Weniger als 50 Prozent aller Frauen bluten beim ersten Geschlechtsverkehr. Trotzdem hält sich der Mythos vom unversehrten Jungfernhäutchen, das für die Reinheit und Ehrbarkeit einer Frau stehe, hartnäckig. Wie falsch und konstruiert diese Annahme ist, zeigt sich schon in der Tatsache, dass medizinisch gesehen kein Jungfernhäutchen existiert. Zur Überwindung dieses repressiven Konzepts bedarf es daher nicht nur einer Aktualisierung der Kritik, sondern konkreter politischer Handlungen.
Ist die Jungfräulichkeit ein Mythos? Das sogenannte Jungfernhäutchen, medizinisch „Hymen“ genannt, ist ein dünner, schleimhaltiger Gewebekranz, der einem Haargummi ähnelt und ebenso dehnbar ist. Es hat bis zur Pubertät eine Barrierefunktion und schützt die Vulva vor Keimen. Später produziert der Körper einer Frau Milchsäurebakterien, die das Hymen überflüssig werden lassen. Das Hymen unterscheidet sich, ebenso wie die Vulva, von Frau zu Frau. Es ist kein Häutchen, das reißen kann. Die Vorstellung, dass da eine pergamentartige Struktur über der Vagina liegt, die beim ersten Geschlechtsverkehr reißt und Blutungen auslöst, ist nicht nur irreführend, sondern medizinisch falsch.
Leyla heiratet heute. Den ganzen Tag über denkt sie an den ersten ehelichen Sex und macht sich Sorgen, ob sie bluten wird. Leyla ist 20 Jahre alt und weiß nicht viel über Sex. Sie weiß nur, dass sie heute Nacht bluten muss, denn sonst wird ihr niemand glauben, dass sie noch Jungfrau ist. Auf ihrer Hochzeit tanzen 300 Menschen und sind glücklich, nur Leyla macht sich Sorgen. Diese Sorgen muss sie dennoch verbergen, denn sie machen sie verdächtig, vorehelichen Verkehr gehabt zu haben.
Der Begriff der Jungfräulichkeit wurde für Frauen erfunden. Wird dieser Begriff auf Männer angewandt, liegt der grundlegende Unterschied im gesellschaftlichen Ausmaß, mit dem Mädchen und Frauen weltweit Ungleichheit durch das kulturelle Konzept der Jungfräulichkeit erfahren.
Weder beim Sport noch beim Masturbieren oder beim Geschlechtsverkehr geht diese Struktur kaputt. Pro Familia spricht von weniger als 50 Prozent Frauen, die beim ersten Geschlechtsverkehr bluten. Die Unversehrtheit des sogenannten Jungfernhäutchens oder eine Blutung beim Geschlechtsverkehr als Beweis dafür heranzuziehen, ob die Frau schon Sex hatte, ist also völliger Unsinn. Noch unsinniger ist die kulturelle und/oder religiöse Ansicht, man könne an der Blutung in der Hochzeitsnacht die Reinheit einer Frau ablesen.
Diesem Irrglauben und seinen Folgen sind heutzutage immer noch viele Mädchen und Frauen ausgesetzt. Kulturelle Vorstellungen halten sich vor allem dann besonders hartnäckig, wenn sie einen machtpolitischen Zweck verfolgen. Das sogenannte Jungfernhäutchen legt den Wert eines Mädchens fest. In fast allen Religionen und Kulturen gelten sogenannte Jungfrauen als ehrbarer und reiner. Je ehrbarer die Frau, desto höher sind ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt. In einigen Fällen, vor allem bei muslimisch sozialisierten Mädchen und Frauen, ist die Jungfräulichkeit eines Mädchens sogar Bedingung für eine Heirat. Um sich der Gefahr der Nicht-Vermählung zu entziehen, verheiraten viele Familien ihre Töchter daher früh. Kinderehen und Zwangsverheiratungen sind die Folge.
Leylas Nervosität steigt. Es wird immer später, die Nacht rückt näher und mit ihr der gemeinsame Weg ins Schlafzimmer. Die Frauen der beiden frisch vereinten Familien geleiten sie ins Schlafzimmer. Hinter ihr wird die Tür verschlossen. Leyla hat Angst. Sie setzt sich aufs Bett neben ihren Ehemann. Sie hört die Frauen im Flur sprechen. Sie hoffen, dass alles klappt. Nachdem ihr Ehemann in sie eingedrungen ist, schaut er sich sofort das blutige Laken an und bringt es erleichtert zu den Frauen vor der Tür. Auch sie sind erleichtert und singen den „Zaghrouda“, einen langen, schwankenden hohen Klang, der einem Wolfsheulen ähnelt, um ihre Freude hörbar auszudrücken. Durch das Zaghrouda wissen nun auch alle auf der Hochzeit anwesenden Männer, dass die Braut jungfräulich war. Die Männer schießen mit Gewehren in die Luft. Jetzt weiß auch das ganze Dorf Bescheid.
Wer weiß, was Leyla passiert wäre, wenn sie – wie mehr als die Hälfte aller Frauen – nicht in der ersten Nacht geblutet hätte. Historisch geht die archaische Methode des befleckten Lakens darauf zurück, dass sehr junge Mädchen an sehr alte Männer vermählt wurden und die Blutungen durch eine genitale Verletzung der Mädchen entstanden. Sie beweist also keine Jungfräulichkeit, sondern zelebriert die Verletzung junger Mädchen und Frauen.
Nicht alle unverheirateten Frauen halten sich an das sogenannte Gebot der Jungfräulichkeit. Kurz vor ihren Eheschließungen wenden sich immer mehr von ihnen an Ärzt*innen um ihre sogenannte Jungfräulichkeit zertifizieren zu lassen. In Frankreich wurden diese Tests jüngst im Zuge der Verschärfungen im Kampf gegen den Separatismus und zum Schutz des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aller Mädchen verboten. In extremeren Fällen wenden sich Frauen an Mediziner*innen, um ihr sogenanntes Jungfernhäutchen zusammennähen zu lassen. Man bezeichnet diesen Eingriff als „Hymenrekonstruktion“ oder als „Revirgination“. Einziger Zweck des Eingriffs ist die Sicherstellung der oben geschilderten Blutung in der Hochzeitsnacht.
Während Informationen zum Recht auf Abtreibungen Ärzt*innen untersagt sind, ist dieser frauenverachtende Eingriff in Deutschland ein Geschäftsmodell.
Auch in Deutschland werden immer mehr Ärzt*innen für diese Intimoperation angefragt. Manche scheuen nicht davor zurück, diese Leistung sogar auf ihrer Homepage anzubieten. Da die Hymenrekonstruktion ein Eingriff ohne medizinische Indikation ist, wird sie als Schönheitsoperation begriffen und ist somit ein profitables Geschäft für Ärzt*innen auf Kosten der verzweifelten Mädchen und Frauen. Während Informationen zum Recht auf Abtreibungen Ärzt*innen untersagt sind, ist dieser frauenverachtende Eingriff in Deutschland ein Geschäftsmodell.
Der Mythos der Jungfräulichkeit setzt Mädchen und Frauen auf der ganzen Welt unter Druck. Er zwingt sie in die Beweispflicht ihrer vermeintlichen Ehrbarkeit – und der Ehrbarkeit der Familie. Er führt zu Wehr- und Machtlosigkeit. 2011 wurde dies überdeutlich, als das ägyptische Militär demonstrierende Frauen der Jasminrevolution sogenannten „Jungfrauentests“ unterzog.
Damit Frauen weltweit (sexuell) selbstbestimmt und gleichberechtigt sind, muss das kulturelle Konzept der Jungfräulichkeit überwunden werden. Ein erster Schritt ist das Verbot der Zertifikate nach französischem Vorbild und das Verbot dieser frauenverachtenden Konstruktion des sogenannten Jungfernhäutchens. Das Jungfernhäutchen existiert nicht und kann somit auch nicht (re-)konstruiert werden. Es ist höchste Zeit damit aufzuhören, das Enger- oder Zunähen der Vagina als „Wiederherstellung des Jungfernhäutchens“ zu bezeichnen. Wir müssen aktiv dagegen vorgehen, damit diese Eingriffe nicht mehr stattfinden.
Die Blutung in der ersten Nacht beweist also keine Jungfräulichkeit, sondernzelebriert die Verletzung junger Mädchen und Frauen.
Die französische Regierung stand zunehmend in der Kritik, nachdem sie sogenannte Jungfräulichkeitstests und ihre Zertifikate verboten hatte. Der Vorwurf lautete, dass man insbesondere den Frauen schade, weil es sich bei den meisten Anfragen um Frauen handelt, deren Wohl gefährdet ist. Wer aber diesen Mädchen und Frauen wirklich helfen will, muss diesen Eingriffen Einhalt gebieten. Ein Hymen zu rekonstruieren, verfestigt den Irrglauben einer Identifikation von Jungfräulichkeit als physisches, anatomisches Phänomen.
Ärzt*innen machen sich bei der Hymenrekonstruktion, wenn auch ungewollt, zu Mittäter*innen einer Irrlehre und erhalten eine falsche Norm aufrecht. Das Verbot dieser Praxis allein reicht nicht aus, ist aber ein erster richtiger Schritt. Es braucht, über das Verbot hinaus, eine umgehende Meldepflicht für Ärzt*innen, die sie dazu zwingt, Anfragen zu Eingriffen dieser Art direkt an entsprechende Ämter weiterzugeben. Denn die Anfrage allein weist auf die Repressalien und Gefahren hin, denen diese Frauen ausgesetzt sind. Ärzt*innen und Beamt*innen müssen durch unabhängige, säkulare und weltanschaulich neutrale Beratungsstellen geschult werden, um den Betroffenen die nötige Unterstützung und Begleitung sowie den notwendigen Schutz anzubieten. Es braucht außerdem schulische Aufklärungsarbeit, die nicht bei Eltern und deren Normen halt macht.