr 2010. Sie hat sich damals wohl kaum vorgestellt, dass die Ernte auch zwanzig Jahre später katastrophal ausfallen würde.

US-Aussenministerin Hillary Clinton im Jahr 2010

 

«Die Macht der Präsidenten zur Kriegsführung einschränken»

Nach dem Anschlag von 9/11 ermächtigte der US-Kongress den Präsidenten, Terroristen auf dem ganzen Planeten den Krieg zu erklären. Die USA begannen Kriege mit der Nato in Afghanistan, mit anderen Verbündeten im Irak und mit Drohnen in vielen Ländern Asiens und Afrikas – ohne dazu eine völkerrechtliche Ermächtigung der Uno zu haben.
Es genüge jedoch nicht, den Präsidenten diese Spezialvollmachten seit 9/11 zu entziehen, erklärten Harvard-Professor Jack Goldsmith und Yale-Professor Samuel Moyn in der New York Times. Moyn ist Rechtshistoriker und Goldsmith ist spezialisiert auf die Machtverteilung zwischen Präsident und Kongress.
Nach Artikel II der US-Verfassung ist der Präsident Oberbefehlshaber der Armee. In dieser Funktion dürfe der Präsident nach bisheriger Rechtsauslegung militärische Nadelstiche mit Drohnen, Raketen oder Cyberangriffe eigenmächtig anordnen, so lange sie «dem nationalen Interesse dienen», und zwar ohne Rücksicht auf die Uno-Charta.
Goldsmith und Moyn schlagen dem Kongress vor, diese Macht der Präsidenten zeitlich limitiert auf definierte Notfälle zu beschränken: «Nur so könnten endlose Kriege verhindert werden.»
Im Fall Afghanistan allerdings hätte der Kongress den Krieg kaum früher beendet. Noch im Sommer 2020 lehnte der Kongress mit 60 gegen 33 Stimmen eine Gesetz ab, das den Abzug aus Afghanistan innerhalb eines Jahres vorsah.

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