In der Corona-Pandemie schlägt wieder die Stunde der Exekutive. Die Parlamente werden übergangen, die Gesetze zurechtgebogen. Dies sei ein Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat, heißt es in Deutschland, Frankreich und nun auch in der EU.

Jede Krise ist eine Bewährungsprobe für Demokratie und Rechtsstaat. Die Coronakrise macht da keine Ausnahme. Die erste Welle im Frühjahr hat bereits zu bedenklichen Problemen geführt, die wir in diesem Blog beschrieben haben.

Die zweite Welle hat die Probleme noch verschärft. Wieder maßt sich Kanzlerin Merkel gesundheitspolitische Befugnisse an, die sie laut Grundgesetz gar nicht hat. Wieder wird der Bundestag übergangen; Verwaltungsgerichte müssen nachbessern.

Immerhin sind die Gesetzgeber – also die Abgeordneten – nun endlich aufgewacht, wie die Debatte im Bundestag am 29. Oktober gezeigt hat. “Der Ort der Entscheidung muss das Parlament sein”, forderte FDP-Chef Lindner.

Wenn das Parlament die Beschlüsse nur nachträglich absegnen könne, gefährde das nicht nur die Akzeptanz der Maßnahmen. Dies hätte auch “erhebliche rechtliche Risiken und drohen unsere parlamentarische Demokratie zu deformieren”.

Lindner ist keineswegs so allein, wie es die deutschen Medien gern darstellen. Auch in Paris und Brüssel regt sich Widerstand gegen den Angriff der Exekutive auf Demokratie und Rechtsstaat.

So publizierte “Libération” einen Appell gegen die neuen Notstands-Maßnahmen, die Präsident Macron über Frankreich verhängt hat. Zitat:

„Face à la progression de l’épidémie de Covid-19, Emmanuel Macron a annoncé, mercredi 14 octobre, un nouveau train de mesures restrictives visant à ralentir la circulation du virus. Particulièrement attentatoires aux libertés publiques, ces mesures ont été édictées – comme le permet l’état d’urgence – sans délibération ni vote du Parlement. Jusqu’où faut-il admettre cette érosion démocratique, qui accompagne une telle atteinte aux libertés de tous ?“

„Angesichts des Fortschreitens der Covid-19-Epidemie kündigte Emmanuel Macron am Mittwoch, 14. Oktober, eine neue Reihe restriktiver Maßnahmen an, die die Zirkulation des Virus verlangsamen sollen. Diese Maßnahmen, die die öffentlichen Freiheiten in besonderem Maße beeinträchtigen, wurden – wie im Ausnahmezustand erlaubt – ohne jegliche Beratung oder Abstimmung im Parlament erlassen. Inwieweit müssen wir diese Aushöhlung der Demokratie akzeptieren, die mit einem solchen Angriff auf die Freiheiten aller einhergeht?“

Quelle: Libération

Die Unterzeichner kritisieren, dass Macron am Parlament vorbei agiere und tief in die Grundfreiheiten eingreife. Der Lockdown in Frankreich geht in der Tat noch viel weiter als der “Lockdown light” in Deutschland.

Auch im Europaparlament gibt es erste, wenn auch zaghafte Proteste. Sie kommen – ähnlich wie im deutschen Bundestag – von den Liberalen. Zitat aus einem Gastbeitrag der EU-Abgeordneten Sophie in ’t Veld:

„Dans l’UE aussi, la démocratie est inadéquate. Le Parlement européen est très actif, mais le Conseil européen est devenu une sorte de gare terminale ces dernières années, puisque des changements nécessaires et des mesures évidentes y prennent de la poussière.“

„Auch in der EU ist die Demokratie unzureichend. Das Europäische Parlament ist sehr aktiv, aber der Europäische Rat ist in den letzten Jahren zu einer Art Endstation geworden, da notwendige Veränderungen und offensichtliche Maßnahmen dort verstauben.“

Quelle: Le Soir

Die Niederländerin bezieht sich zwar nicht auf den neuen Notstand wg. COVID-19, sondern auf andere Problemfälle. Angesichts des anstehenden Coronoa-Krisengipfels der Staats- und Regierungschefs trifft ihre Kritik aber ins Schwarze.

Der Europäische Rat ist in der Tat eine “Endstation” und Sackgasse der Demokratie geworden – er fällt Beschlüsse über die Köpfe der Bürger hinweg, in der Coronakrise spielt er sich sogar zum “alternativlosen” Retter auf.

Parlamentspräsident Sassoli darf an den EU-Gipfeln zwar teilnehmen – aber nur als Zaungast. Wenn die kritischen Beschlüsse fallen, muß er leider draußen bleiben…

Siehe auch “Die europäische Demokratie erodiert, oder?”

 

Der Original-Artikel erschien erstmals auf Lost in EUrope – Der unabhängige EU-Blog aus Brüssel.
Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Publikation.