Anlässlich der Gegenveranstaltung zur „Entdeckung“ Amerikas 1992 erlebte Lateinamerika eine breite Mobilisierung der indigenen Völker. Seither hat die Präsenz der indigenen Proteste nicht wirklich nachgelassen. Die Welt soll zur Kenntnis nehmen, dass nicht nur der Kolonialismus auf eine 500 Jahre alte Geschichte zurückblicken kann, sondern auch der Widerstand dagegen. In allen Ländern werden starke Forderungen nach Selbstbestimmung, kultureller Anerkennung und Rückgabe von Territorien, die von Nationalstaaten vereinnahmt wurden, laut. Die Forderungen nach historischer Gerechtigkeit erreichen internationale Aufmerksamkeit.
Rückforderung der indigenen Territorien
In Chile und Argentinien beginnt die Mapuche-Bewegung in den 90er Jahren, sich neu zu strukturieren und tritt wieder in Aktion. Ende der 1990er Jahre entstehen in Chile der “Rat aller Länder” (Consejo de Todas las Tierras) und die Aktionsgruppe „Coordinadora Arauco-Malleco“ (CAM). Sie organisieren öffentlichen Versammlungen, Protestaktionen und Landbesetzungen. Der chilenische Staat reagiert mit der Kriminalisierung ihrer Forderungen und Verfolgung ihrer Anführer. Mit Hilfe von Sonder- und Ausnahmegesetzen wie dem Anti-Terror-Gesetz, das in Chile seit der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) in Kraft ist, versuchen die verschiedenen Regierungen der chilenischen Post-Diktatur, die Mapuche-Bewegung zu delegitimieren, indem sie sie zu einer illegalen radikalen Bewegung erklären. Die Bewegung der Mapuche beharrt ihrerseits auf ihrem Recht auf Selbstbestimmung und fordert die Rückgabe ihrer vom Staat in Besitz genommenen Territorien. Im Jahr 2020 werden mehrere Dutzend Mapuche-Gefangene in den Hungerstreik treten, um eine politische Lösung für den historischen Konflikt zu fordern. Doch wie war es zum Verlust der indigenen Gebiete gekommen?
Kolonialkriege und Reducciones – Geschichte einer Enteignung
Im 19. Jahrhundert wurde die Eingliederung des Mapucheterritoriums Wallmapu in das argentinische bzw. chilenische Staatsgebiet und die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung mit Hilfe zweier großer Kolonialkriege durchgesetzt, der sogenannten „Befriedung von Araucanía“ (1861-1883) in Chile und der „Eroberung der Wüste“ (1878-1885) in Argentinien. Auf die militärische Niederlage folgten im Laufe des 20. Jahrhunderts Hunderte von Siedlerfamilien, die versuchten, das verwüstete Mapuche-Land „nutzbar“ zu machen und durch illegale Eigentumsübertragungen oder einfach die faktische Besetzung von indigenem Land große Gebiete für sich vereinnahmten. Unterstützung erhielten sie vom Militär sowie von Richtern und Notaren, die die Akteure der Landnahme später als private Eigentümer von Farmen, Landsitzen, Forstunternehmen und anderer Formen von Grundbesitz legitimieren sollten. Durch die Gewalt des Staats verarmte das Volk der Mapuche immer mehr. Heute machen die Reducciones, wie die Mapuche-Reservate genannt werden, weniger als 10% des angestammten indigenen Territoriums aus.
Kriminalisierung von Forderungen und Inhaftierung politischer Akteur*innen
Auf die lauter werdenden Forderungen der Mapuche-Autonomiebewegung reagiert der chilenische Staat einerseits mit “Indigena-freundlicher” Politik: Es entstehen Programme zur Förderung der interkulturellen Erziehung und der wirtschaftlichen Integration, einzelne umkämpfte Ländereien werden von der Regierung gekauft, usw.. Zugleich vermeidet der Staat es jedoch, das Problem bei der Wurzel zu packen und beantwortet die politischen Forderungen mit polizeilicher Repression und Kriminalisierung. Die herrschenden Medien schließen sich der janusköpfigen Haltung an und helfen, die Mapuche-Vertreter*innen als uneinsichtige Starrhälse oder Terrorist*innen zu stigmatisieren. Fabien Le Bonniec, Anthropologe an der Katholischen Universität Temuco, verfolgt seit Jahren Gerichtsprozesse gegen Mapuche. Dass heute Mapuche als politische Gefangene in Haft sind, sei allein eine Folge der polizeilichen Repression und der Weigerung des Staates, die (politische) Existenz des Mapuche-Volkes anzuerkennen, so seine Schlussfolgerung. „Ein Rechtsfall entsteht überhaupt erst dadurch, dass immer gleich die Carabineros geschickt werden, wenn die Leute auf die Straße gehen, um ihre Rechte einzufordern. Polizeigewalt produziert natürlich Gegengewalt, schon aus Selbstverteidigungsgründen, und die wird dann später als illegale und sogar terroristische Handlung kriminalisiert“,so Le Bonniec.
Mit der Reform des Strafrechts Anfang der 2000er Jahre kommt es zu verstärkten Repressionen und Inhaftierungen von führenden Akteuren der Bewegung. Das Anti-Terror-Gesetz ermöglicht die Ausweitung der Untersuchungshaft und erlaubt die längere Isolierung der Gefangenen, was sich wiederum stark auf die Dynamik von Familien und Gemeinschaften auswirkt. Die Unterstützung der Menschen in Haft bindet ihre Kräfte, und es bleiben weniger Energien, um politische Forderungen in die Öffentlichkeit zu tragen. In den meisten Fällen mussten viele Angeklagte nach monatelanger Haft aus Mangel an Beweisen freigelassen werden. Die Enthüllung verschiedener polizeilicher Komplotte (wie die „Operation Hurricane“ im Jahr 2017) und der Verwendung von Falschaussagen als Grundlage der Anschuldigungen gegen Mapuche machte der nationalen und internationalen Öffentlichkeit bewusst, dass es sich bei den Mapuche um politische Gefangene handelt.
Permanente Haftandrohung
Durch die Sondergesetze, die systematische Anwendung der Präventivhaft und die Verurteilung der führenden Kräften der indigenen Bewegung mittels zweifelhafter Beweisverfahren ist das Gefängnis für die Menschen in den Gemeinden zum Teil des Alltags geworden; viele jugendliche Mapuche halten es mittlerweile durchaus nicht für unwahrscheinlich, selbst im Gefängnis zu landen. Die Repression mit ihrer permanenten Haftandrohung zielt insbesondere darauf ab, die Bewegung zu schwächen und ihre grundlegenden Forderungen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Dazu Le Bonniec: „Die ganze Bandbreite an Forderungen, der öffentliche Diskurs über Autonomie, die Vorschläge zur politischen, wirtschaftlichen, sozialen Selbstbehauptung des Mapuche-Volkes werden auf eine einzige Forderung reduziert, die mit der Situation der politischen Gefangenen zu tun hat. Die Menschen müssen für die Befreiung des gesamten Mapuche-Volkes auf die Straße gehen; für die Gemeinschaften im Widerstand ist der Kampf um die Befreiung der Gefangenen inzwischen emblematisch geworden“.
Der Fall des Machi Celestino Cordova
Im Jahr 2020, bereits zu Zeiten der Pandemie, beginnt der Machi Celestino Cordova (heilige Autorität der Mapuche-Kultur) einen unbefristeten Hungerstreik, um die Anerkennung des politischen Status der Gefangenen und die Anwendung der von Chile 2009 unterzeichneten und ratifizierten ILO-Konvention 169 durchzusetzen. Artikel zehn der Konvention legt besondere Bedingungen für inhaftierte indigene Menschen fest. Unterstützt wird Cordova von 27 weiteren Mitgliedern der indigenen Gemeinschaft in den Gefängnissen von Lebu, Angol und Temuco. Sie appellieren an die Anerkennung ihrer kulturellen Identität und den Respekt ihrer Kosmovision. Der Machi verlangt außerdem seine Entlassung aus dem Gefängnis: Um das persönliche und kollektive Gleichgewicht zu bewahren, braucht er das Newén, seine spirituelle Kraft. Um diese zu bekommen, benötigt er den Zugang zu einer heiligen Stätte. Die Weigerung des chilenischen Staats, ihm diesen zu gewähren, bedeutet eine Verletzung seiner Menschenrechte und seiner Rechte als Indigener. Nach 107 Tagen Hungerstreik und einer starken medialen Resonanz lenkt das chilenische Justizministerium schließlich ein, und die Gefängnisinstitution sieht sich gezwungen, Maßnahmen in Erwägung zu ziehen, die nicht auf dem Freiheitsentzug basieren. Die Inhaftierung von Menschen ist ein westliches Strafmaß, das in indigenen Gesellschaften nicht vorgesehen ist
Der verfassungsgebende Prozess: Auf dem Weg zu einer plurinationalen Gesellschaft?
Nicht nur hinsichtlich der Methoden zur Bestrafung unterscheidet sich die indigene Gesellschaft von denen des Westens. Die jeweiligen Weltanschauungen oder Kosmovisionen weichen ebenfalls stark voneinander ab, und auch der Umgang mit der Umwelt und die Gestaltung der Gesellschaft jenseits der merkantilen Logik findet in der westlichen Welt keine Parallele. Mit der vor kurzem begonnenen Öffnung Chiles für einen verfassungsgebenden Prozess rückt auch die Herausforderung, den chilenischen Staat in eine plurinationale Union zu transformieren und der kolonialen Gewalt gegen die indigenen Völker ein Ende zu setzen, in den Fokus.
Zu diesem Text gibt es bei radio matraca einen spanischsprachigen Audiobeitrag!
Übersetzung: Lui Lüdicke