25 Jahre Rassismus-Strafnorm: Gerichtsurteile zeigen keine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit.

Monique Ryser für die Online-Zeitung INFOsperber

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) hat 25 Jahre nach Einführung der Rassismus-Strafnorm (Diskriminierung und Aufruf zu Hass / Art. 261bis Strafgesetzbuch) die Gerichtsurteile ausgewertet. Dabei zeigt sich: Die Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 16 Bundesverfassung) wurde nicht eingeschränkt. Damit werden die Behauptungen der Gegner im Abstimmungskampf in den 90er Jahren widerlegt. Vor allem die SVP hatte damals vor einem «Maulkorbgesetz» gewarnt. «Die Urteile fallen differenziert aus und tangieren die Meinungsäusserungsfreiheit nicht», sagt Martine Brunschwig Graf, Präsidentin der EKR. Im Gegenteil: «Sie wird von den Gerichten sehr hoch gewichtet.»

Menschenwürde nicht verhandelbar

Die Juristin Vera Leimgruber hat die rund 1000 Urteile ausgewertet. Herauskristallisiert habe sich, dass eine Verurteilung dann erfolge, wenn sich eine Aussage ganz klar gegen die Menschwürde richte. «Die Menschenwürde ist unantastbar, da kann man sich nicht auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen», so der Bericht. In einer Mehrzahl der Strafbefehle und Urteile, bei denen es oft um Äusserungen in sozialen Medien ging, sei aus diesem Grund nicht geprüft worden, ob die Meinungsäusserungsfreiheit tangiert gewesen sei, da die Aussagen ganz offensichtlich die Menschenwürde verletzten. Als Beispiel nennt der Bericht ein Video auf YouTube, in dem eine Maschine erklärt wird, mit der täglich 3000 «Neger» gehackt werden können.

Soziale Medien und «hate speech»

In den letzten Jahren ist das Problem des «hate speech» im Internet dazugekommen. Von 2016 bis 2019 wurden jährlich zwischen zehn und 18 solche Fälle verzeichnet, das entspricht je etwa einem Viertel bis einem Drittel aller rassistischen Vorfälle in diesen Jahren. «Äussert man sich auf elektronischem Weg, gehen oft die Hemmungen verloren, Tabus werden leichter gebrochen, die Menschen lassen sich mehr gehen», konstatiert Brunschwig Graf. In Diskussionen frage sie jeweils nach, ob die Person, die eine Aussage in einem Chat, auf Social Media oder in einem Kommentar gemacht habe, diese auch im Gespräch mit einem Gegenüber wiederholen würde. «Das führt oft zu einem besseren Bewusstsein», so die Präsidentin der EKR. Besonderes Augenmerk müsse auf Online-Kommentare zu Medienartikeln gelegt werden. Brunschwig Graf: «Dort gibt es oft kein Halten mehr.»

Die Gerichte müssten in Zusammenhang mit diesen Formen der rassistischen Rede erst eine Praxis finden, das Internet existierte nicht, als die Strafnorm in Kraft trat. «Die Rechtsprechung ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Nach und nach kommen wir auch hier zu klareren Regeln, was erlaubt ist und was nicht.» Herauskristallisieren musste sich beispielsweise, was öffentlich ist und was nicht. Der Bericht konstatiert aber: «Die Rechtsprechung zum Tatbestandsmerkmal der Öffentlichkeit ist generell und auch bezogen auf das Internet und Medien relativ gefestigt. Die Öffentlichkeit wird schnell als gegeben betrachtet, wenn nicht eindeutig enge persönliche Bindungen zwischen allen Personen bestehen, die körperlich oder online „anwesend“ sind.» Einigkeit herrscht darüber, dass die meisten Internetplattformen und Websites öffentlich sind. «Das gilt auch für geschlossene Facebook- oder WhatsApp-Gruppen, in denen keine „enge persönliche Bindung“ zwischen den Mitgliedern besteht», folgert der Bericht. Es gebe aber auch Fragen, die noch genauer geklärt werden müssten: Wie weit reicht die Verantwortung der Internetprovider, wie soll mit der Löschung oder dem «Liken» von Posts umgegangen werden und wie können Einträge strafrechtlich verfolgt werden, die zwar im Ausland verfasst wurden, von der Schweiz aus aber zugänglich sind?

Weniger strenge Rechtsprechung bei Völkermord

Der Bericht verzeichnet insgesamt 84 Fälle wegen Leugnung von Völkermord. Die Praxis zeigt, dass die Leugnung des Holocaust zu einer Verurteilung gemäss Strafnorm führte, da dieser als historische Tatsache anerkannt ist. Schwieriger lagen die Fälle bei anderen Völkermorden wie dem Genozid in Ruanda, beim Massaker in Srebrenica, der Unterdrückung in Tibet oder dem Völkermord an den Armeniern. In diesem speziellen Fall sollte das Verfahren gegen den türkischen Politiker Doğu Perinçek, der an Vorträgen in der Schweiz den Genozid an den Armeniern leugnete, zu einer Praxisänderung führen: Das Bundesgericht stützte die Verurteilung des türkischen Politikers und schrieb, den Völkermord an den Armeniern als internationale und historische Lüge zu bezeichnen, sei dazu geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören und die menschliche Würde der Angehörigen der armenischen Gemeinschaft zu beeinträchtigen. Perinçek gelangte daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der die Schweiz verurteilte und befand, der Völkermord an den Armeniern sei keine juristisch anerkannte Tatsache.

In der Folge führte die Verurteilung durch den EGMR dazu, dass die Schweizer Justiz bei Verurteilungen wegen Völkermord ausserhalb des Holocaust zurückhaltender wurde. Im Bericht steht dazu: «Es ist interessant und gleichsam erstaunlich, wie unterschiedlich der Holocaust im Vergleich zu den anderen Völkermorden juristisch behandelt wird. Während sowohl der Holocaust als auch der Genozid an den Armeniern sowie das Massaker in Srebrenica international und in der Schweiz als Genozide anerkannt sind, werden nur bei einer Leugnung des Holocausts automatisch rassistische Motive sowie eine Herabsetzung der Angehörigen der Ethnie der Opfer angenommen. […] Bei den anderen beiden Genoziden wird hingegen nicht automatisch von einem rassistischen Motiv ausgegangen und die Leugnung auch nicht direkt mit der Verletzung der Würde der Angehörigen der betroffenen Ethnie gleichgestellt. […]  Die Zurückhaltung des Bundesgerichts und die unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Genozide lässt sich möglicherweise mit dem Perinçek-Urteil des EGMR erklären.»

Strafnorm machte Probleme sichtbar

Die Strafnorm hat gemäss EKR nicht alle Probleme gelöst. «Sie kann auch nicht die Einstellungen der Menschen ändern, die rassistisches Gedankengut verbreiten, und das sind leider konstant etwa zehn Prozent der Bevölkerung», so Martine Brunschwig Graf. «Aber sie führte zum öffentlichen Diskurs, was strafbar ist und was nicht. Was geändert hat, ist, dass wir heute offen darüber sprechen, was rassistische Sprache ist. Und das ist gut so.» So erkannte man, dass die Strafnorm verbale Attacken gegen Ausländer oder Asylbewerber als Ganzes nicht abdecke. Eine Aussage wie «Ausländerschwein» kann deshalb in der Regel nicht nach der Strafnorm geahndet werden. «Wir müssen als Gesellschaft darüber diskutieren, ob man eventuell den Fremdenhass ebenfalls in die Strafnorm aufnehmen sollte», rät Brunschwig Graf. Seit einem halben Jahr umfasst die Strafnorm auch die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Die an der Urne mit über 63 Prozent Ja-Stimmen beschlossene Erweiterung zeigte die hohe Akzeptanz der Rassismus-Strafnorm.

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