Ist jetzt die richtige Zeit für Utopien? Ausgerechnet jetzt, wo die Bewältigung des Alltags und der Corona-Folgen vielen so vieles abverlangt? Oder vielleicht gerade jetzt, um nicht aufzugeben? Können Visionen für eine Welt von morgen für die Alltagskämpfe von heute ermutigen?
Schon 2019 hatte das Leipziger Konzeptwerk Neue Ökonomie zu 13 Zukunftswerkstätten eingeladen: „Stellt euch das Jahr 2048 vor, überlegt euch, was Zukunft für alle sein soll.“ Darauf aufbauend sollte im August 2020 in Leipzig ein großer Kongress „Zukunft für Alle“ stattfinden. Aufgrund der Corona-Maßnahmen wurde er überwiegend online durchgeführt. Ein Buch zum Kongress erschien unter dem Titel „Eine Vision für 2048“ im Oekom Verlag (auch online zum kostenlosen Download).
Alles ganz anders
Wenn es nach den UtopistInnen vom Konzeptwerk geht, dann soll sich die Welt bis 2048 vollkommen verändert haben: Sie ist global gerecht und demokratisch geworden, Entscheidungen werden von Räten auf verschiedenen Ebenen getroffen, die Wirtschaft und der globale Handel dienen den Menschen, nicht dem Profit. Die Technik ist an menschlichen Bedürfnissen ausgerichtet und Unternehmen werden demokratisch geführt. Pro Woche sind nur noch 20 Stunden Erwerbsarbeit nötig und Sorge-Tätigkeiten genießen besondere Wertschätzung.
Es gibt soziale Garantien für eine Grundversorgung und ein funktionierendes Gesundheitssystem für alle. Schulen in der heutigen Form wurden abgeschafft, gelernt wird in allen Lebenswelten, kooperativ und zur Entfaltung persönlicher Potenziale. Wohnen ist ein Grundrecht und es ist ausreichend guter Wohnraum vorhanden. Die Lebensmittel kommen überwiegend aus kleinteiliger, regionaler Produktion.
Das Finanzwesen wurde demokratisiert und Spekulation abgeschafft. Der Energieverbrauch wurde drastisch gesenkt, dank Verkehrswende überwiegt der öffentliche Nahverkehr. Barrierefreiheit in jeder Hinsicht ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe für alle und es gibt keine Grenzen mehr, sondern Bewegungsfreiheit weltweit.
Und wo, bitte, gehts jetzt lang?
Das ist alles sehr schön erdacht, und vermutlich könnten sich ziemlich viele Leute ziemlich schnell auf viele dieser utopischen Vorstellungen verständigen. Sicher gäbe es nicht in jedem Punkt Einigkeit, aber die Zukunft ist ohnehin nicht planbar, lässt sich bestenfalls skizzieren und es gibt nur die Sicherheit, dass keine und keiner wissen kann, wie es kommen wird.
Aber mit diesen schönen Vorstellungen vor Augen drängt sich doch die Frage nach dem Weg dorthin auf. So ist das wichtigste Kapitel im Buch sicherlich „Die Transformation!“ – mit Ausrufezeichen. Die AutorInnen weisen darauf hin, dass grundlegende Veränderungen durchaus möglich sind, dass in der Vergangenheit beispielsweise die Sklaverei abgeschafft und das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Dies trifft einerseits zu und soll nicht gering geschätzt werden. Andererseits ist die volle Gleichberechtigung von Frauen noch lange nicht erreicht und es gibt nach wie vor sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse in viel zu vielen Ländern, bis hin zu Zwangsprostitution auch hierzulande.
Das soll keinesfalls ein Plädoyer fürs Aufgeben sein, denn schon Hermann Hesse wusste: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.” Die KonzeptwerkerInnen orientieren sich an dem vor zwei Jahren verstorbenen US-amerikanischen Soziologieprofessor und Transformationsforscher Erik Olin Wright. Anknüpfend an dessen Arbeiten benennen sie drei Transformationsstrategien.
Strategien für einen grundlegenden Wandel
Dass Freiräume „jenseits von Markt und Staat“ geschaffen werden sollen, leuchtet ein. Als Beispiele werden Solidarische Landwirtschaft, selbstverwaltete Kinderläden und Genossenschaftsbetriebe genannt. Gänzlich unabhängig von Markt und Staat lässt es sich in dieser Gesellschaft wohl kaum leben, und es ist vielleicht auch gar nicht erstrebenswert. Vielleicht reicht es aus, sich mit solidarökonomischen Betrieben und Projekten weder in absolute Abhängigkeit vom Staat zu begeben noch allein entsprechend den Funktionsweisen der Marktkonkurrenz zu wirtschaften?
Auch die „revolutionäre Realpolitik“ überzeugt, wenngleich der Begriff recht erklärungsbedürftig ist und die Frage aufwirft: Ja was denn nun, Realpolitik oder Revolution? Gemeint sind Reformen, die „über das aktuell vorherrschende Gesellschaftssystem hinausweisen“ wie beispielsweise „eine allgemeine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, radikale Umverteilung von Einkommen und Vermögen, kommunale Mitbestimmung oder ein Grundeinkommen“.
Die dritte Strategie wirft die meisten Fragen auf, denn es geht darum, „Gegenmacht aufzubauen“. Die Machtfrage ist sicher ganz entscheidend, wenn es mit dem grundlegenden Wandel ernst gemeint ist. Dafür sollen sich „die vielfältigen Akteur:innen – von den Medien über Parteien bis hin zu ökonomischen Pionier:innen – zusammenschließen, um zukunftsweisende Bündnisse zu schmieden und Diskurse zu verschieben“. Das allein wird allerdings noch keine andere Realität schaffen, sondern dafür „müssen Auseinandersetzungen in den Köpfen und zwischenmenschlichen Beziehungen, auf den Straßen, in den Betrieben, Krankenhäusern und Parlamenten geführt werden“.
„Megatrends“ – in welche Zukunft?
Die AutorInnen sehen in den jetzigen Corona-Zeiten ein „Möglichkeitsfenster für eine Zukunft für alle“ und skizzieren fünf miteinander verschränkte „Megatrends“: globale Umverteilung, ökologische Transformation, Selbstbestimmung und Demokratisierung, Transformation der Wirtschaft sowie Abbau von Diskriminierung und Herrschaft.
Ja, so sollte es sein – aber wie ist es? Die Coronakrise hat alles, was schon bisher schlecht war, noch schlechter gemacht: Die globale Ungleichheit nimmt zu, und aufgrund der Corona-Lockdowns sterben Millionen Menschen im globalen Süden an Hunger sowie fehlenden Impfungen und Medikamenten. Eine ökologische Transformation ist nicht in Sicht, eher im Gegenteil. Mit dem „Great Reset“ des Weltwirtschaftsforums und den von machtvollen Finanzinvestoren wie Blackrock propagierten nachhaltigen Geldanlagen werden Klimakatastrophe und Ressourcenraub im grünen Deckmäntelchen an Fahrt aufnehmen.
Weltweit führt die Pandemie zum Abbau von Grundrechten und öffnet Türen für Repression. Politische und finanzielle Macht konzentrieren sich weiter. Die Transformation der Wirtschaft zerstört Kleinunternehmen und Soloselbstständige, während große Unternehmen und Konzerne mit unvorstellbar hohen Summen an Staatsgeldern gerettet werden. Die Diskriminierung ist den Schutzmaßnahmen eingeschrieben, weder Geflüchtete in Sammelunterkünften oder Obdachlose werden vor Ansteckung geschützt noch diejenigen, die Tag für Tag dafür sorgen, dass die Gesellschaft trotz allem weiter funktioniert, die in überfüllten Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren und an Supermarktkassen und in Fabriken, auf dem Bau, bei Zustelldiensten oder in Pflegeeinrichtungen zu oft erbärmlichen Bedingungen arbeiten müssen.
Ja, die Megatrends sind da, aber sie trenden genau in die falsche Richtung. Umso wichtiger wäre eine kraftvolle Bewegung für ein anderes, besseres Morgen. Aber wo sind die Akteure und wie können sie trotz der Kontaktsperren zueinander finden?
Weitere Informationen: www.zukunftfueralle.jetzt
Von Elisabeth Voß aus DER RABE RALF Februar/März 2021, Seite 17 und auf Grüne Liga Berlin veröffentlicht.
Anmerkung: Die Autorin hat selbst ein wenig an den Utopien mitgesponnen: 2019 beim Leipziger Konzeptwerk Neue Ökonomie bei einer Zukunftswerkstatt zu „Unternehmen“ und mit Video-Statements zu den Fragen: Was gibt es 2048 nicht mehr? 2048 – Worauf freust du dich? und: Was sind Schritte auf dem Weg zu deiner Vision?; im August 2020 beim Kongress „Zukunft für Alle“ (überwiegend online) mit dem Workshop „Alltagskämpfe und (Selbst)Organisierung“ der Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ in Leipzig und am Buch zum Kongress „Eine Vision für 2048“; mit utopischen Texten für einen Podcast über das Leben im Jahr 2048 für Attac und die Audioutopistas, die nun nach und nach in ihrem Blog in der Freitag-Community erscheinen.