Das Verständnis für Kunst ist derart subjektiv und persönlich, dass es sich wissenschaftlicher Analyse entzieht. Große Kunst bewegt die Psyche und regt die Fantasie des Betrachters, des Zuhörers, des Beobachters an. Sie stellt Verbindungen her in die unendlichen Weiten des kreativen Universums eines Johann Wolfgang Goethe, eines Friedrich Schiller oder eines Ludwig van Beethoven, schlägt so Brücken zu alle Menschen, die alle kreativ sind und somit Teil dieser Unendlichkeit an Gestaltungskraft (1).

Die Schicksalssymphonie

Ein wirklich freier Mensch bewahrt daher seine geistige Freiheit, seine Kreativität, seine Vernunft, seine Nähe zur Schönheit der Natur und seine zwischenmenschliche Empathie, um diese herausragenden Eigenschaften für ein friedliches Mit- und Füreinander einzusetzen. Es sind diese wahrhaftigen Seiten der Menschlichkeit, die den Verfall des Menschseins und den Sturz in die Barbarei verhindern können.


Ludwig van Beethoven


Ein Portrait des Komponisten mit der Partitur zur Missa Solemnis.

 

 

 

 

 

 

 

Ludwig van Beethoven (1770–1827); idealisierendes Gemälde von Joseph Karl Stieler, circa 1820 (Foto: Wikipedia/gemeinfrei).

Unsere Psyche und unsere Geselligkeit geben uns die Möglichkeit, das von uns Wahrgenommene mit Willen zu beeinflussen. Nach Bestimmung und Sinn unserer Existenz zwischen Last und Lust müssen wir suchen. Das Leben wird uns zugemutet, aber es bietet uns die einmalige Gelegenheit, da zu sein. Kult und Kunst lassen uns unsere immanent materielle Wirklichkeit erfahren und unsere transzendente Herkunft erahnen, mit wissenschaftlichen Methoden können wir das Erfahrene und Erahnte untersuchen, beeinflussen und verwenden.

Als Schicksal wird meist eine zerstörerisch beendend und weniger eine erhebend bewahrend wirkende Kraft verstanden, jedenfalls ist sie angesiedelt außerhalb des menschlichen Wollens: es passiert, was passieren muss. Und was ist Kreativität? Ein Schicksal, weil nämlich ein nicht ablegbarer Teil des Selbst, der sich Bahn bricht? Und dabei auch Belastung für das Ich ist, weil Kreativität destruktiv sein kann, nicht muss, aber durch Zwänge oft genug wird, statt belebend zu sein. Man denke nur an den Verwertungszwang der auf Markt begründeten Gesellschaften, diesen Strukturen verkappter Sklaverei, die den Kreativen zur Krämerseele werden lässt, ihn nötigt, seine Kunst, seine Ideen, seine Fantasie und seine Lebenszeit zu verkaufen wie abgepacktes Gemüse anstatt seine Werke und das in ihnen vereinte Potenzial der Welt zu schenken und die Menschen glücklich zu machen; verschwenderisch zu sein in der Großzügigkeit.

Schier unfassbar ist die Erscheinungsvielfalt der Musik mit ihren zwölf im Kompositionsgefüge variierenden Tönen. Wie viele andere Komponisten konnte auch Ludwig van Beethoven musikalisch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Weltgeschehens in einem Stück erfassen. Seine 5. Sinfonie, die sogenannte “Schicksalssinfonie”, zeigt in bewegender Deutlichkeit, was Kombinationsvermögen aus relativ wenigen ursprünglich vorhandenen Gegebenheiten ermöglichen kann (2).

„O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, …“

— Ludwig van Beethoven (aus: Heiligenstädter Testament, 1802)


Ludwig van Beethoven (1770–1827)

Als nur die zerstörerischen Gewalten schicksalhaft darstellend wäre Beethovens Symphonie höchst unvollkommen charakterisiert. Beethoven hat in seinem “Heiligenstädter Testament” beeindruckend festgehalten, dass wir Menschen nur kreativ handelnd überleben können (3). Der Komponist, der zunehmend sein Gehör verlor, schrieb an seine Brüder:

“O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, …”

Sein Herz und sein Sinn seien von Kindheit an “für das zarte Gefühl des Wohlwollens” gewesen, selbst große Handlungen zu verrichten, dazu sei er immer bereit. Man solle doch bedenken, dass ihn seit sechs Jahren ein heilloser Zustand befallen habe. Dies alles bringe ihn der Verzweiflung nahe. Aber da ist das Schicksal, die Kunst in ihm. Geduld müsse er zur Führerin wählen. Dauernd hoffe er, solle sein Entschluss sein, auszuharren:

“(…) es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, und so fristete ich dieses elende Leben – wahrhaft elend, einen so reizbaren Körper, daß eine etwas schnelle Verändrung mich aus dem Besten Zustande in den schlechtesten versezen kann – Geduld – so heist es, Sie muß ich nun zur führerin wählen, ich habe es – daurend hoffe ich, soll mein Entschluß seyn, auszuharren, bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen, vieleicht geht’s besser, vieleicht nicht, ich bin gefaßt – schon in meinem 28 Jahr gezwungen Philosoph zu werden, es ist nicht leicht, für den Künstler schwere[r] als für irgend jemand – Gottheit du siehst herab auf mein inneres, du kennst es, du weist, dasß menschenliebe und neigung zum Wohlthun drin Hausen (…)”

Wie Ludwig van Beethoven schreibt, habe er von Kindheit an ein “Gefühl des Wohlwollens” besessen und “selbst große Handlungen zu verrichten”, dazu sei er immer aufgelegt gewesen. Zu unserer aller Freude hat er viele Jahre später seine 9. Sinfonie mit dem berühmten Schlusschor komponiert und uns seine Art und Weise mit dem Übersinnlichen sinnlich zu kommunizieren, nahe gebracht.

Beethoven und die Ode an die Freude als Schluss

“Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt muss ein edler Vater wohnen”, heißt es in Schillers Text der von Beethoven vertonten Ode an die Freude (4). Und weiter: “(…) aus der Wahrheit Feuerspiegel lächelt sie den Forscher an. Zu der Tugend steilem Hügel, leitet sie des Dulders Bahn. Auf des Glaubens Sonnenberge sieht man ihre Fahnen wehn, durch den Riss gesprengter Särge sie im Chor der Engel stehn. Duldet mutig Millionen! Duldet für die bessre Welt! Droben übern Sternenzelt wird ein großer Gott belohnen.”


Quellen und Anmerkungen

(1) Ludwig van Beethoven (1770 bis 1827) war ein herausragender Komponist und Klaviervirtuose. Er gehörte zum geistig-kreativen “Adel” seiner Epoche. Eine der Stärken von Beethoven war das freie Improvisieren und Fantasieren auf dem Instrument. Ein Gehörleiden beendete seine Laufbahn als Pianist vorzeitig, als Komponist setzte er Maßstäbe. Sein musikalisches Werk prägt die Musik bis in die Gegenwart. Beethoven gehört zu den meistgespielten Komponisten der Welt.

(2) Schicksalssinfonie ist eine gebräuchliche Bezeichnung für die 5. Sinfonie. Sie wurde von Ludwig van Beethoven zwischen April 1807 und dem Frühjahr 1808 fertiggestellt. Seine Uraufführung hatte die Schicksalssinfonie im Dezember 1808 im Theater an der Wien (heute: Das neue Opernhaus). Die Sinfonie, deren Spieldauer je nach Interpretation etwa 30 bis rund 40 Minuten beträgt, gehört zu den berühmtesten Werken Ludwig van Beethovens.

(3) Das Heiligenstädter Testament ist ein Brief von Beethoven an seine Brüder Johann und Kaspar Karl. Beethoven drückt darin seine Verzweiflung über die fortschreitende Ertaubung und den nahe geglaubten Tod aus. Der Inhalt des Briefes ist nachzulesen auf https://de.wikisource.org/wiki/Heiligenst%C3%A4dter_Testament (abgerufen am 26.12.2020).

(4) Ode an die Freude ist eines der berühmtesten Gedichte Friedrich Schillers. Es entstand im Sommer 1785 und wurde unter anderem von Ludwig van Beethoven im 4. Satz seiner 9. Sinfonie vertont.

Der Originalartikel kann hier besucht werden